27. Jahrgang | Nummer 2 | 15. Januar 2024

Vom Wagemut in schlimmen Zeiten

von Wolfgang Brauer

Die Berliner Kunsthistorikerin Anita Beloubek-Hammer gehört zu den profiliertesten Kennerinnen der Vorkriegs-Moderne in Deutschland. Seit 1982 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin der Staatlichen Museen zu Berlin und arbeitete bis 1995 an der Alten Nationalgalerie. Dann wechselte sie zum Kupferstichkabinett und war dort bis 2015 als Kuratorin tätig. Bei ihrer Arbeit stieß sie immer wieder auf die Spuren der NS-Aktion „Entartete Kunst“ vom Sommer 1937, die in die Sammlung des Kupferstichkabinetts tiefe Wunden riss. Insgesamt gingen dem Kuperstichkabinett rund 824 Arbeiten verloren, 1073 „entartete“ Werke blieben allerdings auf wundersame Weise erhalten, teilweise tauchten sie nach 1945 an unvermuteten Stellen wieder auf.

Hinter dieser bislang kaum bekannten Rettung der nach dem Willen der NS-Kulturpolitik eigentlich aus dem Bestand zu tilgenden Werke stand der seinerzeitige Kustos des Kupferstichkabinetts Willy Kurth (1881-1963). Die Autorin wollte nach eigenem Bekenntnis eigentlich „nur“ eine Biographie Kurths schreiben, aber der wahrlich atemberaubende Stoff erzwang wohl das jetzt im Lukas Verlag vorliegende monumentale Opus. Um es gleich zu sagen, ich bin dankbar, dass Anita Beloubek-Hammer sich zu dieser Erweiterung ihres ursprünglichen Schreibplanes hat hinreißen lassen.

Natürlich liefert sie eine recht umfangreiche Biografie des Kunsthistorikers Kurth, vor allem mit dem Schwerpunkt seiner Arbeit als Kustos der „Neuen Abteilung“ im Berliner Kupferstichkabinett zwischen 1924 und 1933. Dieses Kapitel bietet einen interessanten Einblick in das Werden einer der herausragendsten Sammlungen moderner – nicht nur deutscher! – Grafik in einem deutschen Museum. Willy Kurth kaufte für das Kupferstichkabinett mit großem Stilbewusstsein, wie die Autorin schreibt, Werke der Moderne auf. Seine Vorliebe galt den Expressionisten; er erwarb politisch engagierte Kunst (George Grosz, Otto Dix, Käthe Kollwitz), aber auch abstrakte bzw. stark abstrahierende Arbeiten. Sein Sammlungskonzept war, wie Anita Beloubek-Hammer meint, „auf das Ganze gerichtet“.

Damit musste er nach dem 30. Januar 1933 in die unmittelbare Konfrontation mit den NS-Banausen geraten. Auch die Staatlichen Museen in Berlin vollzogen einen Kurswechsel in Form von Personalaustausch. Generaldirektor wurde 1933 der bekennende Nationalsozialist Otto Kümmel – zweifellos als Fachmann für ostasiatische Kunst eine Koryphäe ersten Ranges, dennoch war er einer der Strippenzieher der Kunstraubzüge der Nazis durch die im Krieg besetzten Länder Europas. Als Direktor des Kupferstichkabinetts wurde Kurth 1933 der den Nazis zumindest nach außen hin zutiefts willfährige Friedrich Winkler vor die Nase gesetzt. Dem waren sowohl die künstlerische Moderne als auch sein Kustos Willy Kurth – in dem er nicht zu Unrecht den fachlich versierten Konkurrenten witterte – ein Dorn im Auge. Anita Beloubek-Hammer schildert eindrucksvoll die unheilvollen Verquickungen von persönlichen Ambitionen mittelmäßiger Persönlichkeiten und den ideologischen Prämissen der NS-Größen, ohne die die nationalsozialistische Politik wohl nicht diese Durchschlagskraft erzielt hätte, die sie so verheerend auch im Inneren machte. Für die Museen galt offenbar auch, was Ernst Klee einmal anläßlich seiner „Euthanasie“-Forschungen feststellte: Nicht die Nazis brauchten die Ärzte, die Ärzte brauchten die Nazis …

Dass man mit entsprechender Zivilcourage sich manchen Zumutungen durchaus erfolgreich widersetzen konnte, macht die Autorin am Wirken Willy Kurths deutlich. Kurth nahm als einziger Vertreter der Staatlichen Museen 1935 am Begräbnis Max Liebermanns teil. Unter Ausbootung seines Chefs Winkler, aber in Zusammenwirken mit dem Nationalgalerie-Direktor Eberhard Hanfstaengl, gelang es ihm bis 1937, etliche Arbeiten der verfemten Moderne für das Kupferstichkabinett anzukaufen. Hanfstaengl verweigerte im Sommer 1937 sein Mittun an der Plünderung seiner Sammlung – und wurde entlassen. Auch dass Willy Kurth noch im September 1937 für mehrere Tage den seit 1917 in der Schweiz lebenden ehemaligen „Brücke“-Künstler Ernst Ludwig Kirchner aufsuchte, Beloubek-Hammer widmet der sehr ambivalenten Beziehung Kurth-Kirchner ein ausfühliches Kapitel ihres Bande, kann nur als Akt tätigen Widerstandes gegen die NS-Kunstpolitik verstanden werden.

Die Autorin zitiert in diesen Zusammenhängen den seinerzeitigen Volontär Wolfgang Schöne – dem die Rettung von Kirchners „Rheinbrücke in Köln“ (1914) vor der Beschlagnahmung zu danken ist –: „Es gibt nur ganz wenige, die fest stehen, und auf die man sich verlassen kann. Zu ihnen gehört Hanfstaengl in absolutem Sinne, dann Professor Kurth vomKupferstichkabinett.“ Schöne war es auch, der Willy Kurth zum Beispiel beim Austausch gefährdeter bedeutender Arbeiten gegen Doubletten oder minderwertigerer Blätter zur Hand ging. Die Schilderung der Aktion „Entartete Kunst“, die im Berliner Kupferstichkabinett – wie in der Nationalgalerie auch, übrigens exekutiert von denselben Leuten – in zwei Schritten erfolgte (am 7. Juli und am 14. und 16. August 1937) und der Versuch, diesen beabsichtigten Kahlschlag wirksam zu unterlaufen, stehen im Zentrum dieses äußerst materialreichen Bandes. Und spätestens nach den heftigen politischen Auseinandersetzungen um Kirchners Gemälde „Berliner Straßenszene. 1913“, das 2006 aus dem Berliner Brücke-Museum an die Erbin des jüdischen Kunstsammlers Alfred Hess restituiert wurde, sind provenienzgeschichtliche Befunde gleichsam offene Wunden der deutschen Kulturpolitik. Die Autorin versucht mit großer Gründlichkeit, das Schicksal der aus dem Kupferstichkabinett entfernten Arbeiten aufzudecken.

Anita Beloubek-Hammer lässt immer wieder die Quellen sprechen. Aufschlussreiche Zeitzeugenaussagen, eine umfängliche Chronologie der Ereignisse und eine für sich selbst sprechende Auswahl von WillyKurth geretteter grafischer Arbeiten der Moderne des Berliner Kupferstichkabinetts – in vorzüglicher Druckqualität! – ergänzen ihre Darstellung. Von Jürgen Becker stammt ein in das Buch aufgenommener Aufsatz über das Wirken Willy Kurths nach 1945. Er war bis zu seinem Tod ein hoch geachteter Kunstgeschichtslehrer an der Humboldt-Universität und wirkte zugleich als Direktor – später Generaldirektor – der Staatlichen Schlösser und Gärten Potsdam-Sanssouci. Angesichts der Begehrlichkeiten der neuen Machthaber in der DDR auf die Potsdamer Schlösser – viele werden sich noch daran erinnern, dass bespielsweise ausgerechnet im Marmorpalais des Neuen Gartens das Armeemuseum der DDR implantiert war – gehört es zu den bemerkenswerten Lebensleistungen Kurths, das Gesamtensemble der Schlösser und Gärten bewahrt zu haben.

Alles in allem hat Anita Beloubek-Hammer einen äußerst materialreichen Band vorgelegt, den ich allen an der Kunst- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts Interessierten ans Herz legen möchte. Dass der tapfere und verdienstvolle Willy Kurth damit zugleich eine längst überfällige Würdigung erfährt, ist mehr als dankenswert! Kurth selbst hatte auch nach dem Krieg nie über seine Rettungstat gesprochen. Das Kupferstichkabinett zeigt – quasi als „Begleitausstellung“ zum vorliegenden Band – vom 2. Februar bis zum 21. April 2024 „Die gerettete Moderne. Meisterwerke von Kirchner bis Picasso“. Hingehen! Es lohnt sich …

Anita Beloubek-Hammer: Die Aktion „Entartete Kunst“ 1937 im Berliner Kupferstichkabinett. Kustos Willy Kurth rettet Meisterblätter der Moderne, Lukas Verlag, Berlin 2023, 409 Seiten, 40,00 Euro.