Bitte schreib mir was in mein „Posie“. Wohlgemeinte Anfrage aus vergangenen Schultagen. Vielleicht auch hin und wieder aus der Gegenwart? Hinter dem „Posie“ verbirgt sich das Poesie-Album. Ein Buch, das für Eintragungen von Mitschülern, Freunden, von Verwandten, Lehrkräften, Vertrauten vorgesehen ist, –- der Erinnerung an erlebte Gemeinsamkeiten dienend; irgendwann einmal.
Die Zueignungen für den „Posie“-Besitzer enthalten Ratschläge, Lebensweisheiten, Wünsche für Glück, Gesundheit und Wohlbefinden, Freundschaftsbekundungen, Ermutigungen und Äußerungen zum Zeitgeschehen.
Dieses Buch persönlicher Rückblicke unterlag seit jeher der Mode. Es erfreute sich zeitweilig großer Beliebtheit, schwächelte, verschwand und kehrte zu neuem Höhenflug zurück. – Wer heutzutage gebeten wird, seine Gedanken in ein Gästebuch einzutragen, folgt letztlich dem Anliegen eines Poesie-Albums.
Das „Album amicorum“, wie man es auch nannte, wechselte die gesellschaftlichen Schichten und besitzt seine eigene Historie. Galt es doch im späten Mittelalter, auf lose Blätter geschrieben, als Nachweis der Teilnahme an höfischen Festen, politischen Zusammenkünften und Turnieren; dermaleinst mit einem Wappen oder Wahlspruch versehen. Ein mittelalterliches Gästebuch.
Der Wandel zum „Stammbuch“ geschah im 16. Jahrhundert zur Umbruchszeit der Reformation. Die Wittenberger Studentenschaft, hoch motiviert, am weltverändernden Geschehen teilzunehmen, begann leidenschaftlich Autogramme der bekannten Reformatoren zu sammeln, insonderheit von Martin Luther und Philipp Melanchthon. Der Brauch, kluge Sprüche bedeutender Persönlichkeiten als handschriftliche Andenken aufzubewahren, verbreitete sich rasch. Das „Stammbuch“ war geboren und wurde vorrangig in Studentenkreisen von Hand zu Hand gereicht. Zur Verschönerung kamen später farbkräftige Miniaturen und Zeichnungen hinzu.
In der Epoche der Empfindsamkeit wird das „Stammbuch“ zum Poesie-Album und hält Einzug im Bürgertum. Die Sinnsprüche widerspiegeln die Sehnsucht nach einer heilen Welt und den Drang ins Freie. – Poesie-Alben und „Stammbücher“ gelten als geschätzte Fundgruben von geschichtlichen, sozialen und zeitbezogenen Aussagen. Die Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek (THUIB) in Jena besitzt eine umfangreiche Sammlung von „Stammbüchern“. Die Mehrzahl wird dem 17. und 18. Jahrhundert zugeordnet. Überwiegend trugen sich darin Studenten der Jenaer Universität ein.
Eine Rarität in vielerlei Hinsicht ist das „Stammbuch des Johann Bernhard Wilhelm Sternberger“ (1752-1813), der die Juristische Fakultät von 1773 bis etwa zwischen 1775 und 1776 besuchte. – Sein Erinnerungsbuch trägt einen kostbaren Einband aus dunkelbraunem Kalbsleder, geschmückt mit einer goldenen Zierleiste, und enthält neun kunstvoll gestaltete, treffliche Miniaturen und 105 handschriftliche Widmungen. Die Malereien sind als Gouachen ausgeführt.
Bild 1: Widmungsinschrift des Besitzers, dem Zeitgeschmack angepasst. „MEMORIAE SUMMORUM VIRORUM … (weiterhin in Übersetzung aus dem Lateinischen von J. O.) „Daß dem Andenken an die vorzüglichsten Männer, die mit ganzer Hochachtung zu ehrenden Patrone, Gönner wie auch Freunde, dies Album geweiht sei, wünscht Johann Bernhard Wilhelm Sternberger aus Meiningen, Verehrer der Gesetze, und widmet es mit geziemender Ehrerbietung diesem Andenken.“ – Zur Verdeutlichung von Sternbergers Fakultät thront die Patronin Justitia in der Miniatur, umgeben von Folianten und einem Sinnspruch der Juristerei: „Suum cuique“. Das Ganze umgibt ein barock geschwungenes Band.
Bild 2: Aus dem Studentenleben. Diese Darstellung ist zweigeteilt. Über beiden Hälften schwebt jeweils ein aufschlussreiches Spruchband. Linke Seite: „Lernen, reiten, sauffen, rauffen liebet Bruder Studio“. Eine Hügellandschaft mit dem Wirtshaus „Zum Schwan“. Vor einem Waldstück duellieren sich zwei Kampfhähne; ein Treffer ist gelandet, Blut spritzt. Im Vordergrund befindet sich eine gestikulierende Gruppe in heftiger Auseinandersetzung. Wein wird getrunken und in vollem Schwalle wieder von sich gegeben … Ein galoppierender Reiter und ein herrenloses Pferd. Hier bewegt sich was! Rechte Seite: „aber wen die Zeit verlauffen klagt er mit Ovidio“. Die Jahre des jugendlichen Austobens sind vorüber. Die Einsicht folgt. In einer Studentenbude herrscht wüste Unordnung. Auf dem Boden liegen Spielkarten und zerbrochene Gegenstände, hingeworfene Stiefel, und eine Weinlache fließt still vor sich hin. Mittendrin steht ein junger Mann im Morgenmantel. Er macht seinem Herzen Luft: „ich scheiß‘ in das Register der brummenden Philister.“ An der Wand hängt die Aufstellung seiner Ausgaben. Es wird knapp in diesem Monat. Die Stimmung ist nicht die beste.
Bild 4: Freundschaft und Abschied. Eine Szene in der idyllischen Umgebung Jenas. Auf der Miniatur gekennzeichnet durch zwei Wahrzeichen der Stadt: dem Bergfried Fuchsturm und dem Berg Jenzig. Ein langer Zug seiner Kommilitonen hatte dem Scheidenden Geleit gegeben und befindet sich bereits wieder auf der Rückkehr zur Stadt. Den traurigen Abschluss bildet die nun leere Kutsche des Abreisenden. Der umarmt seinen Herzensfreund und reitet dem „Ernst des Lebens“ entgegen. Das Pferd ist gesattelt. Leise Wehmut liegt über dem Bild. Das beiderseitige Versprechen lautet: „Unßre Freundschafft soll bestehn biß der Tod ein ende macht.“ – Und was schrieben denn die Studiosi in Sternbergers Stammbuch? Zitate von Moliere, Gellert, Wieland und Gleim. Einträge folgen in Fülle, gereimt und ungereimt.
Erfahrung: „Die Zeit flieget, und wir mit derselben, / ob wir gleich keine Flügel haben.“ – Lebenslust: „Es sey ein jeder deiner Tage / so heiter wie ein Tag im May.“ – Feststellung: „Wir alle haben unsre Mängel / der frömmste Mensch ist doch kein Engel. / Wer bald vergißt und gern verzeiht, / der ist ein Freund der Menschlichkeit.“ – Staatsraison: „Es lebe der König mein Mädgen und ich. / Der König vor allen, mein Mädgen vor mich.“ – Sarkasmus: „Lebendig in die Hölle fahren / heißt den Engeln Müh ersparen.“ – Wunsch: „Es sind nur auf der Welt, vier angenehme Sachen: / Die dich und mich, mein Freund, dereinsten glücklich machen: / Ein angesehenes Amt, ein tugendhaftes Weib, / Ein mäßig Capital, und ein gesunder Leib.“ – Dem ist wohl nichts mehr hinzuzufügen!
Die Faksimile-Ausgabe von Sternbergers Stammbuch, ergänzt durch einen ausführlichen Kommentar von Dr. Joachim Ott, erschienen im Jahr 2004, ist antiquarisch erhältlich.
Schlagwörter: Jena, Poesie-Album, Renate Hoffmann, Stammbuch, Sternberger