27. Jahrgang | Nummer 5 | 26. Februar 2024

Rechtsruck und Rechtsextremismus

von Ulrich Busch

Jede Woche ziehen in Deutschland Zehntausende durch die Straßen und demonstrieren für den Erhalt der Demokratie und gegen eine Vereinnahmung der Bundesrepublik von rechts. Diese beeindruckende Welle politischer Aktivität darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es gegenwärtig in der Bevölkerung eine große Unzufriedenheit mit der aktuellen Politik, eine Verunsicherung in Bezug auf die Zukunft und so etwas wie politische Orientierungslosigkeit, tiefe Enttäuschung und Politikverdrossenheit gibt. Dies hat zweifelsohne dazu beigetragen, dass sich in Deutschland zuletzt immer mehr Menschen von den bestehenden parteipolitischen Strukturen und demokratischen Politikangeboten ab- und rechtspopulistischen bis -radikalen Politikangeboten zugewendet haben.

Hierbei handelt es sich keineswegs nur um ein ostdeutsches Phänomen, auch wenn diese Entwicklung bislang in den ostdeutschen Bundesländern am deutlichsten in Erscheinung trat. Der Rechtsextremismus ist ebenso wenig ein gänzlich neues Phänomen, auch wenn er in den letzten Jahrzehnten zweifellos an Bedeutung gewonnen hat. Vielmehr gilt es zu erkennen, dass es in der Bundesrepublik (und auch einst in der DDR) die gesamte Zeit über, seit 1945, so etwas wie eine rechtskonservative, rechtspopulistische und rechtsradikale Bevölkerungsgruppe und politische Bewegung gegeben hat, die mal stärker, mal weniger stark, mal auffälliger und mal zurückhaltender agiert hat. 1981 gelangte eine westdeutsche Studie zu dem damals überraschenden Ergebnis, dass 13 Prozent der bundesdeutschen Wahlbevölkerung über „ein ideologisch geschlossenes rechtsextremes Weltbild“ verfügten. Inzwischen dürfte der Prozentsatz kaum geringer geworden, sondern eher noch angestiegen sein.

Hinzu kommen jene, die vielleicht kein ideologisch geschlossenes Weltbild besitzen, aber in Teilen ihres Weltverständnisses, zum Beispiel in Bezug auf die Migration, die Sozialpolitik oder die Außenpolitik, durchaus rechtsradikale Ansichten vertreten, so dass heute wahrscheinlich mehr als ein Viertel der bundesdeutschen Wahlbevölkerung dem rechtsradikalen Spektrum zuzurechnen ist.

Berücksichtigt man ferner, dass sich in der Bundesrepublik in den vergangenen Jahren eine beachtliche Verschiebung zwischen den politischen Blöcken von links nach rechts vollzogen hat, so wird klar, dass wir uns derzeit politisch und ideologisch in einer signifikant anderen Situation befinden als noch vor zehn oder fünfzehn Jahren. Der Druck des rechten Blocks lastet heute spürbar stärker auf den Medien, dem Staat und der Zivilgesellschaft. Dies ist allenthalben spürbar. Die Gefahr, die heute von einer Zunahme des Rechtsextremismus für Staat und Gesellschaft ausgeht, ist vor allem vor diesem, sich gegenüber früher eklatant verändert habenden politisch-ideologischen Hintergrund zu sehen!

Wenn sich eine Gesellschaft politisch nach rechts bewegt und dabei zugleich immer stärker polarisiert, wie dies gegenwärtig in Deutschland zu beobachten ist, dann wird es immer wichtiger, rechte Tendenzen, Bewegungen, Strömungen und Ideologeme genau zu bestimmen und sie begrifflich möglichst eindeutig zu fassen. Dabei ist zwischen rechts-konservativ, rechtspopulistisch, neofaschistisch, rassistisch, rechtsextrem und rechtsextremistisch zu unterscheiden.

Für die Einordnung der aktuellen Entwicklung hat sich in Deutschland der Terminus Rechtsextremismus als zentraler forschungsleitender Begriff herauskristallisiert. Anhaltspunkte dafür bieten nicht nur die aktuellen politikwissenschaftlichen Studien, sondern zudem historische und die Bewegungen in anderen Ländern berücksichtigende komparative Analysen.

Eine neue Studie dazu wurde jetzt von der Friedrich-Ebert-Stiftung vorgelegt. Der aktuelle Anlass für die verstärkte wissenschaftliche Beschäftigung mit rechtsextremistischen Vorgängen ist in den bevorstehenden Wahlen in einigen ostdeutschen Bundesländern und den für die Demokratie bedrohlichen Wahlprognosen zu suchen. Ein Blick in die Geschichte zeigt jedoch, dass es sich hierbei um ein Dauerthema handelt, das in der Vergangenheit, vor allem aus politischen Gründen, jedoch unterschätzt und systematisch vernachlässigt worden ist. Man glaubte, die größere Gefahr für die demokratische Grundordnung würde von links ausgehen. Dies hat sich aber als Irrtum erwiesen. Die Gefahren von rechts sind heute weit größer als bisher eingestanden.

Ein Autorenteam hat im Auftrage der Friedrich-Ebert-Stiftung wertvolles historisches Material zum Rechtsextremismus in Deutschland nach 1945 zusammengetragen und es in den Kontext der aktuellen Entwicklung gestellt. Es ist viel Lesbares dabei herausgekommen und manches überraschend Interessante und durchaus Beachtenswerte. Der opulente Sammelband sei vor allem Historikern und Politikwissenschaftlern empfohlen sowie Bibliotheken, die auf aktuelle politische Literatur spezialisiert sind.

 

Claudia Gatzke et al. (Hrsg. für die Friedrich-Ebert-Stiftung): Rechtsextremismus nach 1945. Archiv für Sozialgeschichte, 63. Band, Dietz-Nachf., Bonn 2023, , 656 Seiten, 71,40 Euro.