26. Jahrgang | Nummer 19 | 11. September 2023

Zur Demokratie

von Stephan Wohanka

„Die Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen,
abgesehen von allen anderen …“

Winston Churchill

 

„Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer.“

Francisco de Goya

 

Es ist leider in eine Binse festzustellen, die (liberale) Demokratie sei unter Druck geraten. Wohl jedem, der sich im Politischen tummelt, dürfte es begegnet sein – das „Böckenförde-Diktum“, benannt nach dem gleichnamigen Juristen: „Der freiheitliche, säkularisierte Rechtsstaat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Weniger bekannt ist der Satz des Philosophen Karl Jaspers, der auf das Dilemma demokratischer Systeme verweist: „Die Demokratie setzt die Vernunft des Volkes voraus, die sie erst hervorbringen soll.“ Ernst-Wolfgang Böckenförde spitzt weiter zu: „Woraus lebt der Staat, worin findet er die ihn tragende, homogenitätsverbürgende Kraft und die inneren Regulierungskräfte der Freiheit, deren er bedarf, nachdem die Bindungskraft der Religion für ihn nicht mehr essenziell ist und sein kann?“ Auch diesen Satz kann man „demokratisch wenden“; Antwort erheischte dann die Frage: Was tritt in der Demokratie an die Stelle der „Bindekraft der Religion“?

Die Religion wurde – wenn man so will – ihrer „Bindekraft“ beraubt durch die Säkularisierung, durch die mit Humanismus und Aufklärung ausgelösten Prozesse der Verweltlichung. Mit der Aufklärung ist der Denkvorgang benannt, der das Streben nach bürgerlicher Freiheit und das Entstehen eines neuen profanen Bewusstseins in Gang setzte. Die Vernunft (Rationalität) und ihr Gebrauch wird zum Maßstab allen menschlichen Handelns. Nur was mit dem Verstand begründet werden kann, was beweisbar ist, kann als Richtschnur des eigenen Verhaltens gelten. Damit einhergehend wurden bestehende Herrschaftsstrukturen hinterfragt und gestürzt, was zu grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen führte. Letztlich eben auch zur Demokratie … Die Aufklärung lieferte sozusagen die apriorische Idee des modernen Demokratiebegriffs und setzte die Vernunft an die Stelle der Religion als „Bindekraft“.

Heute scheint die Demokratie hierzulande so breit aufgestellt zu sein wie noch nie. Und namentlich der – vermeintlich – demokratische Diskurs. Es darf und kann jeder zu beinahe jedem Thema seine Meinung sagen, seine „Gefühle“ äußern, seine Empfindsamkeit zur Schau stellen und seine partikularen Interessen formulieren. Phänomene dazu gibt es zuhauf; sowohl auf linker wie auf rechter Seite.

Was auf den ersten Blick fortschrittlich und gerecht, „links“ klingt, nimmt teilweise bedenkliche, ja militante Züge an, verbunden mit der Stigmatisierung Andersdenkender. Oft nur marginale Gruppen verschaffen sich Gehör, fordern Verbote und Boykotts von Personen oder Kulturgütern (cancel culture), die ihrer Ansicht nach Unrecht begehen oder gegen die von der Gruppe gesetzten (moralischen) Normen verstoßen. Aktivisten, die sich hinter diesen Verbotsforderungen und Aktionen versammeln, werden als woke bezeichnet oder sehen sich selbst so – als in hohem Maße politisch und namentlich gegen rassistische und sexistische Diskriminierung Engagierte.

Auf der anderen Seite des politischen Spektrums wird in Teilen noch ganz anders vom Leder gezogen; diese Art von Pöbeleien, Invektiven, Drohungen sollen hier nicht weiter interessieren. Wohl aber programmatische Schlüsselworte wie der „Große Austausch“ oder „Great Reset“. Sie stehen für Verschwörungsmythen, deren bestimmendes Ideologieelement die Angst vor „Fremden“ ist – in Gestalt sowohl von Menschen als auch von Weltanschauungen. Die angestammte Bevölkerung hierzulande respektive in Europa werde durch außereuropäische Zuwanderer aus fremden Kulturen „ausgetauscht“ und wenn deren Einflüsse auf Religion, Lebensweise, Sprache nicht zurückgedrängt würden, sei europäische Kultur und Identität dem Untergang geweiht.

All das und noch viel mehr ist vom Recht der freien Meinungsäußerung gedeckt. Und sprengt rein äußerlich auch nicht den Rahmen der Demokratie; mehr noch – ist in einer solchen nur möglich. Lange Zeit konnte gelten, dass sich im freien Austausch gut begründete Interessen und vernünftige Entscheidungen durchsetzen. Heute trifft das, wenn überhaupt, nur noch bedingt zu. Je mehr Menschen mitreden, je mehr sie über soziale Medien von ihrem demokratischen Recht, eben mitzureden, Gebrauch machen, desto mehr Unverständnis häuft sich, desto mehr Aggression, Wut und Hass entladen sich. Die verfassungsmäßig garantierte Freiheit weicht immer stärker einer gefühlt beschränkten Freiheit. Der Grund ist nicht staatliche Überwachung, sondern sind rüde Umgangsformen und durch die allgegenwärtigen shitstorms erzwungene Konformität mit einem vermeintlichen Mainstream. Die Gesellschaft driftet auseinander; die „Bindekraft“ der Demokratie steht (erneut) infrage.

Wenn der „Schlaf der Vernunft Ungeheuer gebiert“, wie Goya sagt, dann ist als Gegenmittel Wachheit gefordert; also politisch wache Menschen. Nur eben andere als die obigen Woken. Also mit „wachen Menschen“ wieder zurück zur Vernunft; könnte man meinen.

Aber auch die ist unter Druck geraten. Von Vertretern des Konservatismus bis zu solchen der Postmoderne wird versucht, die Aufklärung als partikulares Projekt zu denunzieren oder als eurozentrisch zu „provinzialisieren“. Dabei wird in widersprüchlicher Manier mit Argumenten der Vernunft gegen die Vernunft argumentiert, die Grundmotive der Aufklärung werden bekämpft. Das aufklärerische Humanitätsideal und der Vernunftsanspruch mit seinem moralischen und wissenschaftlichen Universalismus werden als „Hybris“ diskreditiert. Sollte man diesem „Pessimismus des Verstandes“ folgen?

In der Demokratie spielt der Austausch von Argumenten eine zentrale Rolle. Die Mechanismen der netzbasierten Öffentlichkeit zeichnen sich dadurch aus, dass andere, abweichende Argumente und Positionen häufig moralisch abgeurteilt werden; die Protagonisten trennt politischer Streit und Schlimmeres. Forderungen, diese Spaltung zu überwinden, werden laut; man möge doch bitte das Auseinanderdriften der Gesellschaft verhindern, also zum Konsens zurückkehren. Muss man das?

Man sollte die liberale Demokratie (wieder) stärker als Prozess begreifen, in dem über alles gestritten werden kann, darf und muss, was mit den zentralen Werten des Grundgesetzes konform geht. Es gibt immer wieder moralische und auch politische Fragen innerhalb des demokratischen Meinungsspektrums, die (im Moment) keine eindeutigen Antworten haben; beispielsweise die zu Krieg und Frieden oder zur Sterbehilfe. Ich denke, dass es vernünftig(er) sein kann, (erst einmal) auf die Suche nach einem Konsens zu verzichten und dem Dissens im demokratischen Raum einen höheren Stellenwert einzuräumen: We agree to disagree. Das heißt, wir akzeptierten uns als Partner in Debatten, die in der Sache auch einmal zugespitzt sein dürften, in denen man trotzdem redlich und respektvoll miteinander umginge, die aber nicht auf einen Konsens abzielten. Stattdessen arbeitete man gegebenenfalls auf einen vernünftigen Kompromiss hin.

Diese „Dissens-Regel“ schlösse ein, dass man Sachverhalte mit deutlich divergierenden Ansichten auch erst einmal nicht gesetzlich regelte. Namentlich wenn es um Probleme geht, in deren Zentrum, wie angedeutet, Werte – also bedeutsame und durchdringende Überzeugungen, die gewöhnlich in einer Gesellschaft individuell unterschiedlich geteilt werden – stehen. Das Nicht-Erlassen von Gesetzen kann manchmal einer freien Gesellschaft dienlicher sein als das Gesetzemachen um jeden Preis. Auch das „Heizungsgesetz“ ist so ein Beispiel: Es zerstörte mehr Engagement für den Klimaschutz als dass es hilfreich gewesen wäre. Die Politik als Repräsentant der Gesellschaft sollte sagen: Wenn etwas in zehn Jahren immer noch ein Problem wäre, könnten wir uns dem immer noch widmen. Es sollte auch öffentliches Verständnis dafür geweckt werden, dass Politik etwas nicht abschließend klären kann, was nicht abschließend klärbar ist; zum Beispiel das Einwanderungsproblem. Im Mittelpunkt demokratischen Handelns sollte bei Berücksichtigung aller Differenzen stehen: Woran können wir gemeinsam miteinander arbeiten?

Die Philosophin Eva von Redecker fasst bündig zusammen: „Wenn es eine Sache auf der Welt gibt, die Unvernunft in Vernunft verwandeln kann, dann ist es Demokratie.“