27. Jahrgang | Nummer 7 | 25. März 2024

Eine Reise zu François Villon

von Gerhard Müller

In das Loire‑Tal fährt man vom verbrannten Hochland Mittelfrankreichs hinein wie in ein grünes Paradies. Weinfelder und Obstgärten dehnen sich, schmucke Häuser wachsen an Straßenrändern empor, und die ohnehin fröhlichen Franzosen sehen hier noch fröhlicher und weinseliger aus. Die Landschaft singt und tanzt. „Nur wer in Wohlstand lebt, lebt angenehm”, jauchzt das entflammte Touristenherz. Die Zeilen hat François Villon vermutlich im 15. Jahrhundert hier gedichtet, und Bertolt Brecht und Kurt Weill haben im 20. Jahrhundert in Berlin daraus einen modernen Song gemacht. Doch welcher Musik, welchen Klängen wäre man damals begegnet? Vielleicht der fahrenden Kriegstrommel von Leonardo da Vinci, denn der war auch hier.

Zuerst gelangen wir nach Amboise, einer kleinen Stadt im Loire‑Tal zwischen Tours und Orleans. Hier hatte Leonardo im Dienste des französischen Königs François I. seine letzten Lebensjahre, 1516 bis 1519, verbracht und rauschende Feste mit allerlei technischem Wunderwerk organisiert. Das ganze Hofleben in dem noch heute prachtvollen Schloss über der Loire verwandelte dieser italienische Zaubermeister in eine hinreißende Theater‑Inszenierung. Er erfand unter anderem einen mechanischen Löwen, der seine Brust öffnete und Lilien ausstreute, wenn man ihn berührte, und die auf einen Pferdewagen montierte mechanische Riesentrommel. Wenn die Pferde den Wagen anzogen, setzte ein kunstvoller Mechanismus ein furchteinflößendes Trommelwerk in Bewegung, das das Anrücken einer riesenhaften Armee vortäuschte. Dumpfe Schläge imitierten die Kanonen, die punktierten Triolen die Panzer-Reiter, die enervierenden Wirbel der Trommeln das Gewehrfeuer, und darüber bliesen mechanische Trompeten und täuschten den Anmarsch der Geister-Armee vor. Das sinnreiche Konstrukt sollte den Gegner in panischen Schrecken versetzen und in die Flucht jagen. Leonardo hatte damit die erste und bisher einzige pazifistische Waffe der ganzen Kriegsgeschichte konstruiert, mit der eine Schlacht ohne einen einzigen Schuss gewonnen werden konnte, eine Anti-Feuerwaffe, die Soldaten wie Bürger und ihre Burgen schonte, statt sie in Trümmer zu legen. Dafür hatten die Generale kein Verständnis und schickten den Trommelwagen ins Museum, statt ihn der Liste der Waffenlieferungen für die heutige Ukraine hinzuzufügen.

Umso mehr Einfluss hatte die mechanische Riesentrommel auf die Musik. Ohne sie wäre die klassische Sinfonik gar nicht vorstellbar, denn was Leonardo da Vinci erfand, war die moderne Lärm-Produktion. Damit eröffnete er ein neues musikalisches Zeitalter, das der mechanischen Instrumentalmusik. Denn was ist sie anderes als organisierter Lärm. Joseph Haydns „Militärsinfonie“, Beethovens „Schlacht von Waterloo“, Ravels „Bolero“ oder Schostakowitschs „Leningrader Sinfonie“ wären ohne Leonardos geniale Erfindung undenkbar.

Von Amboise kann man links oder rechts der Loire nach Orleans fahren, der Stadt der Jungfrau, durch deren patriotischen Enthusiasmus 1429 die Franzosen befreit und die Engländer aus Frankreich verjagt wurden. Zum Dank wurde sie zwei Jahre später von ihrem König Karl VII. an die Engländer verraten und als Hexe verbrannt. Ihre Geschichte ist in die Glasfenster der Kathedrale von Rouen eingelassen. Friedrich Schiller und Bernard Shaw haben Tragödien über diesen Wortbruch geschrieben und Pjotr Iljitsch Tschaikowski eine pathetische Oper.

Kurz vor Orleans erreicht man das Städtchen Meung sur Loire, das noch aussieht wie im Mittelalter. Trotz des Sonntags waren die Geschäfte offen. Reges Marktgetriebe erfüllte die engen, von niedrigen Fachwerkhäusern begrenzten Gassen, die auf einen großen Platz münden. Dahinter erhebt sich in drohender Eleganz eine gotische Kathedrale, an ihr vorbei führt ein Parkweg zu einem sonderbaren Schloss. Graue romanische Ecktürme verbergen die eigentliche Fassade. Umschreitet man sie, so befindet man sich vor einem graziösen rosa Mauerwerk. „La vie en rose“ sang Edith Piaf, doch hinter der Fassade war das Leben nicht rosig. François Villon nahm seinerzeit hier unfreiwillig Quartier. Das Schloss ist heute ein Museum, im 15. Jahrhundert war es eine Marterhöhle. Man steigt hinab in die Kellerräume, besichtigt die unterirdische Kapelle, in der die Tribunale der Inquisition tagten. Man sieht die Folterinstrumente, das entsetzliche Streckbett mit den Seilwinden und den heute verstummten, aber einst schrecklich knarrenden Wirbeln, und das Brett der Wasserfolter mit den Arm‑ und Beinspangen und dem fünfzehn Liter fassenden Trichterkrug über der Stelle, wo der Kopf des Delinquenten lag.

Im Schlosspark, unter rauschenden Buchen und halb von Gestrüpp überwachsen, entdeckt man ein Rondell, das wie das Fundament eines abgebrochenen Turmes aussieht. Der Turm aber existiert, er erstreckt sich nur nicht in die Höhe, sondern zwanzig Meter in die Tiefe, eine winzige Tür führt ins Leere, keine Treppe, keine Leiter. An Seilen ließ man hier die Delinquenten hinunter. Unten, in fahler Beleuchtung, erkennt man schaudernd das Skelett eines solchen Namenlosen. Oder hat er einen Namen? Auf einer kleinen Tafel vor der Tür stehen Verse in altfranzösischer Sprache.

Escript l’ay l’an soixante et ung
que le bon roy me delivra
de la dure prison de Mehung
et que vie me recouvra…

Im Jahre einundsechzig schreib ich dies,
als zu Meung aus diesem Grab
der gute König mich befreite
und mich dem Leben wiedergab…

Es war das Jahr 1461. Der gute König ist Ludwig XI., der auf seiner Krönungsreise durch Meung kam und die Gefangenen amnestierte. Einer, der auf sein Geheiß aus dem Verlies, der Oubliette, dem Ort des Vergessens, heraufgeholt wurde, war François Villon, Frankreichs berühmtester Dichter. Eingesperrt hatte ihn Bischof Thibault d’ Aussigny, weil er ihm bei einem Liebeshandel in die Quere gekommen war. Das war eher eine Legende, denn der hohe Klerus hatte bessere, das heißt schlimmere Gründe, den Dichter einzusperren. In seinen Liedern hatte er die Geist­lichkeit verspottet und in die Hölle verbannt, in die sie ihn dann warfen. Als Mitglied der Coquillards, der Muschelbrüder, Vorläufer der RAF, griff Villon die etablierte Ordnung auch mit dem Schwert an. Fünfhundert Zeugen sollten ihn überführen, aber zuletzt war dem Bischof das Gerichtsverfahren zu umständlich, und er warf ihn kurzerhand in die Oubliette, aus der er nur durch den Zufall der königlichen Krönung entrann. In seinem „Großen Testament”, das er nach seiner Befreiung vermutlich noch in Meung schrieb, verfluchte er den Bischof in ehernen Versen, in denen er nun als grausamer Potentat aufbewahrt ist wie die Fliege im Bernstein:

Aus der Mördergrube unter den Buchenwipfeln tönt uns Villons heisere, schneidende Stimme entgegen, und sie klingt anders als die frivole Eleganz der „Dreigroschenoper”, in die einige der Balladen eingegangen sind, die Villon hier dichtete. Die „Ballade vom angenehmen Leben” und der „Salomo‑Song”, die im Stück von Macky Messer und von Jenny gesungen werden, gehören dazu. Macky hat bei Brecht die meisten Villon‑Balladen abbekommen, darunter die, in der er den „Polizistenhunden” Abbitte leistet:

Man schlage ihnen ihre Fressen
mit schweren Eisenhämmern ein.
Im Übrigen will ich vergessen
und bitte sie, mir zu verzeihn.

Das hatte Villon in der kleinen Stadt an der Loire gedichtet, einiges davon wahrscheinlich im Kerker, und als Kassiber herausgeschmuggelt. Dazu könnte auch die Epistel an die Freunde zählen, die bei Brecht Macky Messer vor seiner Hinrichtung singt.

Nun hört die Stimme, die um Mitleid ruft.
Macheath liegt hier nicht unterm Hagedorn …

In Brechts „Dreigroschenoper” ist das eine ironisch verfremdete Opernklage. Macheath und natürlich auch die Zuschauer wissen längst, dass alles gut ausgehen wird. Vor dem Verlies von Meung klingt das Lied anders. Es gab da einen wirklichen Elenden und Verfluchten; die grünen Bäume, die Villon in seinem Gedicht erwähnt, stehen noch, und auch der Marktlärm und das Glockengeläut sind noch da und klingen herüber. So geht sein wirkliches Gedicht in der Übertragung von Martin Remané:

Ich lieg’ gebettet unter Maigrün hier
in diesem Loch, in das mich grausam stieß
Ein Zufall, welchen Gott geschehen ließ.
Ihr Mädchen, Burschen, die ihr liebt und lacht,
Mit Schellen klappert, lärmt bei Tag und Nacht:
Helft, helft Villon, der hier zugrunde geht.

Villon kommt frei; doch ein Jahr später wird er in Paris Opfer eines Komplotts und läuft in eine Falle der Geheimpolizei. Man beschuldigt ihn eines Mordes, den er nicht beging, und erpresst das Geständnis mit der Wasserfolter. Er wird zum Galgen verurteilt. Das Parlament, der oberste Gerichtshof, begnadigt und verbannt ihn auf Lebzeiten aus Paris. Seitdem verwischen sich die Spuren. Der Spötter François Rabelais, sein Nachfahr, berichtet, er sei nach England gegangen und habe dort reuevoll ein frommes Passionsspiel von Christi Leiden und Tod geschrieben und aufgeführt. Ich denke, der Bischof von Meung hat ihn wieder eingefangen und ein zweites Mal in seine Oubliette geworfen. Und erst die Nachwelt hat ihn ein paar Jahrhunderte nach seinem Tode wieder herausgezogen und in den Parnass aufgenommen. Sie ist ja stets die verlässlichste, aber stets verspätete Freundin bedrängter Dichter.