An vielen Universitäten weltweit protestierten Studenten gegen Israels Krieg in Gaza. Das erinnere hierzulande an die „universitären(n) Kämpfe […], die bald 60 Jahre zurückliegen“, wie Harry Nutt in der Berliner Zeitung schreibt. Und nicht nur das – es kam zu Exzessen, die das damalige Aufbegehren gegen den Vietnamkrieg der USA aufleben ließen. Aus all diesen Widerständen sei damals eine breite politische Bewegung, gar eine „Kulturrevolution“, wie nicht wenige heute (noch) meinen, hervorgegangen.
„Revolution“? Zwar begriffen sich die „Achtundsechziger“ als Teil obiger internationaler Bewegung und man kann mit guten Gründen behaupten, dass sie zumindest hierzulande einen „politischen“ Generationenwechsel auslösten, der gegen verkrustete Strukturen aufbegehrte und den Westen Deutschlands in eine modernisierte politische Kultur überführte. Dann jedoch schlug ihre Mehrheit bürgerliche Lebenswege ein, die sich von denen früherer Generationen gar nicht so sehr unterschieden …
Diesmal jedoch scheint es um mehr zu gehen. Die Protestcamps errichtenden Studenten (und mögliche Sympathisanten aus nicht universitären Milieus) hatten kein Bedürfnis, die Öffentlichkeit von ihren Anliegen zu überzeugen – es reichte ihnen, sie zu beleidigen: „U are not neutral. U are guilty“ (Du bist nicht neutral. Du bist schuldig) war auf Schildern in der Humboldt-Universität zu lesen, und noch knapper an der FU: „Fuck Germany“ (Scheiß auf Deutschland). Vollends entlarvend war die Parole: „From Berlin to Gaza we echo the global call“ (Von Berlin bis Gaza lassen wir den globalen Ruf widerhallen). Der Begriff „Echokammer“ bekam sozusagen eine übers Nationale hinausreichende Dimension – dieser Protest hörte nur seine eigene Stimme; er ist rekursiv, selbstbezüglich.
So entstand der nicht unbegründete Eindruck, dass den Krakeelern die katastrophale Lage der Palästinenser zumindest nicht primär am Herzen lag. Umso stärker wurde eine zweite Botschaft transportiert: In dem „,global call’ ist […] noch ein ganz anderes Schema zu erkennen, für das Gaza nur ein Beispiel unter vielen darstellt. Es ist das Schema einer Weltdeutung“, wie Mark Siemons in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung schreibt. Und diese „Weltdeutung“ findet in der Ideologie des Postkolonialismus ihren Ausdruck; sie zielt auf eine neue Weltordnung ab!
Postkolonialismus respektive die dazugehörige Theorie befasst sich mindestens seit den 1970er Jahre mit den Folgen des Kolonialismus. Ziel ist die Offenlegung und Bekämpfung der Effekte, die der Kolonialismus bis heute auf Gesellschaften in Nord oder heute besser – in West und Süd hat. Danach sind die Annahmen, die der Logik des Kolonialismus zugrunde lagen, bis heute präsent und äußern sich in „westlichen“ kolonialen Kontinuitäten, die noch heute in Wissensproduktion, Sprache, Texten, Bildern, Wahrnehmungen vom globalen Süden präsent sind. Der europäische Kolonialismus ist auch einzigartig durch seine Verbindung mit Rassismus – „Überlegenheit der weißen Rasse“ – als sowohl wissenschaftlich als auch gesamtgesellschaftlich gestützter Ideologie, die mit den kolonialen Eroberungen einherging und deren Legitimierung diente.
Israel trete gegenüber Palästina als Kolonialmacht auf, weshalb es gegenwärtig im Fokus der „postkolonialen Befreiung“ stehe. Konkret heißt das zum Beispiel, dass Juden entgegen aller Evidenz „weiß gelesen“ werden, womit klar sei, dass das „weiße“ Israel mit dem Gaza-Krieg einen Genozid an palästinensischen People of Color (POC) beginge. Dadurch erklärt sich auch, dass gerade der Krieg „zwischen den Farben“ zu derartig gewalttätigen Protesten weltweit führte, während Diskriminierung und Drangsalierung von Palästinensern innerhalb arabischer Länder selbst quasi keinerlei Proteste in postkolonialen Milieus auslöste.
Militanter studentischer Aufruhr in vielen Ländern begründet jedoch allein noch keine neue Weltordnung; dazu bedarf es mehr. Die Protestcamps wurden zuerst an US-amerikanischen Universitäten errichtet. Die daraus erwachsende Bewegung war wie schon zu Zeiten der Achtundsechziger eine internationale, und zwar eine ausschließlich in westlichen Ländern beheimatete. Mit anderen Worten, der Furor der Kinder des globalen Westens (plus einiger Mitstreiter aus dem globalen Süden) richtete sich gegen ebendiesen Westen. Diese in der akademischen Traditionslinie des Postkolonialismus stehenden jungen Menschen nahmen wie Seismographen antiwestliche Impulse auf; ihre skandierten Rufe sind der Begleitchor zur schon länger Raum greifenden Ablösung des nach Ende der Systemauseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Sozialismus entstandenen Ost-West-Gegensatzes durch die Polarität globaler „gerechter“ Süden versus globaler „böser“ Westen. Das ist die neue Weltordnung!
Der politische Begriff „globaler Süden“ entstand vor mehr als einem halben Jahrhundert; setzte sich aber erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 durch und trat an die Stelle des Begriffs „Länder der Dritten Welt“. Es ist im Grunde ein Code für einige sehr unterschiedliche Staaten, die ihre eigenen Vorstellungen für internationale Angelegenheiten und Strategien unabhängig vom Westen ausdrücken wollen. Organisiert sind die Staaten als BRICS-Staaten; ein informeller Zusammenschluss von zunächst fünf aufstrebenden Weltwirtschaftsnationen: Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika mit jährlichem Gipfeltreffen zur Abstimmung der Wirtschaftspolitik und Formulierung politischer Machtansprüche. Ein weiterer „Club“ ist die Gruppe der 77 (G77). Dabei handelt es sich um die größte zwischenstaatliche Organisation von Entwicklungsländern, die innerhalb der Vereinten Nationen agiert.
Dem Politikwissenschaftler Günther Maihold folgend müsse sich der Westen auf „völlig neue Vorstellungen, wie die Weltordnung funktionieren soll“, einstellen und er fordert, über eine neue Außenpolitik nachzudenken: „Wir haben […] ein Problem mit unserer wertegeleiteten Außenpolitik. Wir finden kaum mehr Partner für die Wertepartnerschaft. Das wird ja selbst im eigenen Lager schwierig, wenn man an Israel denkt“. Deswegen sollte die Außenpolitik „nicht so stark normativ aufgeladen“, denn der Westen ist nicht mehr in der Position, seine Bedingungen und Standards einfach für die Welt vorzugeben. Der Führungsanspruch ist passé; die postkoloniale Deutung ist dabei, als weltweite geistige und politische Strömung die Oberhand zu gewinnen.
Aktueller Ausdruck dieses neuen Selbstbewusstseins und des postkolonialen Verständnisses ist die Klage Südafrikas gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag; Israels Militäraktionen gegen die Hamas – die selbstredend nur dem Westen als Terrororganisation gilt – hätten einen genozidalen Charakter. Dass mit Südafrika ein Staat Klage erhebt, der nicht in den Konflikt involviert ist, hat historische Gründe: Israel habe das koloniale Apartheidregime in Südafrika unterstützt und aufgrund dessen fühlten sich viele Südafrikaner den Palästinensern verbunden. Warum ausgerechnet das mittelamerikanische Nicaragua desgleichen Klage vor dem höchsten UN-Gericht einreichte – und zwar gegen Deutschland, ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Der Bundesrepublik wird „Begünstigung zum Völkermord“ in Gaza vorgeworfen, da diese politische, finanzielle und militärische Unterstützung für Israels leiste und darüber hinaus noch die Mittel für das UN-Palästinenserhilfswerk UNRWA gestrichen habe. Böse Zungen behaupten, Russland stecke hinter der Klage des autoritär regierten Landes.
„Autoritär“ – wenn oben der Süden „gerecht“ genannt wurde, so ist das einigermaßen beschönigend. Viele der Staaten des Südens sind korrupte, diktatorische Regime. Südafrika selbst steht drei Jahrzehnte nach dem Ende der Apartheid und dem euphorischen Beginn als „Regenbogennation“, in der Menschen aller Hautfarben in Frieden und Wohlstand zusammenleben sollten, vor den Trümmern dieses Traums: Das Land kollabiert in gigantischem Ausmaß, die höchstentwickelte Volkswirtschaft des Kontinents, die im 20. Jahrhundert den Vergleich mit europäischen Staaten nicht scheuen musste, steht nach jahrzehntelanger Misswirtschaft und politischer Stümperei am Abgrund. Und – Menschen in den Ländern des Südens sehen weiterhin massenhaft im Lebensstil der Menschen des Westens ihr Vorbild; drängen als Flüchtlinge in ebendiesen Westen. Die Sirenengesänge des Postkolonialismus klingen manchmal (noch) schrill, gar falsch.
PS: Wie BBC meldet, zählt eine gerade veröffentlichte gemeinsame Erklärung der Staatschefs Chinas und Russlands, Xi und Putin, zu den Vorstellungen einer Weltordnung gut 7000 Worte.
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