27. Jahrgang | Nummer 14 | 1. Juli 2024

Europawahl und die Gefährdung der Demokratie

von Stephan Wohanka

Nach einem Wahlkampf von „unverschämter Belanglosigkeit“, wie der Politologe Herfried Münkler feststellt, mit Parolen, die den Wähler für dumm verkauften, haben sich Meinungen und Mehrheiten deutlich nach rechts und dann auch noch darüber hinaus verschoben; dadurch sei die (europäische) Demokratie bedroht, was unbedingt richtig ist.

Zuletzt waren die Rechten im Europaparlament heillos zerstritten, nur in einer Sache waren sie sich einig: Dass man es mit dem Klimaschutz in den vergangenen Jahren gehörig übertrieben habe. Manche von ihnen zogen gar die Existenz des Klimawandels ganz in Zweifel. Was mich deshalb mindestens ebenso besorgt, ist, dass diejenigen Parteien – namentlich die Grünen – Stimmen und damit politischen Einfluss eingebüßt haben, die sich dem Kampf gegen den Klimawandel, das Artensterben und die Ressourcenzerstörung verschrieben haben. Dass dadurch die Demokratie möglicherweise noch viel bedrohter ist, entgeht den allermeisten Zeitgenossen – nach dem Motto: Sind die ökologischen Quälgeister verstummt, ist das Problem erledigt; eine typische Verdrängung – bedrohliche Sachverhalte oder Vorstellungen werden von der bewussten Wahrnehmung möglichst ferngehalten. (Dass namentlich die Grünen schwere politische Fehler machten, sei zugegeben; nur ändert das nichts an der Sachlage).

Unausgesprochen wurde und wird bis heute unterstellt, dass die Kausalität zwischen Demokratie und Ökologie darin läge, dass nur die liberale Demokratie in der Lage sei, die ökologische Krise zu lösen. Denn die Charakteristika der Demokratie wie Anpassungsfähigkeit, Flexibilität und Kritikfähigkeit böten dafür die besten, wenn nicht einzigen Voraussetzungen. Zunehmend deutlicher wird jedoch – das demonstriert die Europawahl und das „Vorrücken“ der rechten Klimawandel-Leugner –, dass umgekehrt zu fragen ist: Kann die Demokratie die ökologische Krise überhaupt noch bewältigen und dabei als Demokratie erhalten bleiben? Und wenn ja – wie?

Es war Al Gore, einst US-Vizepräsident unter Bill Clinton und später Kämpfer für die Umwelt, der behauptete, dass das „Minimum, das wissenschaftlich notwendig ist, um den Klimawandel zu bekämpfen, das Maximum des politisch Machbaren [übersteigt]“; namentlich die politische Organisation des Ausstiegs aus den fossilen Energieträgern. Das Schlimme daran – „die Politik“ ist in der westlichen Welt gleichbedeutend mit demokratisch gewählten Regierungen; diese setzen sich ihre Grenzen selbst. Und das ist heute eher schlechter denn besser geworden! Es ist so ein Widerspruch entstanden zwischen Demokratie und Ökologie, zwischen dem unabwendbaren Zeitdruck und der anscheinend gottgegebenen Langsamkeit der Demokratie.

Nach den Verlusten der Grünen bei der Europawahl wirft die Klimaaktivisten Luisa Neubauer der Partei vor, in der Bundesregierung zu oft bei der Klimapolitik nachgegeben zu haben: „Die Grünen sind mit der Hoffnung in die Regierung gewählt worden, dass sie dort rote Linien in der Ökologie verteidigen“; und weiter: „Aber wenn man das [dass die Klimakrise alle Menschen in Deutschland betrifft – St.W.] nicht im Wahlkampf bespricht, haben die Menschen keine Chance, informiert zu wählen.“ Und wählten die Grünen ab. Was wiederum der Koalitionspartner und FDP-Vize Wolfgang Kubicki auf deren „arrogante Bevormundungspolitik“ zurückführt. Und ein SPD-Bundestagsabgeordneter, desgleichen in der Koalition mit den Grünen, meint die Frage, ob die SPD und ihr Kanzler bislang nicht die realen Interessen der Menschen im Blick hatten, so kommentieren zu sollen:  „In Teilen zu wenig. Beispiel Klimaschutz: Ohne Frage ein wichtiges Thema, aber wir sind zu lange einer von den Medien gehypten Minderheit wie ‚Fridays for Future‘ hinterhergelaufen. Was ist mit den vielen anderen Jugendlichen, die bei der Europawahl CDU und AfD gewählt haben? Die haben wir ignoriert, weil wir uns lieber eingeredet haben, dass die Jugend komplett links oder grün tickt. Das war ein Fehler.“ Als ob die „Wichtigkeit“ dieses Themas sich an einer „gehypten Minderheit“ festmachte …

Der Bundeskanzler geht – wie es so seine (Un)Art ist – „behutsam“ vor: Wie aus einem Hintergrundgespräch mit ihm bekannt wurde, sollte jede Maßnahme auf dem Felde der Ökologie so angelegt und begründet sein, dass sie in einer Volksabstimmung durchkäme. (Man fragt sich unwillkürlich, wie viele Gesetze überhaupt den Bundestag passiert hätten, wären alle Bundesregierungen so vorgegangen.) Wie ernst kann es Scholz mit der Klimawende meinen, wenn er selbst seinen politischen Spielraum so massiv beschneidet? Veränderungen, Transformation gar – ja, aber ohne dass jemand sich überfordert fühlte – wie soll das gehen? Scholz vermeidet es, eine emotionalisierte Politik zu machen. Aber ob das auf Dauer erfolgreich sein kann, wenn andere emotionalisieren? Wer weiß. Tatsächlich haben die Menschen offensichtlich ein Bedürfnis, über emotionalisierte Botschaften mit der Politik in Verbindung zu kommen. Besonders gut funktioniert das, wenn klare Gruppenunterschiede markiert werden – zum Beispiel Rechts(extreme) gegen „Linksgrünversiffte“.

Begonnen hat die AfD als Anti-Euro-Partei, dann ist ihr die Migrationskrise sozusagen in den Schoß gefallen, nun bewirtschaftet sie als drittes Thema ihre Ablehnung der vom Bund – halbherzig – vorangetriebenen Klimapolitik. Im Wissen, dass es zahlreiche Vorbehalte gegen die sozialen Folgen der ökologischen Transformation in der Gesellschaft gibt. Ich bin jedoch der Überzeugung, die meisten Menschen haben tief in sich drinnen längst erkannt und akzeptiert, dass die ökologische Transformation der Gesellschaft nicht ohne Einschränkungen und Verzichte abgehen wird. Dass das kein Freibrief für schlechte Politik ist, liegt auf der Hand; im Gegenteil. Und diese „Askese“ beträfe insbesondere die oberen zwei Drittel der Gesellschaft – die, die über ihren breit verstandenen Konsum den größeren ökologischen Fußabdruck hinterlassen. Und das bei Zugewinnen an anderer Stelle wie Verkehrsberuhigung durch weniger Autoverkehr, dadurch weniger Lärm, sauberere Luft, mehr Grün in den Städten, verbesserten Nahverkehr, gesünderes Essen … Und namentlich sozial benachteiligte Menschen profitierten von dieser ökologischen Wende.

Nicht nur nebenbei: Müssen einheimisches Sommerobst und -gemüse wie Erdbeeren und Spargel nicht nur im Winter, sondern auch im Sommer (!) aus dem warmen Süden hierher gekarrt werden? Es geht ebenfalls nicht um die Aufgabe jeglicher Freiheit, aber müssen wir uns jährlich Millionen Flugreisen leisten, muss der Bestand an PKW in Deutschland – die Anzahl der gemeldeten Fahrzeuge erreichte am 1. Januar 2024 mit rund 49,1 Millionen Fahrzeugen den höchsten Wert aller Zeiten – weiter wie bisher kontinuierlich wachsen? Oder besser – kann er noch wachsen? Noch zugespitzter – darf er noch wachsen?

Derartige Fragen liegen momentan einem hochproblematischen politischen Diskurs zugrunde – Verbote ja oder nein? Klar ist, dass eine komplexe Gesellschaft wie die unsere nicht ohne Vorschriften, Gesetze, also Ge- und Verbote funktionieren kann. Man kann jedoch den Eindruck gewinnen, als ob lediglich im ökologischen Bereich Verbote Teufelswerk wären; gibt es welche oder werden sie angestrebt, setzt von rechts bis links und im konservativen Lager von der AfD bis zur Union lautes Geschrei ein. Da bricht es aus der Historikerin Hedwig Richter regelrecht heraus: „Warum zur Hölle soll es ausgerechnet bei der Ökologie keine Vorschriften geben“? Ja, warum nicht? Passt CSU-Chef Markus Söder etwas in den Kram, ist er schnell bei Verboten: „Mit uns wird es kein verpflichtendes Gendern geben.“Und flugs ließ er das Gendern in bayrischen Schulen und Behörden verbieten. Ich mag auch nicht gendern; aber gleich verbieten?

Noch ist unsere Demokratie eine „fossile“ – das heißt ihre sozialen, politischen und kulturellen Bedingungen ermuntern die Beharrungskräfte zu einem „Weiter so“ und binden politische Ressourcen, die für das Ringen gegen den Klimawandel, das Artensterben und die Ressourcenzerstörung notwendig sind. Das Ergebnis der Europawahl verfestigte diesen Zustand noch.

Soll die Demokratie eine Zukunft haben, muss sie mit dieser fossilen Vergangenheit brechen! Letztlich sind eine intakte Natur und ein stabilisiertes Klima die Basis einer funktionstüchtigen Demokratie; nur erstere können kommenden Generationen die materielle Gestaltungsfreiheit garantieren, die für den dauerhaften Erhalt der Demokratie essenziell ist.