Es gibt zwei Hauptmotive, die Gesellschaften veranlassen, Bauwerke in quantitativen Formaten aus dem Boden zu stampfen, die an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gehen: die Großmannssucht ihrer Herrscher und Wohnungsnot, die eine systemgefährdende soziale Sprengkraft zu entfalten droht. Kommt beides zu ökonomisch ungünstigen Zeiten zusammen, droht eine Implosion des politischen Systems. Genau das widerfuhr der Deutschen Demokratischen Republik in den 1980er-Jahren. Dennoch vollbrachte dieses Land Bauleistungen, die noch heute Bestand haben und durchaus zur Identitätsfindung der um sie herum oder gar in ihnen wohnenden Menschen beitragen. Trotz reger Bemühungen konnte nicht alles abgerissen werden. Allerdings wird heute vieles auf eine derart erbärmliche Weise verhunzt, dass man beinahe Mitleid mit dem Geisteszustand der dafür Verantwortlichen empfinden könnte.
Wer nicht versteht, was ich meine, sollte sich einfach nur das ehemalige Stadtzentrum der DDR-Hauptstadt ansehen – oder, schlimmer noch, den städtebaulichen Nukleus der Großsiedlung Marzahn zwischen dem Helene-Weigel-Platz und der südlichen Marchwitzastraße.
Auch der Berliner Stadtbezirk Marzahn-Hellersdorf entstand de facto aus der Not heraus, der Wohnungsnot natürlich. Wohnungsnot gab es in Berlin schon immer. Heinrich Zille fand seine Zeichnungen überhaupt nicht lustig. Aber dann kam der Krieg. An dessen Ende waren von den rund 1,6 Millionen Wohnungen in der Stadt 500.000 vollkommen zerstört und 100.000 schwer beschädigt. In den Bezirken Mitte und Tiergarten betraf es die Hälfte allen Wohnraums! Es musste also gebaut werden, und es wurde gebaut. Im Westen wie im Osten. Es waren teils spannende Projekte, für die seit Jahren der Eintrag in die UNESCO-Weltkulturerbeliste versucht wird.
Aber das reichte alles hinten und vorne nicht. Das war der Grund, weshalb im März 1973 das SED-Politbüro beschloss, am Ostrand der Stadt, in Biesdorf-Nord, bis Ende der 1980er-Jahre 35.000 Wohnungen in einem neuen Stadtbezirk zu bauen. Daraus wurde dann Berlin-Marzahn, und es wurden bis Ende 1989 59.643 Wohnungen. Dazu kam – es stellte sich schnell heraus, auch „Biesdorf-Nord“ wird nicht reichen – ebenfalls bis Ende 1989 Hellersdorf mit 42.804 Wohnungen. Rechnet man die rund 30.000 Wohnungen dazu, die in Neu-Hohenschönhausen ab 1983 errichtet wurden, kommt man auf einen Gesamtbestand dieser de facto zusammenhängenden Großsiedlungsstruktur von gut 123.500 Wohnungen. Um es fassbar zu machen: Der Berliner Senat geht in seinem aktuellen „Stadtentwicklungsplan Wohnen“ von 137.000 Wohnungen aus, die in der Hauptstadt akut fehlen – und kultiviert die Idee einer Lückenbebauung, gerne auch mit Eigentumswohnungen. In der Mieterstadt Berlin! In Berlin müssten Marzahn, Hellersdorf und Hohenschönhausen komplett mit dem DDR-Bestand noch einmal gebaut werden – und es reichte immer noch nicht … Die Berliner Landespolitiker haben das Problem nicht verstanden.
Entgegen landläufiger Meinung wurden diese Siedlungen nun nicht auf die grüne Wiese gewürfelt. Seit 1974 gab es für Marzahn eine unter der Leitung des Ostberliner Chefarchitekten Roland Korn erarbeitete, allerdings häufiger „angepasste“ Bebauungskonzeption. Es existierte sogar eine von Künstlern erarbeitete „Rahmenkonzeption zur künstlerisch-ästhetischen Umweltgestaltung“, die – deutschlandweit einmalig! – zu großen Teilen umgesetzt wurde. Für die Weiterführung der Planungen war als Hauptarchitekt und Leiter der städtebaulichen Projektierung von 1976 bis 1988 Heinz Graffunder zuständig. Graffunder hatte mit seinem Kollektiv bereits den Palast der Republik – binnen dreier Jahre! – gebaut. Zu seinen Leuten gehörte der 1943 in Plauen geborene Architekt Wolf R. Eisentraut, der, erst 29 Jahre alt, die zentrale Achse dieses Jahrhundertbaus, nämlich das Hauptfoyer, die Eingangs- und Garderobenhalle, die Bankettetagen und das Theater im Palast („TiP“) verantwortete. Nach Abschluss dieser Arbeiten entwarf er den Bau der Körperbehindertenschule nebst Internat in Berlin-Lichtenberg, den ersten terrassierten „Plattenbau“ der DDR-Hauptstadt mit einem für die 1970er-Jahre geradezu sensationellem „inklusionsgerechten“ Konzept, das auch heutigen Ansprüchen standhält. Eisentraut bezeichnet dieses Projekt als den Beginn seines über ein Jahrzehnt andauernden Kampfes gegen die Typenbauten, eben jene „Scheibenbauweise in leerer Landschaft“, wie er sein Anliegen in einem Ausstellungsgespräch am 24. Januar 2024 in Marzahn auf den Punkt brachte.
Es war geradezu zwangsläufig, dass Graffunder ihn mit der Ausführung der sogenannten „gesellschaftlichen Zentren“ der neuen Stadt betraute. Heinz Graffunder wußte, was er an ihm hatte. Der Stadtbaudirektor und stellvertretende OB Günter Peters aber auch. Aus dieser Konstellation entwickelte sich das wohl spannendste Stadtentwicklungskonzept in ganz Deutschland zwischen 1945 bis 1990. Wann erhält man schon einmal die Gelegenheit, eine ganz Stadt neu zu bauen?
Wolf R. Eisentraut – seit langem ein überaus streitbarer Kämpfer für den Erhalt und die behutsame Anpassung an heutige Bedürfnisse der Bauten der Ost-Moderne – hat jetzt ein Buch vorgelegt, in dem er die Bilanz seines Architektenlebens aufblättert. Die Kämpfe um die Durchsetzung seiner Entwürfe – und der seines Kollektivs – werden detailliert und materialreich geschildert. Er hat auch so manche Anekdote aufgenommen, die deutlich macht, dass es in der DDR jenseits der Hürde von Parteibeschlüssen Bewegungsspielräume für kreative Menschen mit Durchsetzungsvermögen gab. Das betrifft zum Beispiel den Kampf um die Marzahner Promenade und das Zentrum Berlin-Marzahn. Den haben er und sein Team siegreich überstanden. In einer aktuellen Veröffentlichung des Marzahn-Hellersdorfer Heimatvereins spricht er von einem „Drama in vier Akten“. Wie auch immer: das Zentrum wurde gebaut, aber in die Promenadenplanung grätschte das Wohnungsbaukombinat Berlin rein. Entsprechend sieht das auch heute noch aus. Der Abschluss mit dem Kulturhaus gelang. Allerdings wurde das erst nach 1990 endgültig fertig – und da begann schon das Gerangel um „Standardabsenkungen“ und „Umnutzungen“, die die Funktionalität des Hauses bis heute einschränken. Ich erinnere mich noch gut an eine Begehung um das Jahr 2000 herum, in der Eisentraut seine Sanierungspläne vorstellte. Man wollte das nicht hören, aber Gott sei Dank gibt es auch für Architekten die Urheberrechtskarte … Das Haus sollte eigentlich auch weg. Einige Wirrnisse um dessen Erbauung greift Peter Kahane auf für das Sujet seines Films „Die Architekten“ (1990). Eisentraut nimmt ihm diesen Film noch immer übel. Gut, einerseits unterliegt er dem Irrtum, mit der Hauptfigur Daniel Brenner sei er gemeint, anderseits sind die Bezüge zu seinem Bau an der Marzahner Promenade überdeutlich. Das Haus steht jedenfalls noch. Selbst die Schwimmhalle konnte gerettet werden.
Im Komprimat werden im Buch die Verluste aufgelistet, die der Bezirk und sein Architekt durch ideologiebedingten und von Dummheit gesteuerten Abriss erlitten haben: komplett die Ringkolonnaden an der Mehrower Allee, das Kaufhaus Helene-Weigel-Platz (jetzt soll mal wieder was Neues hin, was das Ensemble wohl endgütig ruinieren wird). Dazu alle Klubgaststätten des Bezirkes, von denen jede ein unverwechselbares Gesicht hatte. Das Ensemble am Marzahner Tor – der Eingangsbereich zur Marzahner Promenade mit Kaufhaus, Post, Dienstleistungsgebäuden und Staatsbank verschwand komplett. Besonders schmerzlich ist der Verlust der „Galerie M“, neben der Kunsthalle in Rostock der einzige Galerieneubau der DDR. Der Besitzer der Immobilie, die landeseigene DEGEWO, hatte sich strikt geweigert, das undichte Dach zu reparieren. Lieber ließ er den Bagger sprechen.
Zur Vervollständigung muss man noch die Lichtenberger „Seetrassen“ am Fennpfuhl und das „Friedrichsfelder Eck“ an der B1/B5 erwähnen.
Allerdings gelang es, „sein“ Rathaus am Helene-Weigel-Platz zu erhalten. Es steht seit 2008 unter Denkmalschutz. Der wird nun von engstirnigen Denkmalschutzbeamten benutzt, um die Wiedereröffnung des „Ratskellers“ zu verhindern, an dessen Wänden und Säulen Eisentraut zauberhafte Keramiken von Peter Makolies angebracht hatte.
1993 legte Wolf R. Eisentraut ein städtebauliches Entwicklungskonzept für Marzahn vor, er wollte in der seinerzeitigen Stadtplanung begangene Fehler behutsam korrigieren. Natürlich wischte der Senatsbaudirektor Hans Stimmann – ein selten reaktionärer Mensch – auch das vom Tisch. Weshalb Eisentraut in seinem Buch feststellt, dass in der Perspektive denn doch Einiges realisiert wurde, ist eigentlich nur das berühmte Pfeifen im Walde.
Man kann das alles in seinem großartigen Buch nachlesen. Und sinnlich erfahrbar in einer spannenden Ausstellung im Bezirksmuseum Marzahn-Hellersdorf nacherleben. Das Modell des Freizeitforums, das fehlt allerdings. Schade. Dafür steht dort sein Entwurfsmodell für die „Helle Mitte“ in Hellersdorf. Heute stößt man an diesem Ort auf eine gruselige Ecke. Aber darauf kommen wir noch zurück.
Wolf R. Eisentraut: Zweifach war des Bauens Lust. Architektur. Leben. Gesellschaft, Lukas Verlag, Berlin 2023, 384 Seiten, 40,00 Euro.
Bezirksmuseum Marzahn-Hellersdorf: Zweifach war des Bauens Lust. Der Architekt Wolf R. Eisentraut, 12685 Berlin, Alt-Marzahn 51 (Haus 1), bei freiem Eintritt bis zum 3. November 2024 Montag bis Freitag 10.00 Uhr bis 18.00 Uhr sowie am ersten Sonntag im Monat 11.00 Uhr bis 17.00 Uhr.
Schlagwörter: Architektur, Heinz Graffunder, Marzahn-Hellersdorf, Marzahner Promenade, Palast der Republik, Wolf R. Eisentraut, Wolfgang Brauer