27. Jahrgang | Nummer 4 | 12. Februar 2024

Goethe als Erfinder der Moderne

von Jürgen Stahl

Bevor wir vor einigen Jahren im Weimarer Nationaltheater eine Faust-Aufführung ansahen, hörten wir zur Einführung die Dramaturgin. Verworfen wurde durch sie einmal mehr die wohl von Walter Ulbricht populär gemachte Interpretation der sozialen Vision von Faust am Ende des II. Teils als über den Kapitalismus hinaus auf eine sozialistische Perspektive weisende, als politisches Mitgift einer zum Glück gewandelten Zeit. „Solch ein Gewimmel möcht ich sehn, / Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn!“

Was da im Orkus teleologischer Fehlinterpretationen zu verschwinden habe, tritt jedoch von ganz anderer Seite in differenzierter Analyse des britischen Germanisten Jeremy Adler in dessen fulminanter Goethe-Biografie erneut auf den Plan. Da ist zu lesen, dass Fausts Monolog „zwei entgegengesetzte Deutungen“ zulasse: „eine frühkapitalistische und eine frühsozialistische“. Letztere erinnere an Saint-Simon und Robert Owen, deren Bestrebungen und Theorien Johann Wolfgang Goethe durchaus kannte.

Das ist nur eine Dimension der außerordentlich weit gefächerten Biografie, deren Titel – „Goethe. Die Erfindung der Moderne“ – das bemerkenswerte Programm umreißt: Goethe als ein Beginnender, Anregender, praktisch in alle modernen Kultur- und Wissensbereiche in unsere Gegenwart wirkender „Enzyklopädist“. Auf dem Gebiet der Literatur ist er innovativ als Dichter, Dramatiker, Romancier, Novellist, Essayist, Literaturkritiker, Kunst- und Kulturkritiker, Biograf, autobiografischer Autor, Übersetzer, Herausgeber. Darüber hinaus wirkt er als Naturwissenschaftler (Anatomie, Physiologie, Botanik, Physik, Wetter/Klima, Mineralogie/Geologie, Chemie), Sammler, Künstler, Theaterdirektor/Kultur- und Wissenschaftspolitiker, Beamter, Staatsmann, ja, auch als Philosoph; nicht zu vergessen sein Interesse an diversen Kulturen und geschichtlichen Epochen; sein kulturpolitischer Kosmopolitismus; Goethe als „Mitbegründer“ des aufkommenden Liberalismus, aber ebenso sein Konservatismus, was die Beurteilung revolutionärer sozialer Bewegungen betraf. All das wird im Buch anhand einer ungeheuren Breite an Literatur vorgestellt. Der Anmerkungsapparat umfasst mehr als 200 Seiten – sprich: fast ein Drittel des Buches!

Beispielhaft sei auf die Darstellung der Wirkung der Farbenlehre Goethes verwiesen. Sie wird vor allem aus der Sicht der Inspiration für die Malerei des 19. und 20. Jahrhunderts – bis hin zu Klee, Kandinsky oder Turner – verfolgt. Angeführt werden aber auch die Bekenntnisse zu Goethe von Physikern wie Helmholtz, Schrödinger, Heisenberg, Feigenbaum und Feymann. Natürlich, wer etwa „Goethe und die Naturwissenschaften“ von Otto Krätz (1992/1998) wahrgenommen hat, dem sind diese Dinge nicht fremd. Doch was diese Biografie auszeichnet, ist die über die Darstellung der Bezüge zu den Naturwissenschaften oder anderer einzelner Gebiete hinausgehende Vorstellung des Wirkens Goethes in ihrer Breite und Tiefe.

Adlers Resümee lautet: „Im Rückblick scheint es, als hätte er sämtliche Fachgebiete beherrschen wollen – außer der Mathematik“, in „allen suchte er nach Perfektion.“ Und immer wieder hebt er Goethes „ganzheitliche“, in Bezug auf die Naturwissenschaft „organische“ Sichtweise heraus. Paul Valérys Charakterisierung Goethes als ein „Proteus“, als ein „Genie der Verwandlung“, charakterisiert „durch seine zahlreichen Widersprüche“, wird bei der Lektüre dieses Werkes nachvollziehbar.

Das Urteil, Goethe als „Vorkämpfer der Moderne“, mag man teilen, auch wenn mir manche der angeführten Urteile und Belege zuweilen etwas weit greifen. So etwa, wenn der Autor meint, dass dessen Theorie „die Genetik vorweg“ nimmt. Hier stellt sich die Frage nach dem Paradigma zur Unterscheidung von „Vorwegnahme“ oder dem Entwerfen eines „Ansatzes“, der dann eine weitere Entwicklung in der jeweiligen Wissenschaft findet. Ähnlich die Wertung, dass Goethes Position, „die herrschende Sicht des physikalischen Universums auf den Kopf zu stellen und beim Beobachter zu beginnen“, für Einstein als Vorbild fungierte, daher gleichsam „als Ursprung der speziellen Relativitätstheorie“ gelten könne.

Für mich sehr erhellend das Kapitel, in dem die Motivik des Faust-Dramas in seiner politischen Rezeption über Joseph Conrad, Léon Blum, Karl Kraus, Jean-Paul Sartre, Thomas Mann bis hin zu Michail Bulgakows „Der Meister und Margarita“ und dessen darüber vermittelte Aufnahme im Song „Sympathy for the Devil“ der Rolling Stones aufgezeigt wird.

Was ich nicht zu teilen vermag, sind die pejorativ beurteilten Bezüge zu Johann Gottlieb Fichtes Ideenwelt. Hier bietet die neuere Fichte-Forschung differenzierte Wertungen, etwa hinsichtlich dessen Kosmopolitismus, seiner geschichtsphilosophischen und kulturpolitischen Ideen, die eben nicht der politischen Romantik zuzuordnen sind und sich der völkischen Inanspruchnahme durchaus zu entziehen vermögen.

Im umfangreichen Kapitel „Der globale Roman“, der sich „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ widmet, wird dieses Werk als eine „Vorwegnahme“ der Moderne ausgewiesen, indem es konventionelle Formen durchbricht. Mit seiner nicht durch eine Handlung als vielmehr durch „diverse Novellen und Aphorismen und Passagen über die Erziehung und die industrielle Revolution“ sowie durch „Dialoge und Apophthegmata“ charakterisierten Erzählweise, wird es „zu einer Art Weisheitsliteratur“, basierend auf der Technik der Montage, die ein Jahrhundert später im „Ulysses“ von James Joyce und im „Die Schlafwandler“ von Hermann Broch zum Tragen kommt.

Zu bemerken ist hier die interessante Analyse der ökonomischen Vorstellungen Goethes durch den Autor, der sich nicht scheut, auch Bezüge zu den Frühsozialisten und zu Karl Marx aufzuzeigen. Einmal mehr die meines Erachtens doch sehr weit gehende und den einschlägigen Forschungen zur Geschichte der ökonomischen Ideen kaum gerecht werdende Wertung, dass Goethe „als der Urheber der Idee des evolutionären Wandels der Technologie“, mehr noch, „auch des Gedankens der sozialen ‚Einbettung‘ der Ökonomie angesehen werden“ muss.

Ebenso bemerkenswert beim Thema „Wilhelm Meister“ (aber nicht nur bei diesem Kapitel), dass die Literatur der DDR – ich denke da an Annaliese Klingenbergs Arbeit über die „Wanderjahre“ neben diversen Dissertationen, aber auch andere Germanisten wie Gerhard Scholz mit seinen „Faust-Gesprächen“, Karl-Heinz Hahn oder Hans-Dietrich Dahnke – keine Beachtung findet. Einzig Sigrid Damm wird als Autorin mit einstiger DDR-Provenienz angeführt.

Fazit I: Diese Biografie ist zweifellos nicht nur ein monumentales Werk, sie ist ein Meilenstein in der Biografik durch die Weise, wie Goethe im Denken seiner Zeit verortet und in seiner Wirkung auf unsere heutige Kultur vorgestellt wird.

Fazit II: Wenn ich Deutschlehrer wäre und Faust zu behandeln hätte, würde ich mit den Stones (ja, laut und kräftig!) beginnen und dann nach und nach mit den Schülern zu den Wurzeln bei Goethe vordringen.

Jeremy Adler: Goethe. Die Erfindung der Moderne. Eine Biographie. C.H. Beck, München 2022, 655 Seiten, 34,00 Euro.