26. Jahrgang | Nummer 26 | 18. Dezember 2023

Ein aus Sachsen kommender Gymnasiast in Westberlin

von Jürgen Hauschke

Besprochen wird der jüngste Roman von Christoph Hein, der von mir gar nicht als ein Roman gelesen wurde – „Unterm Staub der Zeit“.

Vorweg eine größere Anmerkung: Büchern von Christoph Hein folge ich seit Jahrzehnten. Das erste Buch, was mich tief beeindruckte, war „Der fremde Freund“ im Jahr 1982 (in Westdeutschland 1983 unter dem Titel „Drachenblut“). Diese Novelle konnte erst nach mehreren Verzögerungen in der DDR erscheinen. Die Ich-Erzählerin Claudia, eine alleinstehende Ärztin, provozierte kontroverse Diskussionen in der Leserschaft. Die distanziert und gefühlskalt wirkende Hauptfigur, erscheint völlig entfremdet von ihrer privaten, beruflichen und gesellschaftlichen Umwelt. Ihr mehrfach wiederholter, beschwörend wirkender Satz, „Es geht mir gut.“, verweist nur auf ihre Lebensdefizite. Als Leser diskutierten wir damals, wo denn die Novelle spiele, in der Gegenwart von Ost- oder Westdeutschland? Die Ortsangaben wurden vom Autor bewußt in der Schwebe gehalten. Andere Bücher folgten, meist Romane, die mich als Leser bewegten: „Horns Ende“ (1985), „Der Tangospieler“ (1989), „Willenbrock“ (2000), „Landnahme“ (2004), „Trutz“ (2017) und „Guldenberg“ (2021). Das ist eine sehr persönliche Auswahl. Ausgelassen sei Heins Werk als erfolgreicher Autor von Theaterstücken und Hörspielen.

Was ebenso an diesem Autor beeindruckt – in der Vergangenheit wie in der Gegenwart – sind seine immer wieder scharf beobachtenden kritischen Äußerungen zu Literatur und Gesellschaft: „Öffentlich arbeiten“ (1987) bis zu „Gegenlauschangriff“ (2019). Hinter vorgehaltener Hand verbreitet wurde seine mutige Rede auf dem X. Schriftstellerkongress der DDR (1987) gegen die offiziell gar nicht existierende Zensur, sie sei nutzlos, überlebt, willkürlich und ungesetzlich. Viele Interviews in Zeitungen bis in die jüngste Gegenwart hinein zeigen einen politisch links orientierten, intensiv engagierten Autor. Soweit die Vorbemerkung.

Ich-Erzähler ist der zu Beginn der Romanhandlung vierzehnjährige Daniel. Es ist Ende August 1958, die Handlung beginnt auf dem Weg in ein kirchliches Internat im Westberliner Stadtteil Grunewald. Zum Ende ist Daniel achtzehn Jahre alt. Er ist Buchhändlerlehrling in Ostberlin und das Jahr 1962 geht zur Neige. Daniel kommt aus der fiktiven sächsischen Kleinstadt Guldenberg, die bereits in mehreren Romanen Heins ein Schauplatz des Geschehens war. Als Pfarrerssohn darf er nicht auf die Erweiterte Oberschule und dort das Abitur ablegen. Die Grenzen sind noch durchlässig, mit der S-Bahn von Potsdam nach Westberlin. Dort ist bereits sein älterer Bruder David Schüler des Gymnasiums. Daniel beschreibt sein Leben im Internat und in der Schule, nachmittägliche Eroberungen der Stadt, den Nebenerwerb als Zeitungsbote, erste sexuelle Erfahrungen. So weit, so gut. Und bereits häufig literarisches Thema vieler Schriftsteller.

Was neu ist, sind die Berliner Besonderheiten kurz vor dem Mauerbau am 13. August 1961. Aufgrund der Festlegungen der vier Alliierten dürfen in Berlin Schüler die Schulen in allen vier Sektoren besuchen. Konkrete Folge ist, dass etliche Ostberliner in Westberliner Gymnasien lernen. Eine weitere gemeinsame Festlegung war übrigens die unentgeltliche Bereitstellung von Schulbüchern für alle Schüler in Berlin. Die hielt sich sogar bis zum Ende der DDR.

Daniel beschreibt detailliert seine Lehrer am evangelischen Gymnasium und das Personal des dazugehörigen Schülerheims. Es fehlt nicht der Hinweis auf das „Hauptfach“ Beten, doch das kennt er als Pfarrerssohn. Alle Ostberliner oder die offiziell „republikflüchtigen“ Schüler, wie Daniel und sein Bruder, lernen im C-Zweig, dort erhalten sie auch Russisch-Unterricht. Mit den Westberliner Schülern haben sie so gut wie keinen Kontakt. „Man übersieht sich […] für die sind wir die Russen“. Aufschlussreich zu lesen ist auch über Daniels erste literarische Versuche, über den Theaterzirkel, seine Nachmittage am Schiller Theater oder an der Vaganten-Bühne. Über Verluste und unglückliche Liebe, Herabsetzungen („die Neger aus dem Osten“), den Erweckungsprediger Billy Graham und den Rockstar Bill Haley. Auch die kleinen „Vorteile“, als Ostler günstig in Westberliner Kinos gehen zu können oder den Ost-West-Geldumtausch auszunutzen, bleiben nicht ausgespart. Es kommt, wie es kommen muss. Nach den Sommerferien auf Hiddensee und in Dresden gibt es kein Zurück mehr. Die Grenzen sind dicht. Die Eltern, inzwischen in Ostberlin lebend, bemühen sich, aber das Abitur wird weiter verwehrt. Eine Buchhändlerlehre am Alexanderplatz beginnt. „Menschenschmuggel“ und kleinere kriminelle Eskapaden werden als abenteuerliche Erlebnisse der Jugendlichen beschrieben.

„Fulbricht riegelt ab“ nennt der Autor das zentrale Kapitel über den Mauerbau. Im damaligen Westberliner Senat war die Kontamination von Fulbright und Ulbricht der Spottname auf den US-Senator James Fulbright, der zwei Wochen vor dem Mauerbau verlautbarte: „Ich verstehe nicht, weshalb die Ostdeutschen ihre Grenze nicht schon längst geschlossen haben; ich glaube, sie haben jedes Recht dazu.“ Dies wurde damals als entscheidendes Signal der Kennedy-Regierung verstanden, dass sie die Mauer als Lösung der Krise mit täglich Tausenden DDR-Flüchtlingen akzeptieren würde. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung war treffend zu lesen: „Hein nutzt die Wortschöpfung, um den Mauerbau als Gemeinschaftsleistung von Ost und West zu deuten. Das mögen einige westliche Leser schief finden – in der östlichen Leserschaft wird mancher womöglich einmal mehr Christoph Heins Kunst der historischen Balance bewundern.“

Christoph Heins Roman trägt ausgesprochen autobiographische Züge, nein, er könnte fast eine Autobiographie der beschriebenen Zeit sein. Guldenberg, aus anderen Büchern bereits bekannt, ist unverkennbar Bad Düben bei Leipzig, wo Hein in einem Pfarrerhaushalt aufwuchs. Die Eltern flohen dorthin aus Oberschlesien im Roman wie im wirklichen Leben. Die Buchhändlerlehre ist ebenso authentisch wie die Tatsache, dass er dabei seine erste Ehefrau Christiane Jux, kennenlernte. Der Roman endet mit diesem Kennenlernen von „Christiane […] Und damit begann eine andere Geschichte. Eine ganz andere Geschichte.“

In einem kurzen Text seines sich lohnenden Buches mit persönlichen Erlebnissen, „Gegenlauschangriff“, waren die Schuljahre in der geteilten Stadt von Hein bereits grob umrissen worden. Der Untertitel des Buches spricht Bände: „Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege“. Er erinnert nicht zufällig an Heinrich von Kleists „Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege“. Die Ost-West-Problematik erweist sich wieder einmal als ein zentrales Thema Heins. Erst jüngst stimmte er den Thesen von Dirk Oschmann vehement zu und prangerte den Elitenaustausch in Ostdeutschland nach 1990 an. Dass er sich dabei an die Zeit von 1935 in Deutschland erinnert fühlte, brachte ihm einigen westlichen Gegenwind ein.

Für seine präzise Wahrnehmung der Wirklichkeit ist Hein bekannt. Oft wird er als Chronist der DDR und der deutschen Gegenwart bezeichnet, im vorliegenden Roman ist er jetzt ein Chronist seiner selbst.

Der Ich-Erzähler Daniel bleibt relativ blass, ihm fehlt es an einer gewissen Portion Selbstreflexion. „Unterm Staub der Zeit“ zieht die vergessenen Möglichkeiten des Schulbesuchs in Berlin wieder ans Licht und wirft einen aufschlussreichen Blick auf Berlin kurz vor und nach dem Mauerbau. Ein solches Leseerlebnis wie bei „Horns Ende“ oder „Trutz“ stellt sich allerdings bei mir nicht ein.

Christoph Hein: Unterm Staub der Zeit. Roman, Suhrkamp, Berlin 2023, 224 Seiten, 24,00 Euro.