Der aus Polen stammende britische Historiker und Schriftsteller Isaac Deutscher (1907–1967) übertrug die zeitgenössische marxistische Kritik an der stalinistischen Sowjetunion auf das Gebiet der Geschichtswissenschaft. Doch zugleich erhob er die Analyse der Oktoberrevolution und ihrer Folgen in Form der biographischen Darstellung zu einer eigenständigen literarischen Gattung. Seine 1949 publizierte Stalin-Biographie entzog sich den festgefahrenen Frontlinien des Kalten Krieges, die Trilogie über Leo Trotzki erschien zwischen 1954 und 1963. Sie ist eine wahrscheinlich unwiederholbare, jedenfalls bisher nicht wiederholte Leistung biographischer Geschichtsschreibung. Der vom Stilgefühl Isaac Deutschers gefangene Leser mag den psychologischen Scharfblick Thomas Manns im Sinn haben, der am tragischen Helden Trotzki Interessierte an Schillers Wallenstein denken, dessen gestürzter Protagonist sich in aussichtsloser Lage erhebt und seinem Schicksal die Stirn bietet. Immer bewahrte Deutscher auch in gelegentlicher Heroisierung Trotzkis Rhythmus und Balance der Sprache, er wusste, wie er selbst über Trotzki schrieb, wann er den Gang seiner Erzählung kürzer fassen musste und wann er ihn in epischer Breite fließen lassen konnte.
Doch schrieb Deutscher für den Lebensunterhalt als Journalist auch eine Vielzahl von Essays und Artikeln für britische und internationale Zeitungen; die meisten erschienen zuerst in der Londoner Tribune, im Economist, dem Manchester Guardian und im Observer. Darin wandte er sich vor allem Fragen der internationalen Politik und Zeitgeschichte zu, doch auch dem, was als die „jüdische Frage“ bezeichnet wurde, die ihm schicksalhaft am Herzen lag.
Isaac Deutscher gehörte zur letzten Generation derer, die in der Welt des ostmitteleuropäischen Judentums aufwuchsen; er wurde in Schidlow (Chrzanów), einer Kleinstadt unweit von Kraków, geboren. Sein Vater besaß eine Druckerei. Er erzog ihn und seine Schwester nach den Geboten der jüdischen Religion. Doch als 14-Jähriger wandte sich Deutscher gegen den erbitterten Widerstand des Vaters von der Religion ab. Er suchte die Grenzen des Judentums zu überschreiten, ohne das kulturelle Erbe der Ostjuden je zu verleugnen. Seitdem bezeichnete er sich als „nichtjüdischen Juden“ im Geist der jüdischen „Rebellen“ von Spinoza, Heine und Marx bis Freud, Rosa Luxemburg und Trotzki. Sie alle, so Deutscher, hätten „als Juden an der Grenze zwischen unterschiedlichen Zivilisationen, Religionen und nationalen Kulturen gelebt.“ Dieser Zustand habe sie befähigt, „sich in ihrem Denken über ihre Gesellschaft, ihre Nation, über ihre Zeit und Generation zu erheben, neue Horizonte geistig zu erschließen und weit in die Zukunft vorzustoßen.“
Diese Zeilen entstammen Deutschers Essay „The Non-Jewish Jew“, der in einem 1968 von seiner Witwe Tamara edierten Sammelband gleichen Titels erstmals erschien. Diese Sammlung wurde in leicht gekürzter Form 1977 auf Deutsch veröffentlicht, damals unter dem Titel „Die ungelöste Judenfrage. Zur Dialektik von Antisemitismus und Zionismus“. Eine erweiterte Ausgabe kam 1987 unter dem übersetzten Originaltitel „Der nichtjüdische Jude“ heraus, die jetzt, wiederum leicht variiert, als Neuausgabe vorliegt (2014 erschien eine russische Ausgabe).
Diese deutsche Neuausgabe nahm Susan Neiman, Direktorin des Potsdamer Einstein-Forums, am 4. Dezember zum Anlass, Isaac Deutschers Schrift in ihrem Haus vorzustellen. Der aus Calcutta stammende, in England ausgebildete Historiker Benjamin Zachariah, jetzt am Braunschweiger Georg-Eckert-Institut für Bildungsmedien, gab einen detailreichen Überblick zu Deutschers Leben. Er erinnerte daran, dass es Juden im Polen der Zwischenkriegszeit schwer hatten, an Hochschulen Aufnahme zu finden. So erlernte der junge Deutscher den Beruf des Buchdruckers, schrieb sich aber auch als Gasthörer an der Jagiellonen-Universität in Kraków ein. 1924 schloss er sich der Sozialistischen Partei Polens (PPS) an. Zwei Jahre später trat er der Kommunistischen Partei Polens bei, für deren Presse er nun schrieb. Den Lebensunterhalt verdiente er als Redakteur einer jüdischen Tageszeitung, für die er auch Literatur- und Theaterkritiken verfasste. Als Anhänger Leo Trotzkis wurde er 1932 aus der KP Polens ausgeschlossen. Fortan schrieb er für sozialdemokratische und liberale Blätter. Er wurde zum Wortführer einer kleinen antistalinistischen Gruppe, der Bolschewiki-Leninisten, die die Moskauer Prozesse brandmarkte, zur Einheit mit der nichtkommunistischen Linken und zur Solidarität mit Trotzki aufrief, allerdings nicht dessen kleiner Vierter Internationale beitrat.
Beim deutschen Überfall auf Polen im September 1939 befand sich Deutscher durch einen lebensrettenden Zufall in London, das ihm zur neuen Heimstatt wurde. Seine Eltern wurden in Auschwitz ermordet, nur seiner Schwester gelang die Flucht nach Palästina. Zunächst war Deutscher völlig mittellos, fasste aber in England rasch Fuß.
Hier setzte Susan Neiman mit ihrem Vortrag über Isaac Deutscher und die Juden ein. Sie hob Deutschers Hoffnung hervor, eine sozialistische Weltgesellschaft (nicht die zeitgenössische Sowjetunion) werde den Juden ein gleichberechtigtes Leben ermöglichen – aus Zeitgründen sagte sie nur wenig zu Deutschers zentralem Aufsatz im Band „Die russische Revolution und das jüdische Problem“. Dabei stand nicht Israel im Mittelpunkt, so sehr Deutscher dessen Perspektiven beschäftigten. Deutscher habe 1958 aus Anlass des zehnten Jahrestages der Staatsgründung zur Solidarität mit Israel aufgerufen, aber dessen politische Fehler scharf kritisiert, betonte sie.
Der Zionismus sei, so Deutscher, indes nach Auschwitz anders zu beurteilen als vorher: „Meinen Antizionismus, der auf meinem Vertrauen in die europäische Arbeiterbewegung basierte oder, allgemeiner, auf meinem Vertrauen in die europäische Gesellschaft und Zivilisation, habe ich natürlich längst aufgegeben, denn diese Gesellschaft und diese Zivilisation haben es Lügen gestraft. Wenn ich in den zwanziger und dreißiger Jahren, statt gegen den Zionismus anzugehen, die europäischen Juden aufgefordert hätte, nach Palästina zu gehen, hätte ich womöglich geholfen, einige Menschenleben zu retten, die später in Hitlers Gaskammern ausgelöscht wurden.“
Bis zum Ende seines Lebens nahm Deutscher auch zum Nahost-Konflikt Stellung. Solange eine nationalistische Konfliktlösung verfolgt werde, seien Israelis wie Araber dazu verdammt, sich im Teufelskreis von Hass und Rache zu bewegen. Deutscher, der zwischen dem Nationalismus einer unterdrückten und dem einer Unterdrückernation unterschied, hoffte, die technologische Revolution werde die Israelis dazu bringen, nationalistisches Denken zu überwinden und Fetische wie „Staat“ oder „Imperium“ zugunsten höherer, übernationaler Formen der sozialen Ordnung aufzugeben, etwa in einer Nahost-Föderation als hörenswerte „Zukunftsmusik.“ Doch wandten Kritiker ein, dass Deutschers Vorstellungen gerade mit Blick auf die unversöhnliche Feindschaft im arabischen Lager unrealistisch seien und dass die Juden einen eigenen, jüdischen Staat als Fluchtpunkt vor dem fortwirkenden Antisemitismus dauerhaft benötigten.
Deutscher war sich, so Neiman, des Widerspruchs seiner Position bewusst. Er teilte den Stolz der Israelis über die Leistungen ihres jungen Staates, suchte aber diese Gefühle mit nüchternen Tatsachen zu konfrontieren. Im israelisch-arabischen Krieg vom Juni 1967 warnte er vor israelischem Chauvinismus und vor einem emotional getrübten Urteil, bei dem die Berufung auf Auschwitz die Juden unter Druck setze, die falsche Sache zu unterstützen. „Ich spreche als Marxist jüdischer Herkunft, dessen nächste Angehörige in Auschwitz umgekommen sind und dessen Verwandte in Israel leben.“
Dieser Krieg und das „Wunder“ des israelischen Sieges hätten kein Problem gelöst, dem sich Israel und die arabischen Staaten gegenübersehen. Sie hätten vielmehr die alten Streitfragen verschärft und noch gefährlichere neue geschaffen. In Israel selbst sei die nationalistische Rechte um Menachem Begin der eigentliche Sieger des Krieges.
Dies waren fast prophetische Worte des undogmatischen Marxisten. Doch so sehr Deutscher die Gefahren des israelischen Nationalismus erkannte, so sehr unterschätzte er militante Ideologien auf arabischer Seite. Seine Kenntnis der arabischen Welt war viel weniger präzise als seine Vertrautheit mit Israel, und seine Appelle an „die Araber“, von Revanchegedanken abzulassen, blieben oft abstrakt und unwirklich. Natürlich konnte Deutscher den militanten Islamismus nur in seinen Anfängen wahrnehmen. Doch inspirierten seine Analysen und seine Suche nach einem Ausweg aus Krieg und Gewalt unmittelbar auch zeitgenössische Marxisten, die sich als Kenner der arabisch-islamischen Welt auszeichneten, wie Anouar Abdel-Malek, Maxime Rodinson und Fred Halliday. Ihre Forschungen waren und sind allen heutigen, in „postkolonialen“ Denk- und Irrwegen gefangenen Arbeiten weit überlegen. Diese Feststellung gilt ganz besonders und immer noch für Isaac Deutschers Buch „Der nichtjüdische Jude“.
Isaac Deutscher: Der nichtjüdische Jude. Essays, hrsg. und mit einem Beitrag von Tamara Deutscher. Aus dem Englischen von Eike Geisel und Mario Offenberg, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2023, 204 Seiten, 15,00 Euro.
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