26. Jahrgang | Nummer 19 | 11. September 2023

Rätselhafte Zahlen

von Lars Niemann

Im Freitag vom 29.Juni konnte man ein spannendes Interview lesen, das Elsa Koester mit der Psychotherapeutin Sonja Sorg zur so heftig diskutierten LGBTQ-Problematik geführt hat. Ich greife aus diesem erhellenden Gespräch den einen Punkt heraus, an dem ich gestutzt habe. Und zwar heißt es, dass sich bei einer aktuellen Umfrage unter den seit 1997 in Deutschland geborenen Menschen immerhin 22 Prozent als homosexuell, bisexuell, nicht-binär oder transsexuell betrachteten. Die Zahl stammt aus einer 2023 veröffentlichten internationalen Studie, bei der allein in Deutschland insgesamt 1000 Personen befragt worden sind, wobei diese Stichprobe nach Angaben des Ipsos-Instituts repräsentativ sein soll. Unter den „Babyboomern“, also den in den 50er und frühen 60er Jahren Geborenen, seien es dagegen nur etwa 5 Prozent gewesen. Tatsächlich entspricht diese letzte Zahl in etwa auch der Schätzung des Anteils homosexueller Menschen in Deutschland, an die ich mich aus sexualwissenschaftlicher Fachliteratur (aus Ost und West) aus den späten 70er und frühen 80er Jahren erinnere. Transsexualität galt damals als extrem selten, und den Begriff „non-binär“ gab es damals, glaube ich, gar nicht. Wenn die neueren Zahlen wirklich belastbar sind, wäre das ein gewaltiger Anstieg, selbst wenn man zumindest für die Menschen, die eine bisexuelle Orientierung angeben, einen gewissen Zeitgeist- oder „Mode“-Effekt unterstellen könnte und außerdem berücksichtigt, dass ein entsprechendes Bekenntnis „damals“ schwerer gefallen sein mag als heute. Die Alltagserfahrung, die zunehmende Präsenz von Menschen im LGBTQ-Spektrum im eigenen näheren oder ferneren Umfeld, scheint die Statistik zu bestätigen. Wenn man sich über den Raum wundert, den Gender-Themen im weitesten Sinne mittlerweile in der Öffentlichkeit einnehmen, sollte man dies vielleicht auch vor dem Hintergrund einer tatsächlichen Zunahme der Zahl betroffener Menschen betrachten.

Mir ist nun aufgefallen, dass diese Entwicklung erstaunliche Parallelen zu einem anderen Anstieg aufweist, wobei ich keinen individuellen Zusammenhang behaupten will, die „Betroffenengruppen“ sich vielleicht teilweise überlappen mögen, aber absolut nicht deckungsgleich sind. Aus persönlichen Gründen interessiere ich mich seit Jahrzehnten für Autismus, und die einschlägige wissenschaftliche Literatur zeigt ziemlich einhellig spätestens seit den 90er Jahren eine ganz klare Zunahme der diagnostizierten Fälle. Zur Verdeutlichung der Größenordnung reicht es, darauf zu verweisen, dass in Fachbüchern aus den 80er und selbst noch aus den frühen 90er Jahren international eine Häufigkeit von 4 oder 5 unter 10.000 Kindern berichtet wurde, während neuere Veröffentlichungen aus verschiedenen Ländern von einer Inzidenz von einem betroffenen Kind auf 70 bis 100 Geburten ausgehen. Grob gerechnet wäre das mindestens eine Verzwanzigfachung (von 0,5 pro 1000 auf 1 pro 100). Interessant ist, dass anscheinend nicht so sehr die Zahl „frühkindlicher Autisten“ zunimmt, bei denen häufig auch Intelligenzminderung festgestellt wird und die oft nicht oder wenig sprechen, sondern derjenigen mit sogenanntem Asperger-Syndrom oder „atypischem Autismus“, die zumeist erst im Schulalter und eher sozial auffällig werden. Lange wurde, gerade in Deutschland, das häufigere Auftreten von Autismus auf veränderte diagnostische Kriterien und eine vermehrte Aufmerksamkeit von Eltern, Ärzten, Lehrern und Erziehern zurückgeführt, aber es erscheint inzwischen nicht mehr plausibel, damit den gesamten Anstieg zur erklären – er ist zu stark. Am Rande sei hier nur erwähnt, dass auch neurologische und psychatrische Störungen und Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter in ihrer Gesamtheit zunehmen, und das nicht etwa nur seit oder in Folge der Corona-Pandemie.

Auch wenn Autismus sehr viel weniger im Fokus der Aufmerksamkeit steht als LGBTQ-Themen, stellt seine offenkundige Zunahme für die Betroffenen selbst, ihre Eltern und Familien ein großes Problem dar und kann viel Leid bedeuten, aber auch eine gewaltige Herausforderung für Kitas, Schulen, therapeutische Fachkräfte, Behindertenwerkstätten oder Wohnheime. Man weiß viel mehr über Autismus als vor 20, 30 Jahren, und es gibt zumindest in Großstädten sehr viel mehr Fachleute, Betreuungs- und Förderangebote, aber ihre Zahl kann mit der Zunahme der zu versorgenden Menschen mit Autismus nicht Schritt halten.

Nach meiner Auffassung handelt es sich beim Autismus nicht um eine Krankheit, sondern um eine besondere Form der Organisation des Nervensystems, der Reiz- und Informationsverarbeitung, der Selbst- und Fremdwahrnehmung und letzten Endes des Verhaltens, die eben anders ausgeprägt sind als bei der Mehrheit der Menschen. Diese „Mehrheit“ wird im Zusammenhang mit Autismus als „neurotypisch“ bezeichnet. Im LGBTQ-Spektrum geht es um sexuelle Orientierungen oder geschlechtliche Identitäten, die natürlich auch nicht krankhaft sind, aber eben anders ausgeprägt als bei der Mehrheit der „ cis“-Personen. Zumindest beim Autismus besteht die wissenschaftliche „mainstream“-Meinung zur vermutlichen Entstehung verkürzt gesagt darin, dass es eine genetische Prädisposition gibt, unter Beteiligung vermutlich vieler Gene auf mehreren Chromosomen, die wahrscheinlich sogar recht weit verbreitet ist. Unter Einwirkung von Umweltfaktoren, beispielsweise auf die elterlichen Keimzellen, auf Mutter und Fötus in der Schwangerschaft oder postnatal in der ganz frühen Kindheit, kommt es zur mehr oder minder starken Ausprägung des autistischen Phänotyps. Den sucht man sich nicht aus, ebensowenig wie eine sexuelle Orientierung oder die Geschlechtsidentität. Auch diese werden mit Sicherheit von biologischen Faktoren zu einem vermutlich frühen Zeitpunkt geprägt.

Wenn man nun die zeitliche Dimension der parallelen Anstiege berücksichtigt, stellt sich die Frage, welche Faktoren es sein könnten, die seit den 90er Jahren die neurologische, psychische und eben auch sexuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in größerem Umfang als in früheren Zeiten prägen. Ich halte das für einen relevanten Forschungsgegenstand, vorausgesetzt, man respektiert die Würde und Selbstbestimmung der betroffenen Menschen und ihrer Familien.