27. Jahrgang | Nummer 8 | 8. April 2024

Vom Heftigsten bis zum Allerschönsten

von Renate Parschau

Ja, behaupte ich, Siegfried Matthus (1934-2021), der am 13. April 90 Jahre alt geworden wäre, war ein bedeutender Komponist des 20./21. Jahrhunderts. Und: Nein, ich repräsentiere nicht „die“ Meinung eben jener Zeit. Aber ich bin ihm einige Male begegnet, habe ihn in verschiedenen Situationen erlebt, mehrmals interviewt. 

In Stolzenhagen sei er zu Hause, sagte er. Die Landschaft mit Bäumen und Wasser erinnerte ihn an seine Kindheit in Ostpreußen. Wichtige Werke wie das Paukenkonzert „Der Wald” (1984) und das Harfenkonzert „Der See” (1989) entstanden hier. Vor der großen Fensterfront des Terrassenzimmers im Haus der Eheleute Matthus in Stolzenhagen breitete sich eine Parklandschaft mit gepflegtem Rasen aus, darinnen ein paar Skulpturen, gerahmt von mächtigen Kiefern und Eichen. In einem Kübel blühte – Ende November – unverdrossen eine Teerose. An der Wand Regale mit Bildbänden: über den DDR-Stararchitekten Herrmann Henselmann, deutsche Küchenspezialitäten, Schinkels „Reisen durch Italien“, „Prinz Heinrich von Preußen – ein Europäer in Rheinsberg“, Spanien, Schwetzingen … 

Aber seine aufregendste Reise, sagte Siegfried Matthus, sei die von 1988 gewesen. Für einen Bericht über die Entstehung der Oper „Graf Mirabeau“ beim DDR-Fernsehen hatte er nach vielem Hin und Her mit Visa, Drehgenehmigungen und dergleichen seinen Geburtsort in Mallenuppen, an der Ostgrenze des damaligen Ostpreußens, in Russland, aufgesucht und den letzten Kilometer bis zum Haus seiner Eltern – genauer dessen Grundmauern – aus der Erinnerung gefunden. „Ja sdjes rodilsja“, (Ich bin hier geboren) sagte er. Eine Russin, Anfang 40, erwiderte: „Ja toshe“ (Ich auch). Sie kam aus dem Raum Leningrad, nachdem die Familie Matthus im Oktober 1944 von hier weg war. „Wir sind beide Vertriebene“, sagte der 78-Jährige lächelnd. Aber die Geschichte seiner gefahrvollen Flucht über die Weichsel und das Haff, bei der er – damals 10-jährig – die Planwagen mit der Habe seiner Familie im Auge behalten sollte, bei der die sterbende Großmutter besonders betreut werden musste und er schließlich von der schwangeren Mutter mit den Geschwistern getrennt wurde, ging ihm noch immer nahe.

Sein „Lamento. Musikalische Erinnerungen für großes Orchester und Sopransolo“, ein Auftragswerk der Münchner Philharmoniker, 2007 unter Christian Thielemann uraufgeführt, behandelt diesen Teil seiner Biografie in sechs ineinander übergehenden Sätzen: Lamento I – Kindheit – Krieg – Kälte – Katastrophe – Lamento II. Die „dramatische Geschichte, die zugleich Zeitgeschichte ist“ wollte er zudem in einer Gesamt-Biografie festhalten.

Im Frühjahr 1980 interviewte ich den Künstler für den Sonntag über alte und neue Hörgewohnheiten. Matthus sagte: „Dächte ich beim Arbeiten immer nur an irgendwelche angenommenen Hörgewohnheiten, würde ich noch kein Stück zu Papier gebracht haben. Die Forderung an uns, jede Hörgewohnheit zu berücksichtigen, ist unfair und unerfüllbar. Außerdem bin ich der Meinung, dass heute alle Hörerwartungen und -bedürfnisse bedient werden.“

Zum gerade geprägten Begriff der „Neuen Einfachheit“, um neue Hörerschichten zu erreichen, sagte er kategorisch: „Immer wieder werden neue Begriffe erfunden, keiner weiß letztlich, von wem überhaupt. Er ist zu nichts, aber auch zu gar nichts nütze. Bitte vergessen Sie ihn! Denken Sie an Bachs ‚Kunst der Fuge‘ – die war vielleicht kompliziert in der Machart. Für den aber, der richtig hinhörte, war sie wiederum ganz einfach. Große Kunst hat ja irgendwie auch ganz einfach zu sein. Einfach und kompliziert allein sind jedoch noch keine ästhetische Qualität …, wenn Musik etwas kann, dann kann sie etwas zum Ausdruck bringen. Man muss daher versuchen, nach neuen Ausdrucksqualitäten zu suchen.“ Stattdessen würden „auf musikalischem Gebiet oftmals auch Dinge beiseitegeschoben […], die dann eine Zeitlang fehlen. Dann werden sie vermisst. Als Komponisten sollten wir daher […] zusammen mit den aufgeschlossenen Hörern versuchen, […] etwas lange Zeit Vergessenes, Beiseitegeschobenes neu zu entdecken.“

Als wir uns nach über 30 Jahren wieder begegneten, war er gerade dabei, zusammen mit Freya Klier seine Biografie zu schreiben. Und – das merkte man in jedem Satz, den er darüber sprach – er war nicht glücklich dabei. Beim Lesen der ersten Seiten über die schicksalsträchtige Flucht aus Ostpreußen ist klar, warum. Es sind der Kinderbuchduktus und ein distanzierter Ton, die nicht den Charakter und die Dramatik jener Zeit abbilden.

Ich fragte ihn nach dem seiner Meinung nach einschneidendsten Ereignis für die Welt überhaupt und er antwortete: „Dass die beiden Deutschlands wieder zusammenkamen, war ein echtes Wunder und nur möglich, weil es neben vielen anderen Gründen die gemeinsamen kulturellen Traditionen gab, Beethoven, Mozart, Richard Strauss, Goethe und Thomas Mann.“ Es bereite ihm große Sorge, „dass 80 Prozent unserer Schüler heute keinen Musikunterricht haben. Eine ganze Generation kennt heute schon nicht mehr unsere klassischen Musiktraditionen, die zur Weltkultur gehören.“ 

Sorgen machte er sich auch um das Musiktheater. Neben Hans Werner Henze war und ist er vermutlich der meistgespielte deutsche Opernkomponist des 20. und 21. Jahrhunderts. „Judith”, „Cornet”, die „Unendliche Geschichte“ sind von den Theaterbühnen nicht mehr wegzudenken. Man sollte aufhören, „nur über das Geld zu reden, das ist knapp, das wissen wir, aber Phantasie ist noch am billigsten, die kostet nicht sehr viel. Dazu müssen wir die jungen Autoren ermutigen, wieder für Theater und Opernbühne zu schreiben, Stoffe zu finden, die das Heute gestalten, vom Heftigsten bis zum Allerschönsten. Der schöpferische Autor muss wieder in den Vordergrund gerückt werden, nicht der Regisseur, der alte Stücke neu erzählt und die Musik zum Beiwerk macht. Wir brauchen eine Opernreform, eine neue Sicht auf Oper.”

Worauf er stolz war? Dass er sich als Bauernjunge aus dem Ostpreußischen, der eine paradiesische Kindheit in landschaftlich schöner Umgebung hatte, durch die Zeiten behaupten konnte. Dass er für die New Yorker Philharmoniker komponierte (Concerto for Two für Trompete und Posaune, 2002), vor der UNO gespielt wurde und in den meisten Musikzentren der Welt Aufführungen hatte. Dass zahlreiche Solisten der Kammeroper Rheinsberg, die er 1991 gründete und seitdem künstlerisch leitete, ebenda ihre internationale Karriere begannen und heute an der Met, der Mailänder Scala und anderswo agieren. Schon 2013 hatten sich an die 500 Teilnehmer beworben, von denen etwa 40 ausgewählt wurden.

Der Tod für ihn? „Er gehört nicht zum Leben, auch wenn das oft behauptet wird. Er ist das Ende und nicht etwas, das in Talkshows oder Fernsehfilmen thematisiert werden muss.“ Über eine Themenwoche im Fernsehen war er empört. Er erinnerte sich an seine Flucht und die Angst davor, dass es das schon gewesen sein sollte. „Ich war mir sicher, dass wir es nicht mehr schaffen würden, den Russen zu entkommen, und fand, zehn Jahre seien ein bisschen kurz für ein Leben.”

Inzwischen ist Siegfried Matthus drei Jahre tot. Er hat an die 600 Werke komponiert und viele Orden erhalten, den Nationalpreis der DDR, den Verdienstorden 1. Klasse der Bundesrepublik, den Preis des Internationalen Theaterinstituts Berlin … Er war Mitglied mehrerer Akademien und im Hafendorf Rheinsberg ist die „Siegfried-Matthus-Arena“ nach ihm benannt worden. „Die Zeit wird knapper, mit jedem Tag, das wissen wir. Deshalb muss man sie intensiv nutzen.” Siegfried Matthus hat sie genutzt.