27. Jahrgang | Nummer 7 | 25. März 2024

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal „Ja nichts ist ok“ – Volksbühne. Gedenken an René Pollesch / „Mutti, was machst du da“ – Berliner Ensemble, Neues Haus

***

Volksbühne: Tödlich zunehmende Verzweiflung

Fragt die eine Kerze die andere: Was machst du heute Abend? Antwort: Ich gehe aus. Hahaha! Ein Witz, den man hinquatscht in der Kneipe. Fabian Hinrichs zitiert ihn aus seinem privaten Gute-Laune-Büchlein „Angriff auf die Lachmuskeln“. – Und das passt wie die freche Faust auf lebensmüde Augen zu René Polleschs letztem Stück „Ja nichts ist ok“. Er erfand es noch kurz vor seinem plötzlichen, frühen Tod mit gerade 61 Jahren gemeinsam mit seinem Herzensfreund Fabian Hinrichs. In seiner Wohnung Schönhauser Allee. Oder im „Alles oder nichts“-Café.

Fabian erinnert sich im Nachhinein, schwer erschüttert, an Heinrich von Kleist. An dessen Bemerkung über dunkle Ahnungen als Antrieb für Geist und Fantasie. Und tatsächlich: Dieses „Nichts ist ok“, dieses pessimistische 70-Minuten-Solo für Hinrichs, das liest sich nunmehr in seiner Grundstimmung als Requiem auf René; auch wenn es in einer imaginären Vierer-WG spielt. Bringt es doch mit zunehmender Verzweiflung die Unmöglichkeit gedeihlichen Zusammenlebens auf den Punkt. Und gleicht einem Endspiel menschheitlicher Gemeinschaft.

Denn in dieser WG mit René-Fabian, Claudia, Stefan, Paul, da geht nichts mehr; kommt nichts mehr zusammen. Eine Wohngemeinschaft ohne Gemeinschaftliches, die, unbehaust sich fühlend in Anna Viebrocks klapprigem Bühnen-Bungalow, einander nur noch nervt. Jeder klebt an seinen Wehwehchen, leckt die eigenen lebenswunden Pfoten, hängt abgeschottet in seiner Gedankenblase. O Mensch, was ist bloß los mit dir – geballte Ausweglosigkeit, geballter Schmerz bei Pollesch & Hinrichs, verblüffend locker dahin gesprochen, ausgespielt, sogar verwitzelt. Und doch zum lauthals Heulen. „Ich sterbe ganz weit hinten, wo nur noch Arschlöcher sind.“

Doch da gibt es den WG-Kühlschrank, aus dem in schlafloser Nacht eine KI-Stimme klugscheißend rät: „Das Leben ist lebenswert, und da draußen gibt es Hilfe für dich. Wenn du nicht mehr leben willst, kontaktiere einen Freund oder Verwandten oder such dir professionelle Hilfe.“

So ist er, der René: Immer gern und bis zuletzt auch ein Schalk. Wie liebenswürdig. Ob zynisch, bissig, blitzend ironisch oder kindlich verspielt, auch gelegentlich blödelnd und meist polarisierend, zumindest schwer irritierend.

Wie sein anfangs neumodisches, alsbald aber ein Standard werdendes, durch süffige Popmusik effektvoll strukturiertes postdramatisches Theater, das im so einzigartigen, so verrückt schillernden Pollesch-Sound Sachbuchtheorien kurzschloss mit den Alltagserfahrungen der Leute im neoliberalen Turbokapitalismus. Frappierend trefflich, an- wie aufregend. Aber oft eben auch fragwürdig durch die nur allzu lustvoll in verwegenes Geschwurbel überschießenden Abstraktionen.

Doch als tollwütige Gegengewalt hatte René seine hinreißenden Komödianten: die Rois, Angerer, Meyerfeldt, die Peters, die Minichmayr, der Wuttke, Peschel oder Claessens und wie sie alle heißen. Es waren die Spitzen der Zunft, die R.P. zu Füßen lagen. Und er liebte sie alle. Ließ es locker zu, dass sie fleißig mitdachten und mitmachten beim Zusammenschrauben seiner Stücke. Das begann um die Jahrtausendwende im Volksbühnen-Prater. Wurde Kult und entfesselte einen schier einzigartigen Schaffensrausch. Etwa 200 Stücke – O mein Gott! – brachte Pollesch allüberall auch inszenierend heraus.

Das Rüstzeug dafür holte er sich, der bewundernswert Belesene, bei Andrej Wirth und Hans-Thies Lehmann an der Uni Gießen, wo er mit 21 Jahren Mitte der 80er anfing im ersten Jahrgang des neuen Studiengangs für Angewandte Theaterwissenschaften; dem Gottseibeiuns der klassisch-konservativen Theaterwelt.

Vielleicht hätte er es 2021 lassen sollen, die Übernahme der Intendanz des Riesentankers Volksbühne, weltbekannt, aber nach Castorf in der Krise. Großes Management, das war nicht seins. Und der Versuch kollektivistischer Führung in jeder Hinsicht arg verschleißend. Jetzt wissen wir: zu arg! Obendrauf noch die Zustände in Welt, Gesellschaft, Gemeinde. Das strauchelnd große Ganze… – Pollesch analysierte nämlich immerzu rücksichtslos. Stach immer rein in die Schwach- und Schmerzstellen. Auf Dauer zermürbend. Die Folgen: zunehmende Ratlosigkeit, zerstörte Zuversicht, aufgebrauchter Trost, kaputtes Herz.

Das vorletzte Pollesch-Stück fragte noch mit sanft resigniertem Unterton „Geht es dir gut?“ Nun das tieftraurige Schlussstück „Nichts ist ok“ – völlig frei von Verfremdung, dafür insistierend auf Identifikation. Mit Hinrichs, der in bestürzenden Pollesch-Sätzen alle finalen Un-Okays auflistet: „Ich kann nicht mehr so weitermachen, mich nicht mehr ansehen, mich nicht mehr anfassen. In mir ist alles fertig. In mir ist nichts recht fertig … Ich lebe, ich arbeite, ich sterbe unter unvorstellbaren Qualen. Ich würde gern mal selbst zu jemandem rübergehen. Ich wäre gern mal rübergegangen. Ich würde gern mal rübergegangen sein.“ – Doch die Kerze ist ausgegangen.

***

BE: Kleinkrieg und große Versöhnung

Achtung: Bei der Frage im Stücktitel, was denn Mutti da mache, haben wir es mit gleich drei Müttern zu tun. Und die machen, was bestenfalls alle Mütter tun: sich kümmern um ihre Kinder.

Das geschieht rührend, hingebungsvoll, ist pfiffig oder auch dämlich bis übergriffig. Und wenn sie anfangen, sich um sich selbst zu kümmern, um ihren persönlichen Saft- und Kraftladen, ist der Nachwuchs erleichtert, befreit oder betreten, bekümmert, belastet. So verwinkelt und verwickelt läuft das in Familienbetrieben. Kleinkrieg und große Versöhnung immer schön dicht beieinander.

Autor Axel Ranisch und sein Ehemann Paul Zacher kennen sich damit aus. Haben einen scharfen, doch ungehemmt liebevollen Blick auf die Härten des Lebens. Etwa im Hochhausviertel Fennpfuhl im Osten Berlins, wo sie heimisch sind. Wo mehrheitlich Leute leben, die es so dicke nicht haben, um leicht über die Runden zu kommen.

Ranisch, beeindruckend beleibt, Jahrgang 1983, der neuerdings auch an der Komischen Oper inszeniert, erzählt davon in seinen Filmen „Alko Alki“, „Dicke Mädchen“, „Orphea in Love“ oder „Ich fühl mich Disco“ und zuletzt (2018) in seinem auch als Serie verfilmten, autobiografisch grundierten Romandebüt „Nackt über Berlin“. Zusammen mit Zacher wurde daraus noch die NDR-Hörspielfolge „Anton und Pepe“. – Was in drei Teilen und insgesamt reichlich fünf Stunden die Radiohörer amüsierte, erleben wir jetzt auf der Bühne, eingedampft auf gut 100 Minuten unter dem neuen Titel: „Mutti, was machst du da?“.

Im Mittelpunkt steht die zwischen Euphorie und Enttäuschung wankende Lovestory von Anton Hartwichsen (auszusprechen mit weichem „ch“) und Pepe Schauer. Und die wiederum steht unter ständiger Beobachtung, ob wohlwollend oder kritisch, von Antons Mutter Elke, seiner Großmutter Evelyn und Pepes Mutter Astrid.

Evelyn, einst überwiegend glücklich verheiratet, jetzt verwitwet, leicht reduziert durch Schwerhörigkeit und Altersdemenz, lässt sich die Lebensfreude trotzdem nicht vermiesen. Mutti Elke, einst überwiegend unglücklich verheiratet mit einem Alkoholiker; geschieden. Mama Astrid, alleinstehend, esoterisch veranlagt und krebskrank (die Lymphe), hatte viel Pech mit Männern und bandelt unverdrossen sehnsuchtsvoll mit dem Wohnungsvermieter Manfred. Leider kommt sie mit ihrem kleinkriminellen, bipolar gestörten und drohende Obdachlosigkeit verheimlichenden Sohn Pepe überhaupt nicht klar. Wie auch der liebeshungrige Anton, Student der Musikwissenschaft, mit dem umschwärmten, vergeblich lebenskünstlerischen Pepe nicht klarkommt. Soweit die vertrackte Gemengelage. Man taumelt in gefährlicher Nähe vom Abgrund, um sich zum herzigen Finale zu vereinen in rettender Umarmung. Mit hoffnungsfrohem Ausblick auf eine Mehrgenerationen-WG.

Das Erstaunliche der Ranisch-Inszenierung: Die annoncierte „Musikalische Dramödie“ mit aufgepfropften Musiknümmerchen findet ihren erstrebt schwungvollen Sound nicht. Es ruckelt und holpert und wirkt wie zusammengeschustert. Schon das Script, zwar ohne falsche Töne, ist übergewichtig vollgestopft mit Problemen und gerade dadurch ziemlich plakativ.

Wir haben uns dennoch nicht gelangweilt. Wegen des erlesenen Ensembles! Das nimmt sich mit energischer Sympathie seine Figuren einfühlsam zur Brust, gibt ihnen Profil und Tiefe. – Allen voran Tilo Nest als Oma Evelyn; noch immer modebewusst im Second-Hand-Chanel, niemals tuntig, immer gewitzt, klar – oder stürzend in traurige Verwirrung. Daneben Constanze Becker als Mum Hartwichsen. Verlassen und einsam trotzt sie ihrer Verbitterung mit Sarkasmus und Herbheit, ohne dabei in Hartherzigkeit oder gar Zynismus zu versinken.

Kathleen Morgeneyer zeigt als Astrid Schauer ein zwischen mütterlicher Empathie und fraulichem Egoismus elfenhaft irrlichterndes Wesen – mit Ausbrüchen schneidender Härte, ja sogar schlagender Handgreiflichkeit. Und ringt obendrein tapfer um (letzte) Glückserfüllung mit dem brav beamtigen, letztlich kühn küssenden Martin Rentzsch als Vermieter Manfred. Und Stefanie Reinsperger, völlig frei von schwulen oder kerligen Attitüden, stellt als Anton Hartwichsen nicht die nach Sex und Innigkeit lechzende Wuchtbrumme aus, sondern den beweglich einfühlsamen, klugen guten Jungen, der mal wütend, mal verzweifelt ringt um den erschreckend labilen Pepe (Max Gindorff), den schwer Gebeutelten vom Himmelhoch-Jauchzen oder Zu-Tode-Betrübtsein (mit versuchtem Suizid).

Es ist die Kunst lustvollen Spiels, das diesem Herz-Schmerz-Laden Spannung gibt. Und, ja doch, einen Ruck in Richtung Volkstheater.