26. Jahrgang | Nummer 25 | 4. Dezember 2023

Der weite Weg zum Grab von S. J.

von Ursula Madrasch-Groschopp

Es begann 1946 bei der Weltbühne in der Mohrenstraße. S. J., das ist das Signum von Siegfried Jacobsohn. Von ihm wußte ich nur das, was er 1913 in einer Broschüre über seinen „Fall“ geschrieben, warum er 1905 ein eigenes Blatt aufgemacht hat. Im Laufe der Jahre las ich mehr über ihn als von ihm. Die Nachrufe, die dem Begründer der Weltbühne nach dem 3. Dezember 1926 gehalten wurden, sind ein Stück Literatur geworden und in den Sammelbänden von Tucholsky, Arnold Zweig, Alfred Polgar und Ossietzky aufgehoben. Zeitgenossen, die ihn liebten oder haßten, haben in ihren Memoiren Erlebtes und Anekdotisches erzählt.

Von der Gedenkfeier für den verstorbenen S. J., die am 19. Dezember 1926 im Deutschen Theater stattfand, habe ich von Pauline Nardi 1946 zum ersten Mal gehört: in ihrer Erinnerung war nur der trauernde Tucholsky geblieben. Ein Jahr später hat sie es dann aufgeschrieben: „Da trat ein Geschlagener stolpernd über die Stufen zum Rednerpult, hilflos, verlegen lächelnd über sein Mißgeschick, der endgültig allein gebliebene, einsame Kaspar Hauser. Er hatte den besten Freund und Lehrer verloren …“ Und da habe ich zum ersten Mal gefragt: Wo ist denn Siegfried Jacobsohn beerdigt worden? Sie wußte es nicht. In großen Zeitabständen, immer wenn alte Mitarbeiter auf ihn zu sprechen kamen, stellte ich die Frage erneut. Niemand wußte es. Alle vermuteten sein Grab auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee.

In einer so kleinen Redaktion – zwanzig Jahre waren wir nur zwei Redakteure – bleibt keine Zeit, ein Grab zu suchen, das nach so langer Zeit wahrscheinlich gar nicht mehr dasein würde. Doch 1976 hatte ich keine Redakteurpflichten mehr und begann erneut zu fragen. Zuerst bei der Jüdischen Gemeinde von Groß-Berlin; ob es überhaupt noch Unterlagen für den Hauptfriedhof in Weißensee aus dem Jahre 1926 gäbe? Erstaunlicherweise gibt es sie alle, von 1880 an; aber keine Spur von Jacobsohns Grab. Es könnte noch ein Erbbegräbnis auf dem Friedhof an der Schönhauser Allee gewesen sein, doch darüber existieren keine Verzeichnisse mehr. Man verwies mich an das Einwohnermeldeamt.

Da S. J. zuletzt in Berlin-Grunewald gewohnt hat, ließ ich beim Standesamt Wilmersdorf nachfragen. Auf einem gedruckten Blatt teilt man „Antragstellern“ mit, daß „während des Krieges aus Sicherheitsgründen die Personenstandsregister und -bücher der Berliner Standesämter (Jahrgänge 1874 bis 1943) sowie die Konsulats- und Kolonialregister“ in die Tschechoslowakei verlagert und 1951 an „Berlin (Ost) zurückgeführt“ worden seien. Vom Standesamt I unseres Magistrats erhielt ich eine Kopie von der Sterbeurkunde Siegfried Jacobsohns. Aber da ist natürlich kein Hinweis auf das Grab vermerkt, nicht mal das Geburtsdatum wurde 1926 notiert.

Weiterfragen! – Wer von den alten Mitarbeitern lebt noch, wer könnte etwas wissen? Martha Maria Gehrke hat Jacobsohn gut gekannt; sie hat ihm 1925 in der Sommerredaktion in Kampen geholfen. Darüber hat sie in der Weltbühne geschrieben. Doch M. M. Gehrke, die jetzt in München wohnt, wußte nichts von dem Grab; für sie war der streitbare, fröhlich arbeitende S. J. in der Erinnerung geblieben, „Aber fragen Sie mal bei Willi Wolfradt in Hamburg nach, auch Axel Eggebrecht müßte doch was wissen.“ Nein, beide wußten nichts. Mary Tucholsky! Ihr Gedächtnis ist trainiert, sie hat das großartige Tucholsky-Archiv aufgebaut. Und sie erinnerte sich tatsächlich an die Feier im Krematorium Wilmersdorf im Dezember 1926; aber wo die Urne beigesetzt wurde, das war untergegangen in den über fünfzig Jahren danach.

Also zum Krematorium Wilmersdorf. Dort lernte ich das Wort Aschenregister und einen jungen Mann kennen, der bereit war, in den Keller zu steigen, um zu suchen. Und er fand: „Siegfried Jacobsohn; Konfession evangelisch; Beisetzung der Urne am 26. März 1927 auf dem Südwest-Kirchhof der Synode Berlin in Stahnsdorf.“ In Stahnsdorf – fünf Kilometer von meiner Wohnung entfernt. Und da habe ich so lange und so weite Wege gemacht.

Der Südwest-Kirchhof ist ein beachtliches Areal, über zweihundert Hektar groß, über hunderttausend Grabstellen. Lovis Corinth und Heinrich Zille wurden hier beigesetzt, der Schauspieler Joachim Gottschalk und Rudolf Breitscheid, der in Buchenwald ermordet wurde, und viele andere Antifaschisten, deren Leben in Plötzensee endete.

Etwas beklommen betrat ich das Verwaltungsgebäude. Ein großer freundlicher Raum, auf dem Tisch ein Strauß frischer Birkenzweige, es war kurz vor Ostern. „Kann man heute noch feststellen, wo 1927 beerdigt wurde?“ – „Wen suchen Sie denn?“ – „Siegfried Jacobsohn.“ – „Einen Moment, bitte!“ Das klang erstaunlich sicher. Die liebenswürdige Dame ging an einen der großen Registraturtische und legte nach einer Minute die Grabkarte von Siegfried Jacobsohn auf den Tisch. „Hier wurde nichts eingeebnet seit der ersten Beisetzung im Jahre 1909, wenn Herr Jacobsohn einen Grabstein hatte, dann müßten Sie ihn auch noch finden.“ – So einfach war das. Nun bekam ich einen Plan ausgeliehen und genau beschrieben, wie ich zum Gartenblock Charlottenburg 2 gehen müßte.

Es war unendlich still, noch kein Besucher zu so früher Stunde, nur in der Ferne das Geräusch einer Baumsäge: es hat viel Schneebruch in diesem Winter gegeben, die Kiefern, Fichten und Birken sind sehr hoch. Ein Wald, in dem zwischen den Baumstämmen Grabsteine stehen, und drei bis vier Meter hohe Rhododendrons, eine südländische Landschaft, von festen und sauberen Wegen durchschnitten. Ich gehe am Heldenblock vorbei, so heißt ein Geviert mit Gräbern von Gefallenen des ersten Weltkrieges. Dann stehe ich vor dem Gartenblock 2, umrunde ihn, lese auf einem Grabstein: Franz Bracht, Reichsminister a. D.; über dessen „Zwickel-Erlaß“ wurde damals viel gelacht, eine Kindheitserinnerung. Ja, hier ist die Weimarer Zeit. Ich gehe von Stein zu Stein. Viele Schriften sind schon verwittert, oder die Natur ist über sie gewachsen … Rudolf Mendelssohn, 1858-1925, aufgelegte Metallbuchstaben; als seine Frau Martha 1934 starb, nur noch Farbe für den Namen. Es war schon die schlimme Zeit für Familien wie die Mendelsohns … Rechts ein paar Steinurnen: die Namen sind nicht mehr zu entziffern. Weiter! – Die Hoffnung sinkt.

Da, hinter Sträuchern versteckt, ein hoher, nicht geglätteter grauer Granitstein, klare, einfache Versalien eingemeißelt und mit dunkelbrauner Farbe ausgefüllt: HIER RUHT DIE ASCHE VON SIEGFRIED JACOBSOHN / GEB. 28. 1. 1881 /GEST. 3. 12. 1926.

Die Taxussträucher, die rechts und links vom Stein gepflanzt wurden, haben sich zu Bäumen gestreckt; eine Birke hat sich hinter dem Stein angesiedelt, und Mahonien sind zu bodenbedeckenden Ranken geworden. Die Farne sind noch zusammengerollt; wenn man genauer hinsieht, entdeckt man schon die ersten Blattspitzen von Waldanemonen.

„Hier könnte man durch Monde schweigen …“, so hat S. J. einmal die Stille in den Dünen der Insel Sylt beschrieben. Auch hier ist es so still.

Tucholsky nahm, bevor er am 26. März 1927 zur Beisetzung der Urne hierherkam, auf seine Art Abschied von S. J.: mit einem Gedicht. Es stand am 29. März 1927 in der Weltbühne.

 

Lücke von Theobald Tiger

 

Früher, wenn mal etwas Komisches war:

ein Rednerschwupper an Thron und Altar,

der Kindermund eines Filmgenerals,

der Duft eines Reichsgerichts-Skandals,

Adele Sandrocks herrlicher Baß,

ein dämlicher Kabinettserlaß;

wenn mit Recht ein Verleger Pleite gemacht,

wenn ein Tisch sich bei Schwannecke zerkracht –

dann tat eine innere Stimme befehlen:

Das mußt du gleich S.J. erzählen!

 

Dahin.

Jetzt sitz ich ganz allein.

Keinen hör ich vor Beifall schrein;

hör nie mehr das schmetternde Gelach,

nie mehr die Herzensfreude mit Krach …

Doch dreimal am Tage, wenn was passiert,

wenn die Filmzensur sich selbst parodiert;

wenn Lewald mit Polen zusammenschliddert,

wenn ein Parteivorstand um die Ämter zittert –:

dann denk ich: Das darf er nicht verfehlen –

Das mußt du gleich S. J. erzählen …

 

Das trudeln wir noch so dreißig Jahr.

Dann ist alles nicht mehr wahr.

Dann pflanzen sie uns mit Chorälen ein,

wir liegen still und ziemlich allein,

und die Seele steigt aus dem engen Verließ

mit der Pressekarte ins Paradies.

Dann will ich ihn wiedersehn.

Und alles, was bis dahin geschehn:

deine Arbeit und meine Malheure,

den letzten Radau der Regisseure,

eure Treue und unsre Mühn,

und die besten Witze aus ganz Berlin,

Manna für die unsterblichen Seelen –:

Das will ich dann alles S. J. erzählen.

 

Ursula Madrasch hatte 1946 unter Hans Leonhard bei der Weltbühne angefangen und war später bis zum Ende ihres Erwerbslebens, 1976, stellvertretende Chefredakteurin. Nach jahrelangen Recherchen veröffentlichte sie 1983 im Berliner Buchverlag Der Morgen den Band „Die Weltbühne. Porträt einer Zeitschrift“, der die Jahre vom Beginn 1905 bis zum Neustart 1946 nachzeichnete. Eine Nachauflage erschien 1999 im Augsburger Bechtermünz/Weltbild Verlag.

 

Leider ist es der Redaktion nicht gelungen, mögliche Inhaber der Rechte an den Weltbühne-Publikationen von Ursula Madrasch-Groschopp zu ermitteln. Wir bitten daher darum, sich gegebenenfalls mit uns in Verbindung zu setzen.