26. Jahrgang | Nummer 22 | 23. Oktober 2023

Menschliche Tiere?

von Michael Geiger

Erst der brutale Stellungskrieg in der Ukraine, nun die verheerenden Terroranschläge gegen Israel, all das schockt, empört und radikalisiert auch die Sprache. Ist die Formulierung des israelischen Verteidigungsministers angesichts der Terroranschläge gegen Israel, dass die Hamas-Milizen nichts als „menschliche Tiere“ seien eine zu legitimierende Äußerung? Ist die Formulierung Ausdruck einer Ent-Rüstung oder ist es vielmehr ein neues Glied der sich drehenden Spirale der Auf-Rüstung? Seit tausenden von Jahren grenzen sich Menschen aus und verteufeln sich wechselseitig. Können die Menschen nicht anders? Was sagt die Wissenschaft dazu?

In der heutigen Zeit geht die Annahme eines Aggressions-Triebes auf Sigmund Freud zurück, der angesichts der Grausamkeiten des Ersten Weltkrieges so überwältigt war, dass er ein Erklärungsmuster in der genetisch fest verankerten Triebkultur des Menschen sah. Später wurde diese Annahme durch einen anderen großen Gelehrten gestützt, durch den Zoologen und Verhaltensbiologen Konrad Lorenz. Die Millionen Toten der zwei Weltkriege und vor allem die grausamen Massaker an der Zivilbevölkerung schienen keine anderen Erklärungen zuzulassen. Auch wissen wir um die Vielzahl der nachfolgenden Kriege, auf allen Kontinenten, zu allen Zeiten und zwischen den verschiedensten Gesellschaftssystemen und Staatsformen. Die These, dass Kriege unvermeidbar seien und dass der „Wolf tief im Menschen“ sitze (zumindest bei einigen), scheint unerschütterlich.

Unter dem Stichwort „Krieg“ finden sich bei Google 294 Millionen Einträge und unter „Frieden“ nur 83 Millionen. Die Anzahl der „Treffer“ ist gewöhnlich ein grobes Indiz für die Aufmerksamkeit gegenüber der Realität des Hashtags. Um den Begriff des „Krieges“ tobt selbst ein Krieg. Wer die Köpfe beherrscht, beherrscht auch die Schlachtfelder. Welche Argumente sprechen dafür, dass die Annahme eines im Menschen verankerten Aggressionstriebes nicht mehr zu halten ist? Ein gewichtiges Argument sind neuerlichen Forschungen zur Rolle der „innerartlichen Gewalt“ im Tierreich. Eine „Rasterfahndung“ im Säugetierstammbaum lieferte neue Fakten für die Frage, wieviel Gewalt innerhalb der gleichen Art sich im genetischen Erbe des Homo sapiens befindet. Wissenschaftler der Universität von Granada haben erstmalig systematisch vier Millionen Fälle tödlicher innerartlicher Gewalt bei 1024 Säugetieren aus 137 verschiedenen Familien und 50.000 Jahren Stammesgeschichte ausgewertet. Ergänzend untersuchten sie Fälle von Mord und Totschlag bei 600 verschiedenen menschlichen Populationen – und das von der Steinzeit bis in die Gegenwart. Die Ergebnisse sind eindeutig. In der gesamten Gruppe der Säugetiere findet sich innerartliche Gewalt. Wenngleich der Tötungsdelikt, als extreme Form von Gewalt, im Durchschnitt nur bei rund 0,3 Prozent vorkommt.

Die Forscher fanden heraus, dass es einen klaren evolutionären Trend gibt. Je näher die Stammesgeschichte den Primaten kommt, desto höher liegt die Rate der innerartlichen Aggression, zum Schluss bei 2,4 Prozent Interessant ist, dass das Aggressionspotential steigt, je höher die territorialen Bindungen und die Ausprägung einer sozialen Lebensweise in Gemeinschaften ist. Die Forscher aus Granada kommen zu dem Schluss: „Der Mensch hat seine Neigung zur Gewalt stammesgeschichtlich geerbt.“ Und doch hat der israelische Minister in wissenschaftlicher Hinsicht nicht recht, wenn er terroristische Kämpfer der Hamas als „menschliche Tiere“ bezeichnet. Die 2,4 Prozent bei den Primaten stehen in keinem Verhältnis zu den zeitweiligen 15 bis 30 Prozent der Tötungsdelikte, die die Art des Homo sapiens auszeichnete. Im Gegenteil. Der Fortschritt menschlicher Zivilisation hat nachweislich einen immer größeren Prozentsatz des Einsatzes von Gewalt mit sich gebracht, der tödlich endete. Dieses Verhalten ist nicht einfach dem Tierreich anzulasten, sondern menschengemacht. Die zigfache „Over-kill“ Kapazität allein der 9576 nuklearen Sprengköpfe haben Menschen entwickelt, um andere zu töten. In Hiroshima gelang die sofortige Tötung von 22.000 Menschen allein durch einen Piloten mit dem Abwurf nur einer Bombe. Es könnte sich der Gedanke aufdrängen, dass der Mensch mit seiner Zivilisation einen Rückschritt hinter das Tierreich darstellt.

Aber auch die These, das menschliches Verhalten durch einen Aggressionstrieb gesteuert wird, ist durch moderne Erkenntnisse der Hirnforschung nicht zu halten. Bei Charles Darwin finden wir keinen Aggressionstrieb im Sinne eines „hydraulischen Prinzips“ der sich aus den Tiefen der menschlichen Seele speist. Was wir finden, ist ein „reaktives Verhaltensprogramm“, welches zur Auslösung provozierende äußere Reize bedarf. Nehmen wir das Bild „glückliche Hühner“ auf einem Freilandgelände. Lässt sich dort aggressives Verhalten feststellen? Sicherlich nicht solange eine artgerechte Tierhaltung erfolgt. Von asiatischen Bauern-Märkten sind hingegen Käfige bekannt, in denen Kampfhähne gehalten werden. Der Entzug von Futter, die Haltung im Käfig, die Bewaffnung mit Eisensporen an den Krallen, all das führt zur Aggressivität innerhalb der gleichen Art. Es sind von Menschen künstlich geschaffene Bedingungen, die aggressives Verhalten der Tiere befördern und keine innere Trieb-Struktur.

Menschliches Verhalten funktioniert ähnlich. Erst wenn die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse durch das Verhalten anderer beeinträchtigt wird, reagieren Menschen aggressiv. Wie so häufig werden Ursachen, Bedingungen und Folgen verwechselt bzw. nicht differenziert. Die Sicht Darwins wurde durch Ergebnisse modernen Hirnforschung bestätigt. Danach sind Gewalt und Mord keine unausweichlichen biologisch geprägte Verhaltensprogramme. Auch neuerliche Versuche egoistisches Verhalten so zu interpretieren, ist neurobiologisch nicht zu halten. Das „egoistische Gen“ ist nicht auffindbar. Im Gegenteil. Das evolutionäre Erfolgsrezept des Menschen war nicht die Stärke noch Mordlust, sondern Vernunft und Kooperation. Der Trieb zu töten ist auch beim Menschen nicht nachweisbar. Als Trieb gelten nur solche Strebungen und Versuchungen, die eine Aktivierung der Motivationssysteme bewirken. Dadurch erfolgt die Ausschüttung von Botenstoffen, die ein Wohlfühlen zur Folge haben. Das Belohnungszentrum springt bei aggressivem Verhalten im Scanner nicht an. Der Mensch verfügt lediglich über eine aggressive Verhaltensdisposition, die immer dann aktiviert wird, wenn elementare Grundbedürfnisse wie Nahrung, Sexualpartnerschaft oder überlebensnotwendige Umweltbedingungen nicht realisierbar erscheinen.

Reaktives aggressives Verhalten macht insofern Sinn, als es der Bewältigung „äußerer Verhältnisse“ dient, die Auslöser von Angst und Bedrohungen sind. Was sind das für äußere Auslöser? Auch dazu gibt es gesicherte Erkenntnisse. Aggressives Verhalten wird bei Menschen immer dann provoziert, wenn Schmerzgrenzen überschritten werden. Schmerzen stellen sich ein, wenn ein wesentlicher Verlust an Trieb-Realisierung droht. Hunger, Durst, fehlende Sexualpartner, Verlust an Sicherheit, verursacht durch lebensbedrohliche Gefahren, wie Naturereignisse, Krankheiten oder eben Kriege und Unterdrückung. Auch der Verlust an Sicherheit, wie es mit dem Job weitergeht, wie sicher das Geld ist, ob die Wohnung bezahlbar bleibt, wie stabil die Rente ist etc. – all diese Unsicherheiten befördern den Kampf um knappe Ressourcen und führen zur Steigerung aggressiven Verhaltens. Seit einigen Jahren lässt sich im Kernspintomographen nachweisen, das soziale Ausgrenzung die Zentren der Schmerzwahrnehmung aktiviert. Einsamkeit, wird inzwischen als Verursacher vieler „Volkskrankheit“ anerkannt. Folgerichtig wurde 2018 in Großbritannien dafür ein eigenes Ministerium geschaffen. Verachtung, Demütigung, Herabsetzung, Zurückweisung all das sind „aus der Sicht des Gehirns“ auslösende Faktoren für aggressives Verhalten. Nicht zufällig zählt seit dem Mittelalter Einzelhaft zu den schmerzhaftesten Foltermethoden. Über einhundert Jahren sind diese Zusammenhänge bekannt. Nunmehr lassen sie sich naturwissenschaftlich nachweisen.

Unter diesem Gesichtspunkt bekommt die Ausgrenzung anderer Menschen, auch wenn es die erbittertsten Feinde sind, eine andere Bedeutung. Ausgrenzungen sind Vorstufen oder Formen einer De-Humanisierung. Ausgrenzungen sind immer selbst Quelle neuer Aggressionen.