27. Jahrgang | Nummer 8 | 8. April 2024

Peter & Wolfgang – Weimarer Dissonanzen

von Detlef Jena

Zum Augenblicke dürft’ ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön!
Es kann die Spur von meinen Erdetagen
Nicht in Aeonen untergehn.

 

Johann Wolfgang Goethe

 

Im Sommer 1812 marschierte die aus 20 Nationen rekrutierte Invasionsarmee Napoleons durch die russischen Weiten nach Moskau. Weimarer Söhne waren mit von der Partie. In ihren Tornistern hatten die Soldaten ein Papier, das ihnen den Feldzug geschichtsträchtig motivierend schmackhaft machen sollte: Das „Politische Testament Peters des Großen“. Sie glaubten und vertrauten dem Text.

In Wirklichkeit hatten Napoleons imperiale Herrschaftsvorstellungen über die Neuordnung Europas die Feder geführt. Die Fälscher schrieben, Russlands Ziel bestehe in der Unterwerfung Europas. Russlands Zaren und Armeen sollten die europäischen Großmächte von Schweden bis zum Osmanischen Reich, von England und Frankreich bis Österreich gegeneinander ausspielen und ihrer politischen und militärischen Stärke berauben. Russland sollte ganz Europa beherrschen! Die Nahziele: Annexion aller baltischen Länder, die Aufteilung Polens mit der Ukraine und die Macht über das Osmanische Reich!

Besonders pikant war u.a. für die geistvolle Wiege der deutschen literarischen Klassik in Weimar der Punkt 6 des „Testaments“ (hier nach der Berliner Ausgabe von 1851 zitiert): „Die Gemahlinnen für die russischen Prinzen stets aus den deutschen Häusern wählen, um die Familienverbindungen zu vervielfältigen, die Wechselbeziehungen beider Völker enger zu ziehen und durch Vermehrung der Quellen unseres Einflusses es dahin zu bringen, dass Deutschland von selbst mit uns gemeinsame Sache macht.“ Die Vermählung russischer Prinzessinnen mit deutschen Prinzen wurde verbal nicht extra erwähnt. Aber natürlich sollten auch sie der „gemeinsamen Sache“ Deutschlands und Russlands zur Unterwerfung Europas dienen – dachten sich die Autoren des „Testaments“.

Sie betrachteten damit auch Weimar als einen solchen Hort „gemeinsamer Sache“ mit den Russen. Die 1804 nach Weimar verheiratete Großfürstin Maria Pawlowna, die in Thüringen bis in unsere heutigen Tage respektvolle Würdigung erfährt, wäre quasi eine Art „Fünfter Kolonne“ zarischer Politik im Lande Goethes und Schillers.

Natürlich, wer heute noch verklärend vom „unglaublichen“ Auftritt Maria Pawlownas im Thüringen des 19. Jahrhunderts schwärmt und Weimar auf Grund ihres damals verdienstvollen sozialen und kulturellen Wirkens als Vorposten russischer Politik auf der Bühne Europas betrachtet, zwinkert vertrauensselig dem gefälschten „Testament Peters des Großen“ zu.

Über das ganze 19. und 20. Jahrhundert hinweg erschien das „Testament“ in immer neuen Auflagen, wurde es in immer kühneren Varianten interpretiert. Die Anthroposophen um Rudolf Steiner waren dabei besonders aktiv.

Doch für die Bewahrung des klassischen Erbes Weimars in seiner Gesamtheit spielt der Umgang mit Russland und dessen monarchischer Repräsentantin heute und in Zukunft eine beachtliche Rolle.

Jüngst hat die honorige Klassik Stiftung Weimar ihr Magazin „KLASSISCH MODERN“ unter dem ebenso geheimnisvoll wie epochal oder auch ratlos interpretierbaren Motto „Auf/Bruch“ herausgegeben. Obgleich die träumerischen Titel der Beiträge („Willkommen oder nicht“) ins Kulinarische gezielten Marktbewusstseins mutieren, verbergen sich dahinter in der Tat anregende Texte. Etwa unter dem wohlklingenden Motto „Future Memory“, wenn dort der auf Aristophanes und Immanuel Kant basierende philosophische Begriff „Freundschaft“ mit dem Brand der Anna Amalia Bibliothek von 2004 verknüpft und die Schatzkammer der Bibliothek als Sinnbild des lebendigen klassischen Erbes und des kategorischen Imperativs in seiner ganzen Tiefe und Breite gewürdigt wird, begleitet von skeptischen Erwartungen in das Zeitalter des brodelnden Digitalismus.

Das Editorial des Heftes bietet die allgemein gültige und oft zitierte Erkenntnis dar: „Weimar ist für viele ein Symbol der deutschen Geschichte in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit. Das kulturelle Ereignis der Weimarer Klassik um 1800 freilich betrachten wir heute durch das prägende Prisma des 20. Jahrhunderts. Nie lagen Aufbruch und Katastrophe, Scheitern und Neustart enger beieinander als in der Abfolge von Kaiserreich, Weimarer Republik, dem Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus und der Neugründung zweier Deutschländer. Beide deutsche Staaten beriefen sich ungebrochen auf den Geist der Goethezeit.“ So weit, so gut. Schließlich hat das Erbe der Klassiker alle politischen Systeme überlebt.

Dann folgt in dem Text ein unerwarteter Blitz und Donnerschlag: „Erst ihre Wiedervereinigung brauchte die Legitimation durch den Weimarer Großklassiker nicht mehr.“ Wie bitte? Sollen jetzt sogar die Touristen von allen Kontinenten aus Weimar verbannt werden? Reichen die Mittel für die Sanierung des Goethe-Nationalmuseums am Frauenplan nicht? Als die letzte Volkskammer der DDR den Beitritt zum Grundgesetz der Bundesrepublik beschloss, wurde Weimar alsbald zur europäischen Kulturstadt auserkoren. Das Symbol des marktkompatibel-demokratisch geeinten und nun wieder einmal großen Deutschlands im Herzen Europas! Wenn das kein kultur- und staatstragendes Politikum unter dem Schirm Goethes und Schillers war, dann hatte auch Weimars Großherzog Carl Alexander nach 1871 wahrlich unrecht, wenn er sinnierte: das Reich braucht Goethe mehr denn je.

Natürlich gilt auch in Weimar seit der politischen  „Wende“ das Gesetz: die Modernität der Klassik hat eine Modernität der Konsumgesellschaft zu sein. Die Stadt geriet damit wie zu allen Zeiten sofort in die gefährlichen gesellschaftlichen und politischen Konflikte unserer Zeit. In der Bundesregierung gibt es auch nach dem russischen Angriff auf die Ukraine die irrtümliche Ansicht, keine deutsche Stadt enthielte so viel Russland wie Weimar. Weil es dort ein Puschkin-Denkmal gibt? Im Erbe der russischen Großherzogin Maria Pawlowna soll nach heutiger Lesart sogar mehr zukunftsträchtiges Potential für Weimar liegen, als man bislang ahnt. So mutmaßt die Klassik Stiftung. Das alles sind relevante und bedenkenswürdige Fragen.

Weimar hat sich überhaupt nicht ohne die „Großklassiker“ aus den Kontinuitäten der Geschichte gelöst, sondern huldigt jetzt lediglich und ganz normal dem aktuellen marktwirtschaftlichen Zeitgeist. Doch die Marktwirtschaft bedeutet auch die Verwandlung des menschlichen Geistes in eine App mit Payback Karte, die das eigentliche Refugium schafft, aus dem am Ende die Patrioten in ungeahnte Höhen aufsteigen. „Doch wer sich mit dem Zeitgeist vermählt, wird bald zum Witwer werden.“ Das wusste schon ein dänischer Philosoph zur Goethezeit. Und niemand sage, das gefälschte „Testament Peters des Großen“ sei aus der Politik verschwunden.

Wie war das also, als Goethe und Maria Pawlowna 1804 aufeinandertrafen?

Maria empfand zunächst vor Goethe Furcht. Wie sollte sie dem vermeintlichen Genie mit fürstlicher Erhabenheit begegnen, wenn sie noch nie eine Zeile von ihm gelesen hatte? Sie ließ sich sofort im Dezember 1804 die „Leiden des jungen Werther“ bringen: die Ratgeber empfahlen ihr das Buch, weil es als das berühmteste aus Goethes Feder galt und Frau von Stein lieh ihr flugs wie hintersinnig das eigene Exemplar.

Aber die junge, orthodox erzogene Prinzessin verstand das Buch nicht! Sie hielt den Werther, der so vielen Menschen den Kopf verdreht und argen Lärm verursacht hat, einfach für „philiströs“ und meinte mit diesem Wort die gefährliche Gottlosigkeit des Autors. Ihrer Gouvernante Mazelet gegenüber öffnete sich Maria differenzierter: „Ich finde ihn vorzüglich geschrieben und sehr interessant; es gibt dort schöne Ideen. Was die Leidenschaft in diesem Buch betrifft, würden Sie mir glauben, liebe Freundin, dass ich mich bei seiner Lektüre schämte. Aber so ist es mir eben ergangen. Mehrere Leute glaubten, dass diese Lektüre mir schaden wird, weil ich zu lebhaft zu sein scheine; ich frage sie jetzt, von welchem Schaden die Rede sei, man antwortet mir, Sie verstehen gewiss nicht genug Deutsch. Ich lasse sie reden, die arme Kerle, und setze meine Lektüre fort, die ich von Anfang bis zum Ende gut verstehe, und da bin ich und habe nicht Selbstmord begangen, wie Sie sehen.“ Einfach köstlich!

Wie wäre es, daraus einen Podcast nach dem Motto zu schneidern: Wie fühlt sich Goethes Klassik während des Feldzugs von 1812 an und welche Teesorte bevorzugte Maria Pawlowna? Da würde Goethe sich dann wirklich verabschieden.