27. Jahrgang | Nummer 4 | 12. Februar 2024

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „In einem Wedding vor unserer Zeit“ – Gratulation zu 20 Jahren Prime Time Volkstheater / „Die schmutzigen Hände“ – Berliner Ensemble

***

Prime Time Theater: Weltweit am längsten
Es ist wie mit den froh und glücklich machenden Hits der Popmusik: Sie ballern dauerhaft in unseren Ohren und, ja doch, auch in den Herzen. Folglich kocht erinnerungsselig der Saal vom Prime Time Theater bei der Parade der Kultfiguren aus dem nun schon seit zwei Jahrzehnten an diesem Urberliner Volkstheaterhimmel kreisenden Sitcom-Universum „Gutes Wedding, Schlechtes Wedding“.

Also, da ist das Uwele von der Männerstillgruppe zusammen mit dem Tim vom Hebammenkurs, sind die dummfrechen Girls aus der Weddinger Cheerleader-High-School, die schamlosen Prenzlwichser und ohrenbetäubend falsch singenden Friedrichshainis, die gerissene Bürgeramtsleiterin Margot, Dönerprofi Ahmed aus seinem Döner-Diner, Kölsch-Kneipier Dennis, die Baklava-Perle Hülya oder die dem Punk und Gothic-Kult verfallene Sippschaft von Pastor Horwarth aus der Uckermark.

Und immer wieder tobt Oliver Tautorat durch das dem real rauen Großstadtleben abgeschauten und ein bisschen ins Absurde getriebenen Panorama der Figuren, die live oder per eingespielter Videoszenen auftreten. Tautorat als Kalle, der unverwüstliche Postbote mit donnerndem Bass, beträchtlichem Leibesumfang sowie ebensolcher Herzens- und Gemütsweite nebst spezieller Langhaarpracht; genannt Vokuhila. Und natürlich mit dickem Intendanten-Schnauzer (freilich angeklebt).

Tautorat ist der energische Koordinator der äußerst (oder gar nicht so äußerst) realistisch Durchgeknallten. Als Impresario des großen kleinen, einzigartigen Tollhausunternehmens, das mit unerschütterlichem Optimismus so manches existenzielle Tief überwand. Mittlerweile halten Reisebusse selbst aus fernen deutschen Landen vor dem mit den Jahren fein kuschelig und mit ordentlich High-Tech ausgestatteten, obendrein mit Theaterpreisen ausgezeichneten Prime Time am U- und S-Bahnhof Wedding.

Es war am 10. Januar 2004, da ging zum ersten Mal die Theatersitcom „Gutes Wedding, Schlechtes Wedding“ (vulgo GWSW) übers Brettl. Anfangszeit bis heute: 20.15 Uhr, eben Primetime. Inzwischen wurden in den Schreibstuben der Autoren 250 Figuren erfunden und in 150 Stücke gesteckt und mit kabarettistisch-komödiantischer Hochleistungsenergie in der Kultstatus gehoben.

Grund genug zum Feiern mit einer Rückschau-Revue; Script und Regie: Philipp Hardy Lau. Motto: „In einem Wedding vor unserer Zeit“. Eine Anspielung auf den berühmten Kinderfilm der 1980er Jahre („In einem Land vor…“) mit den Dinos Dreihorn, Schwimmer, Dornenschwanz & Fliege (Triceratops, Saurolophus, Stegosaurus, Pteronochon). Dazu hat Oliver Tautorat alias Kalle wie immer auf der Bühne und also auch hier das letzte Wort: „Wir sind allmählich wirklich wie Dinosaurier unserer Zunft. Mit der weltweit am längsten laufenden Theater-Sitcom.“ – Na bitte: weltweit! Noch ein Anlass, den in der Müllerstraße 163 auf der Bühne wie im Saal gemeinsam gepflegten Schlachtruf auszustoßen: „Da freu ick mir!“

 

***

BE: Prinzipientreue oder Prinzipienreiterei
Ein schwarzer Bretterverschlag von Boden bis Himmel. Er dreht sich bedrohlich knarzend, durch Ritzen quillt Nebel, zucken Blitze, brummen düster Töne. Das könnte die Welt bedeuten. Oder Illyrien, der balkanische, faschistisch besetzte Fantasiestaat, vor dessen Grenzen kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs die Sowjets stehen und wo Jean-Paul Sartres Politthriller von 1948 „Die schmutzigen Hände“ spielt.

Dann stürzen die Bretter krachend zusammen. Und auf der leeren Drehscheibe im Weltuntergangslicht windet sich ein armes graues Menschenkind. Es ist Hugo, ein bürgerlicher Jungintellektueller, der, getrieben von schäumendem Gerechtigkeitswahn, überlief zu den Kommunisten im Untergrund. Um dort mitzuwirken an der Verwirklichung seines Traums: die Weltverbesserung. Motto: Nicht nur denken, sondern tun.

Doch Hugo verfing sich heillos im Netz radikal moralischer Prinzipien, revolutionärer Ideale und pragmatisch kommunistischer Machtpolitik. Und machte sich schmutzig.

Durch einen Parteiauftrag mit Pistole. Denn Hugo soll KP-Spitzenfunktionär Hoederer wegen Verrats erschießen. Weil der insgeheim kooperiert mit den politischen Gegnern (Faschisten, Nationalisten), um nach Einmarsch der Sowjets bei vorab ausgekungelter Stimmenmehrheit die Macht ohne kriegerisches Blutvergießen und ohne russische Mitwirkung übernehmen zu können.

Doch Hugo schießt nicht, sondern diskutiert, fühlt sich allzu sehr ein in Hoederers Denken. Erst als der Hugos Weiblein Jessica innig küsst, knallt er ab. Der hehre politische Auftragsmord mutiert zum spießigen Eifersuchtsdrama. Zwei Jahre Knast. Als Hugo rauskommt, hat das Blatt sich gewendet: Die KP herrscht. Und Hoederer ist kein Verräter mehr, sondern gefeierter Märtyrer. Hugo wird als Verbrecher hingerichtet.

Die slowenische Regisseurin Mateja Koleznik fokussierte ihre Inszenierung aufs Duell zwischen Hoederer und Hugo, das zugleich ein psychologisch grundierter philosophischer Diskurs ist. Wann kommt der Punkt, da Umstände zwingen, die eigenen bislang geltenden Prinzipien vernünftigerweise zu verraten? Oder bleibt Verrat ein Tabu? Wann kippt die hochmoralische Prinzipientreue um in bloß dogmatische Prinzipienreiterei? Wie weit sind Gewalt und Widerstand sinnvoll, ab wann ist es der Kompromiss? – Dazu Höderer: „Es gibt nur ein Ziel: die Macht.“ Aber: „Ein Mensch mehr oder weniger auf der Welt, für mich zählt das. Das ist kostbar.“ Deshalb sein Arrangement mit den Feinden.

Aufregende Sache. Wir gehen fragend in uns. Dennoch kommt die Sache nicht derart wuchtig über uns wie das schlagende Bühnensinnbild von Olaf Altmann, vor dessen Bretterverhau dicht an der Rampe sich das Geschehen einem finsteren Gangsterstück gleich abspielt. Die 150 gedruckten Seiten des spannenden Sartre-Scripts wurden auf 50 eingekürzt bei 90 Minuten Spieldauer. Da fehlt manch bedenkenswerte Passage.

Auch bleibt die Zeichnung der Figuren überraschend blass. Hugo (Paul Zichner) als tragische Person wird zum verbiestert wuselnden Rechthaber; die in ihn verknallte Genossin Olga (Pauline Knof) klemmt fest als Parteisoldatin; Hugos Frau Jessica (Lili Epply) spreizt sich als aufreizende Barby, um als kokettes Weibchen – ein fataler Dienst an Hugo – endlich den Mordfall auszulösen. Hoederer (Marc Oliver Schulze) fehlt es an verführerischem, aber auch intellektuellem Charisma. Man gerät aneinander, ohne dass es zum packenden Zusammenprall kommt.

Bemerkenswert immerhin: Die Regie enthält sich jedweder Bezugnahme aufs aktuell brennend Politische. Umso eindringlicher lodert uns die freilich altbekannte Tatsache im Kopf: Der Mensch ist gemacht aus krummem Holz. Wer lebt, kann seine Hände nicht unentwegt hohen Muts in reiner Unschuld waschen. Sie werden schmutzig.