27. Jahrgang | Nummer 1 | 1. Januar 2024

Akustische Körperverletzung

von Ulrich Busch

Für Menschen mit feinem Gehör und sensibler Seele waren Krach und Lärm immer schon Qual und Folter, eine physische und psychische Belastung, und daher nur sehr schwer zu ertragen. Es sei hier an den Philosophen Arthur Schopenhauer erinnert, der sich seinerzeit über das laute, „hirnzerschneidende und gedankenmörderische Peitschenklatschen“ auf den Straßen Frankfurts maßlos aufgeregt hat. Er empfand das „plötzliche Knallen“ als infam, barbarisch, das Denken störend und der Gesundheit abträglich und wollte es daher unter Strafe stellen und verbieten lassen. Vergeblich, wie man weiß.

Mit der Industrialisierung und der Zunahme des Verkehrs auf den Straßen, Schienen, Flüssen sowie in der Luft hat die „Verlärmung“ noch erheblich zugenommen. Und dies keineswegs nur durch den Arbeitslärm und die Industrie, sondern durch die Urbanisierung des Lebens überhaupt, durch die Technisierung der Haus- und Gartenarbeit sowie durch Formen lautstarker Unterhaltung in der Freizeit. Nur, dass wir heute in „eingeübter Dumpfheit“ geschehen lassen (Tilman Vogt), was empfindsamen Menschen früherer Zeiten ein unerträglicher und deshalb polizeilich oder gerichtlich zu ahnender Skandal gewesen ist.

Angesichts der Tatsache, dass sich „die Übermacht der Beschallung zwischen Laubbläser und Supermarktradio“ zuletzt weiter verstärkt hat und mit dieser das Leid der Betroffenen, scheint, so Vogt, „ein Antidot für das tägliche Abwehrgefecht in handlicher Form“ angebracht. Ein solches „Gegengift“ im Kampf gegen den alltäglichen akustischen Terror stellt Theodor Lessings kleine Kampfschrift „Der Lärm“ aus dem Jahre 1908 dar. Das kürzlich wiederentdeckte Werk liegt hier in einer von Tilman Vogt besorgten und durch zwei Essays von Magnus Klaue und Jan Thiessen ergänzten Ausgabe der Friedenauer Presse vor.

Es ist erstaunlich, darin zu lesen, dass es in Deutschland bereits im Jahr 1908 eine organisierte „Anti-Lärm-Bewegung“ gab, dass von deren Vertretern vehement ein „Recht auf Stille“ eingefordert und dieses dann, zumindest teilweise, juristisch auch durchgesetzt wurde. Die systematische Darstellung dieses Sachverhalts ist aber nur eine Dimension des Buches. Eine andere betrifft die philosophische Erklärung des Lärms als Konsequenz des immerwährenden Ringens und Konflikts zwischen „Geist“ und „Leben“. Obwohl Lessing als empfindsamer Intellektueller eindeutig zu den durch übermäßigen Lärm Geschädigten und damit zu den Leidtragenden einer verlärmten Gesellschaft gehört hat, bringt er ein gewisses Verständnis für den Lärm als impulsiver Lebensäußerung auf. Er wertet ihn (in Anlehnung an Schopenhauer und Nietzsche) als Ausdruck des Ressentiments derjenigen, die mit den Händen und nicht mit dem Kopf arbeiten, quasi als eine Art „Rache“ des einfachen Volkes an den Privilegierten.

Gleichzeitig verortet Lessing den Lärm in der Industriegesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts sowie in der modernen Zivilisation. Kulturell ist hieran bemerkenswert, dass er den Lärm unter anderem als „Karikatur der Musik“ begreift und damit nebenbei einräumt, dass es bei musikalisch ungebildeten Menschen „ein legitimes Bedürfnis“ nach Lärm, ein Lärmbedürfnis, gibt. Dieses ist allerdings ein Bedürfnis „in primitiver, ausartender Form, die sich anschickt, Kultur in einem Aggressionsakt zu zerstören“. Daher Lessings mahnende Worte: „Mein Buch soll Signal werden zu einem allgemeinen Kampf gegen das Übermaß von Geräusch im gegenwärtigen Leben.“

Der Philosoph Theodor Lessing war ein streitbarer und äußerst produktiver Publizist. Seine „Lebenserinnerungen“, post mortem 1935 erschienen, gehören zu den lesenswertesten Autobiografien jener Zeit. Das Buch „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“ (1919) gilt als sein geschichtsphilosophisches Hauptwerk. Es wird bis heute rezipiert. Bekannt wurde er auch mit seinen Arbeiten über Friedrich Nietzsche (1925) sowie mit Schriften wie „Die verfluchte Kultur“ (1921) und „Der jüdische Selbsthaß“ (1930).

Die Kampfschrift „Der Lärm“ passt in diese Reihe. Denn ihr Anspruch geht über den einer bloßen Klage, eines „kulturphilosophischen Lamentos“, durchaus hinaus. Der Autor will seine Schrift als Beitrag zu einer umfassenden philosophischen Theorie, einer „Dialektik der Unruhe“, verstanden wissen. Hieraus erklären sich auch der weit ausholende Gestus und der Stil dieser Arbeit. „Lärm“ wird von Lessing als „das primitivste und plumpeste, zugleich aber das allgemeinste und verbreitetste Mittel der Bewusstseinssteuerung“ definiert. Es ist für ihn also mehr als Ruhestörung. Lärm ist „ursprünglich nur verfeinertes Faustrecht und die Rache, die der mit den Händen arbeitende Teil der Gesellschaft an dem mit dem Kopfe arbeitenden nimmt, dafür dass er ihm Gesetze gibt“. Der Lärm erscheint mithin als eine Art „natürlicher Lebenswaffe“ des Volkes, deren Gebrauch mittels des Rechts Einhalt geboten werden muss.

Letztlich aber, so Lessing, sei dem Lärm durch die Jurisdiktion schlechterdings nicht beizukommen. Obwohl Lärm eine gesundheitliche Schädigung der Mitmenschen verursacht, also eine Form „grober Körperverletzung“ ist, erweist sich das Recht bei seiner Bekämpfung als wenig wirksam. Lessing dekliniert anhand der bestehenden Gesetze und Rechtsnormen die diesbezüglichen Möglichkeiten durch und stößt dabei auf ungenaue Begriffsbestimmungen, unklare Auslegungen und eine systematische Verharmlosung der Folgen der Verlärmung unserer Welt. Er resümiert schließlich resignierend: „Die nackte Wahrheit ist unsere absolute Ohnmacht und Schutzlosigkeit gegen den Lärm.“

In dem ersten der beiden der Lessing‘schen Schrift angefügten Essays untersucht der Literaturkritiker und Germanist Magnus Klaue Lessings Ansatz als Ausdruck „psychophysiologischer Zeitdiagnostik“. Im zweiten Essay kommentiert der Jurist Jan Thiessen Lessings Schrift in einem rechtshistorischen Kontext. Beide Aufsätze tragen dazu bei, Lessings Text als Beispiel für das mutige Eintreten des Autors gegen „akustische Umweltverschmutzung“ zu verstehen. Zugleich aber zeigt Lessings Arbeit, dass wir im Kampf gegen die Verlärmung heute keinen Schritt weiter sind. Insofern ist die Kampfschrift aus dem Jahre 1908 durchaus zeitgemäß und von hoher Aktualität.

 

Theodor Lessing: Der Lärm. Eine Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens (Hrsg. und Geleitwort: Tilman Vogt; mit Essays von Magnus Klaue und Jan Thiessen), Friedenauer Presse, Berlin 2023, 228 Seiten, 24,00 Euro.