27. Jahrgang | Nummer 14 | 1. Juli 2024

Fritz Klein – 100 Jahre

von Mario Keßler

Der Historiker Fritz Klein wäre am 11. Juli 2024 einhundert Jahre alt geworden. Er starb am 26.  Mai 2011 in seiner Geburtsstadt Berlin. Aus einer ursprünglich aus Siebenbürgen kommenden Familie stammend, war er als Großbürgersohn in der Weimarer Republik aufgewachsen: Sein früh verstorbener Vater war Chefredakteur der konservativen Deutschen Allgemeinen Zeitung gewesen. Dem Nazismus äußerst distanziert gegenüberstehend, ohne Widerstand leisten zu können, entschied sich Klein 1945 für das sozialistische Experiment im Osten Deutschlands. Den zeitweisen Aufstieg der DDR, ihren langen Niedergang und den 1989 erzwungenen Zusammenbruch erlebte er „drinnen und draußen“ – so der Titel seines Lebensberichtes, der im Jahre 2000 erschien und auch Einblick in das Leben der fünfköpfigen Familie gibt.

„Drinnen“, das war die DDR, das war die SED, der Klein von Beginn an zugehörte; eine Entscheidung, die er auch nach 1989 nicht zurücknahm. „Drinnen“, das war die Wissenschaft: Klein war ein Insider, doch manchmal bot ihm die Beschäftigung mit Geschichte auch den Rückzug zwar nicht in einen Elfenbeinturm, wohl aber vor Zumutungen politischer Natur, die ihm mehr Selbstverleugnung abverlangt hätten, als er verantworten wollte.

„Draußen“ beschreibt Kleins Verhältnis zu den wirklich Mächtigen der SED-Wissenschaftspolitik. Für sie blieb er ein, gewissermaßen, „unsicherer Kantonist“. Er war auch als überzeugter und intellektuell anregender Marxist ein Bürger im doppelten Wortsinn: vom Auftreten her, das sich nicht mit pseudoproletarischem, in Wirklichkeit kleinbürgerlichem Gehabe vertrug, und in seinem Selbstverständnis als Citoyen, als politischer Mensch und Staatsbürger.

Nach dem Untergang der DDR zog er sich nicht in einen nostalgisch verbrämten Schmollwinkel zurück, sondern nahm durch zahlreiche Wortmeldungen an den politischen Debatten in der Bundesrepublik teil. Mit Günter Grass konnte er sagen, Politik ist eine zu wichtige Angelegenheit, um sie den Politikern allein zu überlassen; jedem mündigen Bürger sei vielmehr die Teilhabe daran angeraten. Dies ist der Grundton, in dem Klein seine Memoiren verfasste.

Nachdenklichkeit überwog, blinder Eifer war seine Passion nicht, auch nicht in seinen streng wissenschaftlichen Arbeiten. Vielmehr zog sich durch seine Texte, gerade in der Beurteilung, nicht in der Brandmarkung westlicher Autoren eine Weltsicht, die davon lebte, dass Klein früher und öfter „draußen“ war als fast alle anderen DDR-Bürger. Als Teilnehmer internationaler Kongresse und Konferenzen sowie als Gastprofessor in den USA schon 1974 konnte er seine „Weltanschauung“ überprüfen, indem er ein gutes Stück der Welt anzuschauen wusste. „Draußen“ entstanden Freundschaften zu unabhängigen Historikern, die sich durchaus als Marxisten begriffen, doch weit entfernt von der Buchstabengläubigkeit und Rechthaberei „führender Vertreter der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft“ der DDR waren, weit entfernt übrigens auch von ihren westlichen – komplementären – Gegenspielern, die sich seit 1989 als „Sieger der Geschichte“, ja als Verkünder des neuen antisozialistischen Weltgeistes wähnen.

Historiker und politische Schriftsteller des Westens wie Eric Hobsbawm, Georges Haupt, Ernesto Ragionieri, Wolfgang Hallgarten oder Franz Marek gehörten ebenso zu Fritz Kleins Freunden wie undogmatische Wissenschaftler der Sowjetunion, so ArkadiS. Jerussalimskij und Wladimir M. Turok. Aus der DDR-Intelligenz waren es vor allem Heinrich Deiters, Kleins Schwiegervater, Alfred Meusel, sein Doktorvater, Jürgen Kuczynski und Walter Markov, bei dem er sich 1968 in Leipzig habilitierte, die ihm intellektuelle und menschliche Impulse vermittelten. Markov, von Klein als bedeutendster Historiker der DDR gewürdigt, gab ihm eine Maxime des Schreibens an die Hand, die in der DDR leider nicht Usus war: revolutionäre Sympathie nicht in die revolutionäre Phrase abgleiten zu lassen.

Fritz Kleins Lebensentscheidung wurde 1957 auf die Probe gestellt: Im weiteren Umkreis von Wolfgang Harich geriet auch er unter den Verdacht sogenannter staatsfeindlicher Aktivitäten. Es ging glimpflich für ihn aus, er musste jedoch die Leitung der „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“ abgeben. Seine berufliche Entwicklung geriet ins Stocken, zum Professor wurde er erst 13 Jahre danach ernannt. Damals wie später begehrte er gegen eine allzu plumpe Gängelung der Wissenschaft durch die SED-Politik auf, trat Geschichtslegenden entschieden entgegen, übte jedoch auch oft Zurückhaltung, einmal bis hin zum Widerruf trotz besseren Wissens, um sich und seine Familie nicht zu gefährden.

Grundlage für Kleins wissenschaftliche Reputation bildeten, nach mehreren monographischen Vorarbeiten, sein oftmals aufgelegtes Hochschullehrbuch „Deutschland 1897/98-1917“ von 1961 und das von ihm herausgegebene und mitverfasste dreibändige Werk „Deutschland im Ersten Weltkrieg“, dessen erster Band 1968 erschien. Es war für ihn ein Glücksfall, dass auch in der Bundesrepublik der sechziger Jahre die Kriegszielpolitik des deutschen Imperialismus allmählich ohne Scheuklappen erforscht werden konnte. Vom Parteiapparat oft beargwöhnt, konnte Klein mit bundesdeutschen Forschern um Fritz Fischer, auch mit diesem selbst, kooperieren, gehörten sie doch zur Minderheit westdeutscher Historiker, die sich auf die DDR-Forschung überhaupt seriös einließen.

Über den Kreis der Berufshistoriker hinaus bleibt aber vor allem Fritz Kleins Autobiographie eine erstrangige Quelle zur Sozial- und Kulturgeschichte der DDR – und nicht nur der DDR. Klein hielt sich oft in Rumänien, der Heimat seiner Vorfahren, auf und wurde Zeuge der rapiden Veränderungen, die Rumänien zwischen 1930 und 1989 keineswegs zum Guten heimsuchten. Das Buch vermittelt vielfältige Eindrücke über das Schwinden der Hoffnung auf bessere Zeiten bei der deutschen Minderheit, die seit etwa 1980 ihre Lebensperspektive fast ganz in der Bundesrepublik suchte.

Im Sommer 1989 wurde Klein zum offenen Kritiker der SED-Politik. Dass ihn der RIAS beifällig zitierte, schreckte ihn nicht mehr. Im turbulenten Herbst jenes Jahres folgte er dem Wunsch seiner Mitarbeiter und trat, soeben emeritiert, an die Spitze des Instituts für Allgemeine Geschichte der Akademie der Wissenschaften. Dessen im Einigungsvertrag besiegelte Auflösung konnte er nicht verhindern. Mehr als er im Buch bezeugt, setzte Klein sich für seine Mitarbeiter (auch den Verfasser dieser Zeilen) ein, die inmitten einer ihnen keineswegs wohlgesinnten Umwelt um eine Perspektive als Wissenschaftler in der Bundesrepublik kämpfen mussten. Nur sehr wenigen, die dafür qualifiziert gewesen wären, gelang dies.

Auch am Ende seines Lebens sah Fritz Klein, wie er schrieb, „gute Gründe“ für den „Versuch“ der Bolschewiki, 1917 „die so entsetzlich aus den Fugen geratene Welt auf ganz neue Bahnen zu führen“. Er wandte sich entschieden gegen die „wohlfeile Verteufelung von allem und jedem, was im Zeichen des Realsozialismus wo auch immer geschah“. Das sowjetische Modell sei jedoch „zu Recht“ untergegangen, die „gelebte Demokratie (habe) sich allen Formen autoritärer, diktatorischer, vormundschaftlich ausgerichteter Gesellschaftsgestaltung überlegen gezeigt“. Würde er dies angesichts der gegenwärtig dramatisch erstarkenden antidemokratischen Kräfte heute noch so schreiben? Wie auch immer: Er sah die soziale Frage ungelöst geblieben, somit stünden gesellschaftsverändernde Optionen nach wie vor und mehr denn je auf der Tagesordnung – wenn nicht der Gegenwart, so der nahen Zukunft. Denn, so zitierte Fritz Klein Erich Fried: „Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt.“

 

Zum Weiterlesen empfohlen: Fritz Klein, Drinnen und draußen. Ein Historiker in der DDR, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2000, 376 Seiten; Taschenbuch-Ausgabe ebenda 2001. Antiquarisch erhältlich.