26. Jahrgang | Nummer 26 | 18. Dezember 2023

Was ich als jüdisches Leben wahrnahm

von Harald Kretzschmar

Das meist benutzte Wort in den politischen Auseinandersetzungen der Gegenwart ist der zum überwältigenden Schlagwort gewordene Antisemitismus geworden. Da werden die bittersten Wahrheiten mit überdimensionalen Legenden verwoben, die keiner kritischen Analyse standhalten. Die kolossalen Verfeindungen, die dort angesprochen werden, sind nur durch das persönliche Erleben anderer Art abzubauen. Dem mag dieser Text dienen.

 

Gehabter Nazi-Antisemitismus soll im Land DDR gefördert worden sein und ungehemmt weitergelebt haben? So wird es neuerdings vermittelt. Ja: Die staatsoffizielle Distanz zum Zionismus ergab die Konfrontation zur israelischen Staatspolitik. Kalter Krieg. Freund-Feind-Schema. Auf beiden Seiten gab es falsche Freunde. Nach den Prämissen von Karl Marx ist „Individueller Terror“ tabu. Die Sicht der DDR-Bevölkerung auf alles Jüdische war nie darauf ausgerichtet. Wieso sollte Antisemitismus ungebremst weiterwirken? Wehrlose und kämpfende Opfer des Faschismus waren zu ehren. Das war der Kern eines Antifaschismus, der Unbelehrbaren verordnet werden musste. Dass Personen mit jüdischem Background in der DDR dabei eine maßgebliche Rolle spielten, geschah ganz selbstverständlich. Man wird nicht wahr haben wollen, dass es mehr, als in der von Adenauer geprägten  Bundesrepublik waren. Die eher abschreckend auf die Rückkehr der Exilierten wirkte.

Sie oder ihre Ehepartnerinnen flankierten im sich immer wieder selbst kompromittierenden Ost-Staat deutlich eine Elitenbildung der besonderen Art. Ohne viel Aufhebens davon zu machen, fielen sie lediglich durch Leistung oder Haltung auf – und zwar als gleichberechtigte Mitbürger ohne andere Kennzeichnung als ihre aus Herkunft und Verfolgung resultierende Biografie. Wer ist da als „Jüdische Minderheit“ zu bezeichnen? Die wenigen in Jüdischen Gemeinden verankerten Gläubigen? Die Nazibarbarei hatte doch alle Juden zu vernichten gesucht. Von den Überlebenden des hebräisch „Shoah“ genannten Grauens machten viele die SBZ/DDR zu ihrer Heimat. Politisch traditionell links, lebten sie dieses Bekenntnis so leidenschaftlich wie skeptisch. Wer kann sie in Zeiten einer Säkularisierung auf allen Gebieten genau deshalb aus einer vermeintlichen jüdischen Gemeinschaft ausschließen? Ein Exkommunizieren wie im Katholizismus? Das kann doch nicht wahr sein.

In der Gesellschaft der DDR war das konfessionelle Bekenntnis grundsätzlich in keiner Weise bestimmend. Da die meisten von denen, die hier zur Debatte stehen, im universitären und künstlerischen Milieu sowie in den Massenmedien tätig waren, hatte ein recht großer Teil der Bevölkerung mit ihnen Kontakt. Hätte es Anzeichen feindseliger rassistischer Abwertung gegeben, wäre das sofort aufgefallen. Bezeichnend ist die allgemein zu hörende Feststellung „Juden und Jüdinnen? Das ist uns ja gar nicht bewusst gewesen …“ Offensichtlich hat ein kollegial freundliches Miteinander irgendeine Distanz gar nicht aufkommen lassen. Wie das nach allem Vorangegangenen funktionierte, war fast ein Wunder.

Wenn die prominenten Politbüromitglieder Albert Norden und Hermann Axen agierten, waren sie selbst Holocaust-Betroffene. Die Attacke auf Adenauers Staatssekretär-Intimus Hans Globke als Kommentator der Nürnberger Rassegesetze konnte aus keinem berufeneren Mund kommen als dem Rabbinersohn Norden. Zur im Westen praktizierten Rehabilitierung von Judenmördern wurden eben die Schlagzeilen des Neuen Deutschlands vom Auschwitz-Überlebenden Axen als Chefredakteur veranlasst. Als der Auschwitz-Prozess dann endlich zustande kam, war ein Topjurist wie Friedrich Karl Kaul seiner jüdischen Mutter schuldig, als Nebenkläger in Frankfurt am Main alle möglichen Rechtsmittel auszureizen.

Nun ist der Begriff Antisemitismus als missverständliche Wortbildung sowieso fragwürdig genug. Die nichtjüdischen Semiten sollten sich ihn längst verbitten. Und seine blitzschnelle Verfügbarkeit zum Herabsetzen unliebsamer Meinungsäußerung diskreditiert ihn vollends.

Inzwischen ist das Thema in oft genug ganz unchristlich sowie unjüdisch hitziger Debatte ein so aufgeheizt heißes Eisen, das insbesondere Linke jede Berührung damit panisch meiden. Daher rührt eine extreme ideologische Reizbarkeit, die regelmäßig zu Missdeutungen und Fehlurteilen führt. Der Alarmismus ist meist irreführend. Eine schlichtweg alle menschlichen Lebenszeichen erfassende Betrachtung ist angebracht.

*

Im folgenden gebe ich meine persönliche Erfahrung zu Protokoll.

 

Was ich zeitlebens erlebt habe, war nämlich etwas ganz anderes. Ich muss es beschreiben. Anderthalb Jahrzehnte unter der Vorherrschaft von Nazi-Ideologie aufgewachsen, weckte der verordnete Judenhass früh meine Neugier darauf, woher das kam. Dass mein Vater Walter Rathenau verehrte, konnte ich alle Jahre seinem Bücherschrank entnehmen. „Mein Kampf“ aus der Feder des „Führers“ – Fehlanzeige. Bücher anderer jüdischer Autoren in der mehr schöngeistigen Bibliothek meiner Mutter fehlten leider ebenfalls Als ich 1937 in Dresden zur Schule kam, setzte mich der kindlich verehrte Lehrer Hecker jedoch nicht zufällig neben den einzigen jüdischen Jungen in der Klasse. Mit Leo Freitag zusammen lernte ich schreiben. Zum neuen Schuljahr 1938 war er auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Ich vermisste ihn sehr. Meine Fragen blieben unbeantwortet. Dass er mit einem Kindertransport nach England entkommen war, blieb ein Tabu.

Dresdens Trümmerwüste danach sah sofort jüdische Gesichter unter den nun maßgebenden Antifaschisten. Victor Klemperer trat im Kulturbund in Erscheinung. Paul Lewitt, schon im Dezember 1945 aus dem englischen Exil zurück, gründete sofort mit seiner Frau Charlotte Küter in Dresden-Leuben die Volksbühne neu. Kurz danach erlebte ich da schon einen Abend Bertolt Brecht. Hans Schrecker (KPD) startete mit Oskar Kurpat (SPD) im März 1946 die Illustrierte Zeit im Bild mit Max Zimmering als Kulturredakteur. Die Kinderbuchautorin Auguste Lazar kam solo, die agile Ruth Seydewitz trat ihrem Max zum Darstellen eines guten sächsischen Ministerpräsidenten an die Seite. Wie Lea Grundig, aus dem zum Staat Israel gewandelten Palästina gekommen, nun ihrem von Nazi-Verfolgung gezeichneten Hans beistand. All das konnte ich bereits als Schüler wahrnehmen.

Sieben nun zur Geltung kommende Lebensschicksale, sich vollendend in diesem von so vielen Problemen und Konflikten belasteten Staat. Alle blieben dabei, obwohl Hans Schrecker die Ausnahmefigur für die stalinistische Misstrauenswelle gegen Westemigranten hergeben musste. Im Exil verdächtige Retter gehabt zu haben, brachte ihm das Verhängnis: Zwei Jahre Haft. Der Mord-Verdacht des Kremlherrschers war auf seine jüdischen Leibärzte gefallen. Plötzlich brach eine bis zu seinem Tod 1953 genau befristete antijüdische Kampagne aus. Tschechischen und ungarischen jüdischen Parteifunktionären kostete dieser Wahnsinn das Leben. Die DDR machte den quicklebendig gebliebenen Schrecker hinterher wieder zum Chefredakteur, dezimierte aber mit der Kampagne die ohnehin schwache Jüdische Gemeinde.

Dem Fliehen in den Westen zogen dagegen die politisch Engagierten eine Flucht nach vorn vor. Sie waren es, die fortan ein enormes dissidentisches Potential in die immer wieder von Verkrustung bedrohten Verhältnisse einbrachten.

Das alles war kein Geheimnis. Die Zeitungsgründer der Nachkriegszeit in der ehemaligen Reichshauptstadt Berlin – wer waren die denn? Sie hatten großenteils jüdische Namen: Lex Ende startete 1946 das Neue Deutschland – und kurioserweise gleichzeitig das satirische Witzblatt Frischer Wind. Seine Nachfolger als Chefredakteure des Zentralorgans der SED hießen Rudolf Herrnstadt, Hermann Axen, Rudi Singer. Buchenwald-Rückkehrer Herbert Sandberg hatte mit Karl Schnog im Dezember 1945 den Ulenspiegel auf den Weg gebracht, Lilly Becher die Neue Berliner Illustrierte, Klaus Gysi den Aufbau. Georg Honigmann erst Berlin am Mittag , dann Berlin am Abend, ehe er mit den Stacheltier-Filmen und dem Kabarett Die Distel ins satirische Fach wechselte.

In diese Reihe gehört eben auch Hans Leonard, der schon 1945 mit Maud von Ossietzky Die Weltbühne neu gründete. Und das von Anfang an betont gesamtdeutsch. Da gab es unter wohlwollender Förderung durch Albert Norden einen deutlich jüdisch geprägten Pool intellektueller Zeitbetrachtung. Jürgen Kuczynski, Siegbert Kahn, Henryk Keisch, Peter Edel  und Emil Carlebach gehörten von Anfang an zum festen Autorenstamm. Da diese Klientel in der Regel ganz unproletarisch daherkam, bediente sie mitten im Arbeiter-und-Bauern-Staat eine bürgerliche Mentalität. Dazu kam als erhebliche Verstärkung in der zweiten Welle der Pressegründungen nach 1953 die Wochenpost (Kurt Neheimer), Das Magazin (Hilde Eisler), Eulenspiegel (Peter Nelken) und Sibylle (Sibylle Gerstner) dazu. Wo sollte denn bei diesen in der Beliebtheit beim Publikum wetteifernden Presseorganen der Antisemitismus herkommen? Eine absurde Vermutung.

Meine Berufswahl auf dem Weg zu künstlerisch pointierter Publizistik wurde durch die für mich früh erkennbare Mentalität dieser Leute geprägt. Noch vor dem Abitur 1949 erlebte ich meinen Vater in Heiligendamm an der Ostsee im Disput mit Stephan Hermlin über die dort ihre ersten Ferien feiernden West-Remigranten. Ich freute mich über die sympathische und intelligente Ausstrahlung von Menschen, die eben noch auf den Todeslisten von Auschwitz gestanden hatten. Renate Langhoff öffnete mir die Augen für all die jüdischen Frauen der nun das Kulturleben Bestimmenden. Wolfgang Langhoff, Walter Felsenstein, Fritz Erpenbeck, Johannes R. Becher, Bertolt Brecht und Eberhard Rebling – ja selbst die proletarischen Vorzeigedichter Kuba und Hans Marchwitza waren jüdisch verheiratet.

Für mich als Kunststudent in Leipzig waren die Kulturkongresse zur Buchmesse ein Indiz für all das. Da sprachen Ernst Bloch und Hans Mayer, und Friedrich Karl Kaul referierte einen Rechtsstreit um den Dichter „Hermelin“ (wie er sich ausdrückte). Da wurde der Vorwurf des Formalismus auf John Heartfield zurückgewiesen. Danach flog der USA-Heimkehrer Hermann Budzislawski zur Gründung der Journalistensektion an der Uni Leipzig ein. So auch Gerhart Eisler, erkennbar der Bruder des Komponisten der Nationalhymne Hanns Eisler, der sofort nach Ankunft ein „Amt für Information“ übernehmen konnte. Und nach dessen Auflösung als Intendant des Staatlichen Rundfunkkomitees glänzte. Nicht genug damit, war er auf dem Bildschirm und auf den Seiten der Jungen Welt um die Beantwortung unbequemer Fragen bemüht. Und Hans Jacobus versuchte, sein Professorenkollegium nicht nur im Radio hörbar, sondern auch im Fernsehen sichtbar zu machen.

So hatte sich nicht nur ein Personalbestand sortiert, der öffentlich fürs Ideologische zuständig war. Die ersten beiden DEFA-Filme „Die Mörder sind unter uns“ und „Ehe im Schatten“ eröffneten eine lange Reihe Film-und-Fernsehproduktionen zur Judenhatz des Nazisystems. Da gab es außer „Nackt unter Wölfen“, „Levins Mühle“ und „Jakob der Lügner“ auf hebräische Riten bezogene Fernsehproduktionen wie „Bilder des Zeugen Schattmann“ und „Hotel Polan und seine Gäste“ nach Texten von Peter Edel und Jan Koplowitz.

Die Situation, in der ich 1955 in Berlin Fuß fasste, war nicht anders als personell vielschichtig prägend zu bezeichnen. Menschen aus KZ-Haft und verschiedenen Exilländern gekommene Menschen gaben den Ton an. Aus London, Shanghai, Stockholm, New York, Moskau, Paris, Mexiko oder Ankara war da etwas Weltbürgerliches herübergeweht. Wo Leute Initiativen entwickelten, fand ich immer wieder jüdische Namen. Die schon sofort nach 1933 aus politischen Gründen Exilierten hatten die größere Chance zu überleben.

Den auf internationale Literatur angelegten Verlag Volk und Welt leitete Walter Czolleck. Das Theater am Schiffbauerdamm hatte Fritz Wisten gegründet. Er bespielte es, bis nach Jahren Brechts Ehefrau Helene Weigel daraus dessen Berliner Ensemble machen konnte. Bereits nach kurzer Zeit stellte ich meine Porträtkarikaturen, die ich alternierend mit Herbert Sandberg von ihnen allen jede Woche im Eulenspiegel machte, im zentralen Presseclub am Bahnhof Friedrichstraße aus. Darunter speisten die Eislers oder der Professor Friedrich Karl Kaul zu Mittag. Der Hausherr als Vorsitzender des Presseverbandes war der vor und nach 1945 in Buchenwald rassisch und politisch inhaftierte Georg Krausz. Und sie fielen durchaus mit jener speziell jüdischen intellektuellen Agilität auf, die sie bei den Kleingeistern aller Nationen so verhasst macht.

Eine Etage höher spielte das Kabarett Die Distel unter dem Direktorat von Georg Honigmann. Nach seinem Experiment satirischer Stacheltier-Filme glänzte seine damalige Frau Lizzy als umsichtige Chefin des DEFA-Synchronstudios. Sein Nachfolger als Distel-Chef wurde Otto Stark. Vom Wiener Hutmacher-Vater nach England gerettet, hatte er als Mime voll die Tonart des jüdischen Witzes drauf. Hochkultiviert agierte im Club der Kulturschaffenden der Direktor der zentralen Parteibibliothek Bruno Kaiser als Gründer der bibliophilen Pirckheimergesellschaft. Da trat dann Jürgen Kuczynski als Stargast zur kuriosen Weissagung des baldigen Untergangs des Kapitalismus auf. Und dort durfte Stephan Hermlin die jungen Dichter ermuntern, unverblümt aufmüpfig zu reimen. Und Herbert Sandberg räumte dort gemeinsam mit Doris Kahane und Ingeborg Hunzinger den Verdacht des Formalismus beiseite. Der Jurist Anselm Glücksmann erklärte uns, wie er grenzübergreifend ein deutsches West-Ost-Urheberrecht auf den Weg brachte.

Präsidiale Weihen trafen reihenweise offensichtlich jüdisch tradierte Persönlichkeiten. Arnold Zweig etwa für die aufblühende Akademie der Künste. Er war Kennern bekannt als Autor von „Bilanz der deutschen Judenheit“. Sein Nachfolger Konrad Wolf, Regisseur der Filme „Professor Mamlock“ und „Sterne“, machte den Antifaschismus zum Hauptprogramm der Akademie. Kein Zufall, dass sein Bruder Markus mit dem Buch „Troika“ 1987 bereits der Führungsetage des Geheimdienstes entsagte. Anna Seghers, Lea Grundig, Wolfgang Heinz und Ernst Hermann Meyer präsidierten auf diese Weise die Künstlerverbände. Ein Rätsel, wie all das mit einem quasi verordneten Antisemitismus vereinbar gewesen sein soll.

Die immer wieder beschworene Teilnahme von Partei und Staat am Schicksal der vom Staat Israel bedrängten Palästinenser bereitete sehr wohl all diesen jüdischen Genossinnen und Genossen erhebliche Kopfschmerzen. Alle hatten in und für Israel engagierte Verwandte und Bekannte. Doch sie hatten sich entschieden, als deutsche jüdische Bürger in Deutschland zu leben. Sie waren bewusst keine Israelis. Nach und nach kam es zu ersten Kontakten, wenn Walter Kaufmann Reportagen von dort mitbrachte. Oder als Lin Jaldati mit Tochter Jalda das gemeinsame jiddische Liedgut vermittelte.

Die bedingungslose Parteinahme der offiziellen DDR für Yassir Arafat sogar anlässlich terroristischer Aktionen der PLO verstörte. Was im Kalten Krieg der Konfrontation der Blöcke geschuldet war, da reklamierte die Bundesrepublik Deutschland die bedingungslose Übernahme ihrer Doktrin. Israel, das bedeutete für Adenauers Intentionen: Allerbester Freund im Nahen Osten. Intifada war böse. Apartheid , Chileputsch und Vietnamkrieg gut. Das Bewusstsein von dem erst 1979 nach einem mühsam in den Dritten Fernsehprogrammen platzierten US-TV-Mehrteiler so benannten Holocaust brachte spät eine Aufarbeitung dieses Naziverbrechens. Die in beiden Deutschlands lebenden davon Betroffenen zählten dafür wenig. Die aus der Emigration Zurückgekehrten blieben im Westen eher Fremdlinge – wie Erich Fried und Wolfgang Hildesheimer. Alfred Döblin machte wieder kehrt. Der späte Polen-Heimkehrer Marcel Reich-Ranicki trat dann lautstark genug auf.

Erst als Konflikte mit Dissidenten dieser Herkunft in der ihnen doch so freundlichen DDR sichtbar wurden, änderte sich einiges. Der junge aus Hamburg gekommene Wolf Biermann war eben einer, der die Szene aufzumöbeln wusste. Das Establishment zitterte sofort, weil er sich mit einzigartigen Songattacken einzumischen pflegte. Doch wenn es Zoff gab mit der Partei, die immer recht haben wollte, dann war der immer politisch und nie rassistisch. Stefan Heym, mit der Kolumne „Offen gesagt“ in der Berliner Zeitung voll akzeptiert, eckte erst mit seinen quer geschriebenen Büchern an. Was große Literatur immer tut, hier war eine neue Sicht, ob es sich um König David, den Berufsrevolutionär Radek oder um die Exklave Schwarzenberg handelte. Er passte nie in eine politische Richtung.

Da ich nach den Jahren der Selbstverständlichkeit immer wieder mit der Anfechtung des antifaschistischen Erbes meines vergangenen („ehemaligen“?) Staates konfrontiert werde, denke ich immer weiter in dieser Richtung erinnernd nach. Und stelle fest, dass durch Jahrzehnte, ja, Jahrhunderte die perfekte Identität des eigentlich Jüdischen längst Bestandteil der einst als „Volkskörper“ beschworenen deutschen Gesellschaft geworden ist. Man hat sich auf vielfältige Weise längst zusammengetan. Die dabei gezeugten Kinder dürfen nun selbst feststellen, wer sie eigentlich sind.

Die ideologischen Falschmünzer von der Mörder-Elite der Nazikumpanei haben uns erst die Unterscheidung in Voll-, Halb- und Vierteljude beigebracht. Bei der Klassifizierung in das büromäßig Korrekte durften sie sich der willigen Hand des nachmaligen Adenauer-Intimus Hans Globke bedienen. Und allen Nachgeborenen fehlen seitdem die passenden Worte dafür, wer davon sie selbst nun sind. Die jüdischen Großmütter von Egon Bahr und Helmut Schmidt dürfen Spalier stehen bei der oft verheimlichten Ahnengalerie namhafter Personen oder Top-Persönlichkeiten. Vermeintlicher Antisemitismus richtet sich dann unter Umständen gegen Leugner dieses und Verkünder eines anderen Tatbestandes.

Und dass die sogenannte „Linke“ in Gestalt der PDS aus der mit Recht total desavouierten SED auferstand – wer waren denn die Hauptinspiratoren? Gregor Gysi mit Andrè und Michael Brie an seiner Seite. Der Sohn vom prominenten Kulturpolitiker Klaus Gysi und die Söhne des wichtigen Außenpolitikers Horst Brie. Sie verhielten sich ganz im Gegensatz zu anderen Söhnen und Töchtern, deren Distanz zu den spät als jüdisch erkannten Eltern oft absurde Formen annimmt. Bei den Bürgerrechtlern fanden wir am medienwirksamsten Daniela Dahn. Und so weiter.

Das Ganze ist eigentlich nur ein Lehrbeispiel dafür, wohin man kommt, wenn man offenbar unrettbar in rassistischen Kategorien befangen bleibt. Und die humanistischen Ideale der Aufklärung damit im Grund ignoriert. In zunehmend säkulare Denkmuster passt ein geradezu  priesterliches Verdammen kaum.

Es führt leider zu gewaltbereiter Konfrontation. Und zu einer erschreckenden Einschränkung der Urteilsfähigkeit. Ich kann das Geschrei um allgegenwärtigen Antisemitismus, der uns völlig undifferenziert angekreidet wird, nicht mehr hören.

Alles, was ich mit meinem Volk zusammen dazu erlebt habe, spricht dagegen.

*

Meinem umfänglichen Lebensbericht zum Thema „Jüdisches Leben“ ist hinzuzufügen, dass es selbstverständlich von den meinen abweichende persönliche Erfahrungen gegeben hat. Insofern ist diese „Zugabe“ auch als ein Zugeben zu verstehen. Ich gebe zu, mir nicht sicher zu sein, welchen Teil einer Bevölkerung und ihr Verhalten ich für prägend halten kann. Es gibt in großer Zahl den in primitiven Wertvorstellungen befangenen, immer nur auf seinen Vorteil bedachten und ständig gewaltbereiten Menschen. Er ist dem von der Religion des Talmud durch die Jahrhunderte geistig geformten und schöpferisch wirkenden jüdischen Menschen von Natur aus Feind. Schlimm genug, dass der Weg der unverstanden fremd bleibenden Menschen von Progrom zu Progrom begleitet war.

Die Errungenschaft der letzten zweihundert Jahre ist die Auflösung dieses Konfliktes durch die willkommene Einbeziehung der jüdisch geprägten Menschen in die bürgerliche Gesellschaft. Mit einzigartigen Wirkungen so vieler einzelner bemerkenswerten Personen. Der Mob schäumt. Die kultivierte Gesellschaft ist jedoch längst geöffnet. Und genau das fasziniert uns andere Menschen immer wieder aufs Neue. Wenn Fundamentalismen das eigentlich Jüdische allein favorisieren, befremdet uns das.

Da gab es grabschändende Hooligans. Da gab es unwissende Ignoranten, die nichts verstanden. Da gab es eifersüchtige neiderfüllte Parteifunktionäre. Gipfelnd in den beiden Georgiern an der Spitze der Sowjetunion. Dshugaschwili und Berija diffamierten und  exekutierten die jüdische Intelligenzia an ihrer Seite massenhaft. Obwohl durch Jahrhunderte die Georgier in Frieden mit ihren jüdischen Mitbürgern gelebt hatten.

Und wir Deutschen hatten die Ehrenburgs und Simonows. Lew Kopelew war mit Heinrich Böll und Christa Wolf befreundet. Mit den jüdischen Kulturoffizieren von 1945 gab es eine erste deutsch-sowjetische Freundschaft. Wer jiddisch beherrschte, sprach auch deutsch. In der Literatur, im Theater, im Film waren wir von Anfang an vereint.

Es waren nicht alles Engel und Musterknaben. Wo gibt es das auf der Welt? Da waren mehr Überzeugungstäter als Herrschsüchtige. Da waren so viele Kooperationen, frei von Hass und Zwietracht. Antisemitismus war ein schmutziges Fremdwort.