26. Jahrgang | Nummer 24 | 20. November 2023

Abschied

von Jutta Grieser

Zugegeben: Alles roch nach Abschied, weil die Sensoren darauf programmiert waren. Draußen jagten dunkle Wolken über die Bäume, die bereits fast kahl waren. Die Zusammenkunft fand gleichsam im Keller statt, draußen schauten die Fußgänger – pardon: die zu Fuß Gehenden – von oben durchs Fenster auf uns herab, und die prominentesten Vertreter im Rund machten darauf aufmerksam, dass dies die letzte Veranstaltung der Fraktion sei und gaben ihrer Hoffnung Ausdruck, dass man sich – hoffentlich, gewiss, wahrscheinlich – in „anderen Zusammenhängen“ wieder sehen werde.

Die Veranstaltung im Paul-Löbe-Haus zwischen Bundeskanzleramt und Reichstag, mit der an den Frankfurter Auschwitz-Prozess vor 60 Jahren erinnert werden sollte, war bestimmt geplant worden, als zwar der Haussegen in der Fraktion bereits schief hing, das Tischtuch aber noch nicht zerschnitten war. Auch als vor Wochen die Einladung erging, in der um Anmeldung gebeten wurde, schien es nicht so, als sei die Götterdämmerung bereits so weit fortgeschritten, dass man Teilnehmer eines Finales werden würde. Aber das war man nun.

Es lag nicht nur Melancholie über der Konferenz, sondern auch der Schatten einer Erklärung für den steten Niedergang der Partei und ihrer Fraktion seit Jahren: nämlich die Verbannung einer marxistischen Gesellschaftsanalyse aus ihrer Politik. Denn fast am Tagungsende fiel zum ersten Mal das vernehmlich gemiedene K-Wort. Es führte ein älterer Genosse aus Braunschweig mit einem Zitat von Max Horkheimer in die Diskussion ein. Horkheimer hatte am Vorabend des Zweiten Weltkrieges darauf aufmerksam gemacht, dass der Faschismus lediglich eine Methode sei, den Kapitalismus mit totalitären Mitteln aufrechtzuerhalten: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.“

Bis dahin hatte es eine Reihe vortrefflicher Beiträge gegeben, die sich mit dem Gegenstand der Konferenz beschäftigten. Jeder einzelne vermittelte auf seine Weise Neues und Wissenswertes. Aber die Gretchen- und Systemfrage war nicht gestellt worden. Oder um ein anderes Bild zu bemühen: Nicht einer redete über den Wald, jedoch alle über die Verschiedenartigkeit des Unterholzes.

Jan Korte, seit 2005 im Bundestag, hatte als Kulturpolitischer Sprecher, nicht als Parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktion, die Konferenz eröffnet. Und schlug den Grundton an: eine völlig berechtigte Hommage auf Fritz Bauer. Der hessische Generalstaatsanwalt hatte sich in der antikommunistischen, stockkonservativen, reaktionären Bundesrepublik („Wenn ich mein Büro verlasse, betrete ich Feindesland“) maßgeblich für die juristische und damit auch die politische Aufarbeitung der Naziverbrechen engagiert. Die Auschwitz-Prozesse in Frankfurt am Main in den 60er Jahren waren im Prinzip durch ihn initiiert worden. Korte erwähnte, dass 2005 seine Fraktion mit einer Konferenz an das KPD-Verbot vor 50 Jahre erinnert hatte. Das mag man heute kaum glauben. Der inzwischen 46-jährige studierte Historiker und Soziologe Korte gehörte nie zu den geschichtsvergessenen Funktionären dieser Partei. Er stritt in seinen Parlamentsjahren weitaus stärker als andere für die Rehabilitierung der Opfer der Nazidiktatur und des Kalten Krieges. Das trug ihm die Beobachtung durch den Verfassungsschutz ein. Tempi passati.

Auf ihre Weise tat dies auch Petra Pau, die hin und wieder wie Korte hinüber in den Plenarsaal eilte, um an irgendwelchen Abstimmungen teilzunehmen. Sie erinnerte an die Entscheidung im Bonner Bundestag 1999, in Berlin ein Holocaust-Mahnmal zu errichten. Zehn Jahre lang war darüber öffentlich debattiert worden. Eine Mehrheit votierte schließlich für das Stelenfeld – aber 209 Bundestagsabgeordnete votierten dagegen, 14 enthielten sich der Stimme. Heute sitzt eine Partei im Bundestag, die von einem „Denkmal der Schande“ spricht. Einer der Wortführer dieses unsäglichen Vereins will in Thüringen Ministerpräsident werden. „Diese dämliche Bewältigungspolitik“, so Höcke, „die lähmt uns heute noch. Wir brauchen nichts anderes als eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad.“

Eine wichtige Kraft, die sich allen Versuchen einer „erinnerungspolitischen Wende“ entgegenstemmte, wird es vermutlich im Bundestag bald nicht mehr geben. Die „massive Diskursverschiebung“ (Pau) wird weitergehen, eine Fortsetzung von „hunderten parlamentarischen Initiativen der PDS/Die Linke“ nicht mehr geben. Und das in einer Zeit, in der sich Antisemitismus und Rassismus, Nationalismus und Fremdenhass ausbreiten. Sie sei, so Pau, nach 25 Jahren Parlamentsarbeit „angefasst“. Das merkte man ihr auch an. Sie verabschiedete sich mit dem Appell, gegen das Vergessen zu kämpfen, andernfalls werde die Vergangenheit wieder Zukunft. – Dann zog die Bundestagsvizepräsidentin wieder ins parlamentarische Gefecht. Nebenbei: Sollte dieser Bundestag bis zum Ende der Legislatur bleiben, ginge sie in die Geschichte ein als das am längsten amtierende Mitglied des Präsidiums. In diesem Kontext sollte nicht verschwiegen sein, dass Petra Pau allein Ende 2014 an die 40 Morddrohungen erhielt, weil sie sich für eine Flüchtlingsunterkunft in ihrem Wahlkreis Marzahn-Hellersdorf engagiert hatte.

Wenngleich an diesem Tage geladene Wissenschaftler und Staatsangestellte den Hauptteil bestritten, richtete sich der Fokus zwangsläufig auf die beiden aktiven Politiker. In dieser Eigenschaft würde man sie nicht wieder erleben. Doch dass sich diese Partei nunmehr aus der Geschichte verabschieden würde, ist natürlich – bei allem Respekt – diesen beiden ebenfalls zuzuschreiben, weil auch sie das Abgleiten in die Bedeutungslosigkeit nicht hatten verhindern können und damit objektiv ihr Scherflein zur Katastrophe beigesteuert haben. So ist das mit der Dialektik.

Wie erwähnt weiteten die geladenen Experten, honorige und renommierte Wissenschaftler, den Horizont der Anwesenden. Dr. Katharina Rauschenberger vom Fritz-Bauer-Institut in Frankfurt am Main beschäftigte sich mit der Rolle des DDR-Nebenklägers Friedrich Karl Kaul, der polnische Historiker Dr. Filip Ganczak mit seinem Landsmann Jan Sehn, der eng mit Bauer kooperiert hatte. Sehn erlag zwei Tage vor Prozessbeginn in einem Frankfurter Hotel mit 56 Jahren einem Herzinfarkt. Bemerkenswert der Beitrag von Prof. Dr. Michael Wildt, geboren in Essen, jetzt Humboldt-Universität zu Berlin, zur Radikalisierung der gesellschaftlichen Mitte in der Nazibewegung. Er machte klar, dass die Zäsur nicht 1933 erfolgte, sondern bereits drei Jahre zuvor mit den Präsidialdiktaturen von Brüning, Papen und Schleicher. Und dass einerseits in der ungeliebten Weimarer Republik der propagandistische Kampf gegen den jüdischen Bolschewismus in den Medien geführt und andererseits undemokratische Ziele mit demokratischer Legitimation durchgesetzt wurden. Bei der ersten Sitzung des Hitler-Kabinetts beispielsweise wurde die Frage gestellt, wie man mit KPD, SPD und anderen oppositionellen Kräften umgehen solle. Minister und Medienzar Alfred Hugenberg – er kontrollierte die Hälfte der deutschen Presse – sagte: Verbieten! Hitler hingegen: Deren Wähler kann man nicht verbieten. So ließ denn das faschistische Regime im März 1933 wählen. Der Unrechtsstaat verschaffte sich mit über 17 Millionen Stimmen für die NSDAP (43,9 Prozent) und den 8 Prozent von Hugenbergs und Papens Kampffront Schwarz-Weiß-Rot, dem Wahlbündnis aus Deutsch-Nationaler Volkspartei (DNVP) und Stahlhelm, die Parlamentsmehrheit. In den Augen der Mehrheitsgesellschaft erfuhr das Regime scheinbar eine demokratische Legitimation. Dieses Trugbild wirkte zumindest in einem Teil Deutschlands jahrzehntelang nach und rechtfertigte alles.

Dr. Anna Corsten beleuchtete die westdeutsche Historikerzunft nach 1945 und wie sich diese mit allen Mittel gegen die Erforschung von Nazizeit und Judenverfolgung gesträubt hatte. Bezug nehmend auf den Historikerstreit in den 80er Jahren sprach sie von einem gegenwärtigen Historikerstreit 2.0. Damals hatte Ernst Nolte eine Debatte losgetreten, in der es im Kern um die Entschuldung des Nazireiches ging, indem er den Holocaust als Reaktion auf die GuLags interpretierte. Heute gehe es um die Beantwortung der Frage, ob der Kolonialismus nicht Wegbereiter der Genozide im 20. Jahrhunderts gewesen sei. Stichwort: deutsche Kolonialverbrechen an Herero und Nama. Und auch um die Klärung der Frage, ob nicht die Betonung der Einzigartigkeit des Holocaust dazu geführt habe, dass andere Erinnerungen an ähnlichen Verbrechen nicht die ihnen gebührende Aufmerksamkeit fanden. Etwa an Sinti und Roma, „Asozialen“ und „Berufsverbrechern“, Homosexuellen und Euthanasieopfern … Jedes Massenverbrechen war und ist einzigartig (Wildt).

Besonders intensiv um Auskunft gebeten wurde Oberstaatsanwalt Thomas Will, Leiter der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg, der auch auf die Prozesse gegen heute uralte Greise einging. Demjanjuk, der im Vernichtungslager Sobibor Wache schob, war 2011 wegen Beihilfe zum Mord an mehr als 28.000 Menschen verurteilt worden, ohne dass ihm ein einzelner Mord nachgewiesen wurde. Das sei in der (west-)deutschen Rechtsprechung eine Wende gewesen. Das Landgericht in München verurteilte Demjanjuk, weil er sich wissentlich und willentlich in das Räderwerk der Tötungsmaschinerie hatte einbinden lassen. Im Gefolge dieses Verfahrens befand der Bundesgerichtshof in einem Grundsatzurteil 2016, dass der Nachweis einer einzelnen Tat nicht erforderlich sei. Es genüge, wenn einer oder eine zum Tatzeitpunkt in einem Vernichtungslager anwesend war und um das Geschehen wusste. Mit dieser – in der DDR üblichen Rechtsauffassung – wurde es möglich, weitere Täter zu verurteilen. Wobei es weniger um die Höhe der Strafe als um die Tatsache ging, dass sich Anwesende strafbar gemacht hatten allein durch ihre Präsenz und diese objektive Billigung von Verbrechen ihnen nicht nachgesehen wurde. Allein das war den Opfern wichtig, betonte beispielsweise der Sohn von Kurt Goldstein, dessen Vater Auschwitz und Buchenwald überlebt hatte.

Den einzig genuin ostdeutschen Beitrag lieferte der Gothaer Rechtsanwalt Ralph Dobrawa. Er hatte mit dem 1981 verstorbenen Friedrich Karl Kaul zusammengearbeitet. Als Zeitzeuge widersprach er der auch hier geäußerten Auffassung, dass Kaul als Nebenklagevertreter im Auschwitz-Verfahren und anderen Prozessen als Propagandawerkzeug der SED agiert habe. „Das war keineswegs so. Seine eigenen Erfahrungen mit dem Faschismus hatten ihn geprägt, weshalb er sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit dagegen wandte, dass die Tat ungesühnt blieb oder die Täter milde bestraft wurden.“ In Frankfurt am Main und anderenorts habe Kaul Rechtspositionen im Gerichtssaal vorgetragen, „die bis dahin die westdeutsche Rechtsprechung zu Nazi-Gewaltverbrechen nicht kannte. Das betrifft einerseits die Anwendung von Völkerrecht und die Einstufung der Taten als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und andererseits die Kennzeichnung, dass es sich bei den verübten Delikten nicht um konventionelle Kriminalität handelte, sondern um solche, die staatlicherseits gewollt und gefördert wurde.“ 2016 habe der BGH endlich diese Rechtsauffassung bestätigt.

Mitveranstalter dieser bemerkenswerten Versammlung war die parteinahe Rosa-Luxemburg-Stiftung. Auch sie bangt um ihre Zukunft. Am Tage der Konferenz verbreitete das gleichfalls um seine Existenz ringende einstige Zentralorgan die Nachricht, auf einer Belegschaftsversammlung habe die Stiftungsleitung „weitreichende Personal- und Strukturveränderungen“ angekündigt. Man müsse sich ab 2026 „auf deutlich geringere finanzielle Mittel“ einstellen. Schon jetzt bekomme man „die seit 2011 tendenziell rückläufigen Ergebnisse der Linken bei Bundestagswahlen“ bei den Zuwendungen zu spüren. Erst recht, wenn es denn keine Bundestagsfraktion mehr geben sollte.

Alles riecht nach Abschied …