26. Jahrgang | Nummer 21 | 9. Oktober 2023

Die lesende Schulzentochter

von Dorothea Renckhoff

Ja, was ist eine Schulzentochter? So fängt für manchen die Unlust am Lesen an: Da steht ein ungewöhnliches Wort, das man nicht kennt, dessen Bedeutung man nicht weiß. Man schreckt zurück – und bringt sich damit vielleicht auf lan­ge Zeit um ein großes Glück. Schulze, das war früher auf dem Land eine Art Ortsvorsteher, fast so viel wie ein Bürgermeister. Ein hochgeehrter Mann, meist wohlhabend.

Die Urgroßmutter meines Großvaters, Henrietta Sibylla Margarete Christiane, war die Tochter eines Schulzen. Sein Hof war der größte in der Gegend an der Ruhr; er war sehr angesehen, und das nicht nur, weil er sich sonntags Zucker auf seinen Braten streute; das war allgemein bekannt, und jeder konnte daran seinen Reichtum ablesen. Zucker war teuer um 1800! Aber meine Ur-Ur-Urgroßmutter hatte eine andere Leidenschaft, sehr viel kostspieliger als der Verzehr von Süßem: Sie las.

Sie heiratete auf den zweitgrößten Hof der Gegend und bekam vier Kinder. Und sie las noch immer. Es hieß, sie habe ihren Haushalt und die Arbeit auf dem Hof vernachlässigt. Aber war das vielleicht üble Nachrede, wie sie oft diejenigen trifft, die sich ungewöhnlich verhalten?

Denn eine lesende Bauersfrau war im Preußen jener Zeit mehr als ungewöhn­lich. Und vielleicht hat sie wirklich manchmal das Essen zu spät auf den Tisch ge­bracht für die Vielen, die hungrig ins Haus kamen – Kinder, Mägde, Knechte. Zu spät, weil das Buch, das sie gerade las, sie zu weit fortgelockt hatte, in ein fernes, anderes Dasein, aus dem an den Herd zurückzukehren so schwer war.

Aber woher, frage ich mich heute, ist ihr diese sehnsüchtige Gier nach Ge­drucktem gekommen? Wie hat sie sich überhaupt ihren Lesestoff beschafft? Und was suchte sie in den Büchern?

Es muss etwas gewesen sein, das sie glücklicher machte als gutes Geschirr und volle Schüsseln auf dem Tisch, als reiche Leinenwäsche in den Truhen, als die Goldmünzen im Kasten, wenn der Ertrag einer guten Ernte sich in Edelmetall verwandelt hatte. Etwas, das ihr wertvoller erschien als der Ehrenplatz in den Kir­chenbänken – ihr Mann war Kirchenältester – und köstlicher als Zucker im neuen Getränk Kaffee oder gar auf dem Braten.

Es waren die Geschichten, die sie las, die ihr den Weg in eine eigene Welt öffneten, eine Welt, die ihr Dinge und Lebewesen zeigte, die sie nie gesehen, von deren Existenz sie nicht einmal geahnt hatte. Aber es war auch die Sprache, die sie in den Büchern fand, eine Sprache, die anders und schöner war als die Ausdrucks­weise der Menschen in ihrem Alltagsleben.

Heute, mehr als 200 Jahre später, in einem von Grund auf gewandelten Da­sein, das sich in immer rasenderer Schnelligkeit weiter wandelt – heute ist dieses Etwas, das glücklich macht, immer noch da, kostbarer als jeder Besitz und köstli­cher als alle Delikatessen. Noch immer findet es sich in den Büchern.

Es findet sich in Büchern, wo die Phantasie des Autors Leser und Leserin entfuhrt in eine andere Wirklichkeit. Da weitet sich das Leben der Lesenden und lässt eine unbegrenzte Zahl von Existenzformen zu, wie sie kein Mensch in einem einzigen realen Dasein erfahren kann. Lesend bereist man exotische Welten, ebenso wie Gedanken und Herzen von Menschen, die unsere Nachbarn sein könnten; man erlebt Begegnungen mit Urzeitriesen wie auch mit Außerirdi­schen, mit Hexen, Zauberern, Bettlern und Beamten, Millionären, Künstlern und Schweinezüchtern. Alles ist möglich in der Vielfalt der Geschichten, wie Bücher sie bergen.

Doch es sind nicht die Geschichten allein, die das Glück vermitteln, es ist die Sprache, die uns in das Geschehen hineinzieht mit einer jedem Autor auf seine Weise eigenen Spannung zwischen den Worten, innerhalb der Sätze und von Satz zu Satz.

Vielleicht wird man sich lesend der Verkümmerung bewusst, die unsere Spra­che in vielen Lebensbereichen kennzeichnet. Grammatikalische Fehler, Schrump­fen des Wortschatzes, sinnwidrig gebrauchte Ausdrücke finden sich heute nicht nur in der mündlichen Umgangssprache, sondern ebenso in Tageszeitungen oder Hörfunknachrichten, die als ernstzunehmende Organe von öffentlicher Meinungs­bildung gelten wollen.

Das größte Elend in dieser Hinsicht ist in der Vielzahl von TV-Serien zu erle­ben, mit der die Sender ihre Zuschauer überschwemmen. Da herrscht eine ver­kümmerte Restsprache, von deren platten Floskeln und Redewendungen die Fern­sehgeräte überquellen wie im Märchen das Töpfchen mit dem süßen Brei. Dieser auf ein Mindestmaß an Ausdrücken reduzierte Sprachbrei ist nicht süß – und ist doch längst in Köpfe und Münder der Zuschauer gedrungen und dort heimisch ge­worden: „Wir müssen reden. – Wie war dein Tag? – Scheiße. – Echt traurig. – Was geht? – Lass uns reden. – Ok? – Ok- Passt super. – Fick dich. – Wir müssen re­den.“ Längst wird dieser Brei als Alltagssprache aus Millionen Mündern gerülpst und landet im privaten wie im öffentlichen Raum – überall, wie Erbrochenes am Straßenrand. Und das ist er auch – Kotze mit ein paar kaum noch kenntlichen Sprachbrocken drin. „Wir müssen reden.“ Aber reden, miteinander reden, so dass der Eine auf den Anderen hört, das kann man mit dieser Sprachkotze nicht mehr.

Auseinandersetzungen werden heute in einer immer mehr aus primitiven Bruchstücken bestehenden Restsprache geführt, mit der keine Möglichkeit zu verständlichem Ausdruck von Gefühlen und Gedanken geblieben, mit der kei­ne Nuancierung mehr möglich ist. Solche wachsende Unfähigkeit zu zivilisierter oder gar kultivierter Form der Diskussion endet in Sprachlosigkeit, mündet in Schweigen oder Geschrei – und schließlich in Feindseligkeit, in Hass und Gewalt.

Im gesamten deutschen Sprachraum diskutieren wir über Gendern und Nichtgendern, verbieten einander Worte, die angeblich nicht mehr sagbar sind, ohne zu merken, wie uns die Sprache im Munde verdorrt. Denn über den großen Hobel spricht niemand, diesen Hobel, der unsere Sprache in weiten Bereichen – und beileibe nicht nur in Fernsehserien! – geradezu herunterschmirgelt auf ein flaches Brett ohne Schönheit, ohne Ausdruckskraft, ohne die Macht, die Sprache eigent­lich hat und haben sollte.

In Büchern ist sie oft noch zu finden, diese Sprachkraft, die den Leser in die ausgefallensten und merkwürdigsten Geschichten hineinziehen kann. Immer vorausgesetzt, Autor oder Autorin biedern sich nicht bei einem vermeintlich bei der Leserschaft vorherrschenden Geschmack an, dem nur noch das „Wir müssen reden“-Niveau verständlich ist.

Welche Freude es bedeutet, sich auf anderen Sprachebenen zu bewegen als der von Umgangs- oder gar TV-Seriensprache, ist leicht zu entdecken, sobald man sich auf das Buch eines ernsthaften Autors einlässt. (Damit sind durchaus auch Humoristen gemeint.) Sobald man die kahle Ebene verkümmerter Floskeln, plat­ter Redewendungen und abgegriffener Allgemeinplätze verlassen und sich auf die blühende Vielfalt einer Autorensprache eingelassen hat, erlebt man einen Wandel, als erreiche man nach dem Durchwandern einer verdorrten Steppe unter sengen­der Sonne eine blühende Wiese mit einem murmelnden Bach am Waldrand. Der Erfrischung folgt die Freude an Blumen und Gräsern, kleinen Erdbeeren am Weg­rand, Käfern und Schmetterlingen, an immer mehr, was zu entdecken ist. Nämlich Wendungen und Ausdrücke, die manchmal wenig gebräuchlich sein mögen, die aber der beschriebenen Situation angemessen sind wie ein gut sitzender Hand­schuh. Ein Sprachrhythmus, der den Leser berührt und mitnimmt. Und ja, auch außergewöhnliche Worte, merkwürdige Ideen, erstaunliche Bilder. Alles, was ei­nem Leser, einer Leserin in seinem, ihrem eigenen und eben einzigen Leben nicht begegnen kann.

Etwa so:

„Weit draußen auf dem Meer ist das Wasser ganz blau, wie die Blütenblätter der schönsten Kornblume, und ganz durchsichtig, wie das reinste Glas, aber es ist sehr tief, tiefer, als eine Ankerkette reicht, viele Kirchtürme müssten übereinandergesetzt werden, um vom Grunde bis über das Wasser zu reichen. Dort unten wohnen die Meerleute.“
(Hans Christian Andersen, Die kleine Meerjungfrau, 1837. Deutsch von Thyra Dohrenburg)

„Eng umkreist von ihren Geschwistern stieg Hespera die schöngeschweifte Treppe ihres heimatlichen Hauses empor.“
(Annette Kolb, Die Schaukel. 1899)

„Als ich ein anderes Mal im Gebirge der Kordilleren auf eine Schar von ster­benden Kindern stieß, die der Hunger und die Angst aus den verödeten Dörfern hinaus in das wüste Pajonal getrieben hatte, weinte ich über das, was der Mensch ist und was er versäumt zu sein.“
(Jakob Wassermann, Das Gold von Caxamalca, 1923)

„In dieser Nacht fuhr auf seiner Burg zu Prag der Kaiser des Römischen Rei­ches, Rudolf II., mit einem Schrei aus seinem Traum.“
(Leo Perutz, Nachts unter der steinernen Brücke, 1924/1951)

„Wie Geister flohen die Buchstaben von der Karte, als hätten sie niemals dort gestanden, als wären sie niemals durch ein paar Tintenstriche verbunden gewe­sen.“
(Christoph Poschenrieder, Die Welt ist im Kopf, 2010)

„Herr Wendelin verharrte noch immer in seiner Verbeugung und sog den Parfumduft ein, der den Damen wie eine Schleppe nachflog.“
(Thomas Hürlimann, Dämmerschoppen, 2016)

Das ist das Glück, das dem Leser eine gut erzählte, gut geschriebene Geschich­te vermittelt.

Wer es kennt, der will nie mehr darauf verzichten. Der kann und will sich sein Leben ohne dieses Glück nicht mehr vorstellen. Wer es nicht kennt, sollte es ver­suchen, um keine wunderbaren Erlebnisse zu versäumen. Mir hat Henrietta Sibylla Margarete Christiane die Sehnsucht nach den Büchern über viele Generationen hinweg vererbt, und ich sende ihr meinen Gruß.

 

Ossietzky, 15/2023. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Verlages und der Autorin.