Für Ute Bredemeyer
Es gab Zeiten, da leisteten sich die Schauspielbühnen des Landes eigene Orchester – und fest an das Haus gebundene Komponisten. Dazu gehörte das Deutsche Theater Berlin, an dem 33 Jahre lang Reiner Bredemeyer die Schauspielmusik leitete. Für das Haus komponierte er zwischen 1961 und 1993 gut 120 Bühnenmusiken, prägte damit – wie sein Biograph Gerhard Müller schätzt – rund zwei Drittel des Repertoires. Was viele Besucher nicht bemerkt haben dürften: Sie setzten sich mit dem Erwerb des Theatertickets freiwillig einer Begegnung mit Neuer Musik aus, vor der manche im Konzertsaal wahrscheinlich die Flucht ergriffen hätten.
Bredemeyer zählt zu den Komponisten der DDR, für die gerne der Begriff des „mächtigen Häufleins“ der avantgardistischen Musik– eine Anspielung an die russische Komponistengruppe um Mussorgski und Borodin – gebraucht wird: Paul-Heinz Dittrich, Friedrich Goldmann, Georg Katzer, Siegfried Matthus, Friedrich Schenker, Udo Zimmermann und eben Reiner Bredemeyer. Im Unterschied zu ihren russischen Kollegen des ausgehenden 19. Jahrhunderts zogen sie weniger die nationale Karte, sondern sorgten konsequent und gegen viele Widerstände dafür, dass die DDR-Musik nicht im provinziellen Mief des „sozialistischen Realismus“ versank – bis zum Ende der DDR gab es immer wieder die abenteuerlichsten Verrenkungen, für den eine eigene Formensprache zu kodifizieren. Letzlich lief das stets auf das Festzurren der von der Wiener Klassik und der deutschen Spätromantik geprägten Hörgewohnheiten hinaus. Man mag das heute belächeln und verspotten. Die Programmgestalter diverser aktueller „Kultur“-Sender, die Spielplangestalter so manch namhaften Orchesters hätten mit den kulturpolitischen Kleingeistern der DDR nur wenig Probleme.
Reiner Bredemeyer jedenfalls arbeitete sein Leben lang kompromisslos auf der Basis eigener, mühselig errungener ästhetischer und politischer Positionen. Gerhard Müller beschreibt dies auf spannende Weise in seinem jetzt im Verlag Neue Musik erschienenen Buch „Bagatellen für B. Der Komponist Reiner Bredemeyer“. Das Buch ist eine sehr eigene Mischung aus Biografie, Werkinterpretation und kulturhistorischer Essayistik. Das macht seinen Reiz aus und dürfte auch Leser fesseln, die sonst seltener zu Büchern über Neue Musik greifen.
Autor und Komponist verband eine enge Arbeitsbeziehung. So hatte Müller das Libretto zu Bredemeyers einziger „richtiger“ Oper geschrieben: „Candide“ (1982, nach dem Roman Voltaires). Die Oper wurde 1986 am Landestheater Halle uraufgeführt. Leonhard Bernsteins „Candide“ erlebte übrigens auch 1982 seine deutsche Erstaufführung (in Heilbronn). Die Melodien des genialen Musical-Komponisten sind gewiss eingängiger, die satirische Schärfe bei Bredemeyer ätzender. Schade, dass das Werk so selten aufgeführt wird …
„Reiner Bredemeyer war ein politischer Komponist“, stellt Müller fest. „Er sprach sein Unbehagen und seine Kritik an den sozialen und kulturellen Verhältnissen in beiden deutschen Staaten mit ungewöhnlicher Schärfe aus.“ Das Unbehagen an den politischen Verhältnissen – „deprimiert von den restaurativen Entwicklungen unter Adenauer“, schreibt er 1995 in einem „Selbstporträt“ – führt den 1929 in Kolumbien Geborenen 1954 aus München in die DDR, genauer nach Ost-Berlin. In München hatte Bredemeyer Karl Amadeus Hartmann erleben können, prägend auch die Erlebnisse und Begegnungen beim „Festival de Provence“ 1951-1954. Der junge Komponist atmete Welt: „Der Glanz der europäischen Kultur und die Düsternis der politischen Zustände – das waren die Universitäten des angehenden Komponisten“, fasst Gerhard Müller die Bilanz jener Jahre zusammen.
In Berlin – Reiner Bredemeyer wird Meisterschüler beim eher konservativ, gleichwohl mit großer Akkuratesse arbeitenden Rudolf Wagner-Régeny – sind es vor allem die Begegnung mit Paul Dessau und dessen Kreis, die nachhaltig wirken. Durch Ruth Berghaus, der Ehefrau Dessaus, kam er zu ersten Kompositionen für das zeitgenössische Tanztheater. Und Dessau öffnete Bredemeyer den Zugang zur Akademie der Künste … Allerdings wurde er erst 1978 „ordentliches Mitglied“. Das hatte wohl auch mit der Geringschätzung des „Theaterkomponisten“ durch manche Berufskollegen zu tun, die in ihm eher einen Handwerker denn einen Künstler sahen. Natürlich ging dieses Verweigern öffentlicher Anerkennung, bis hin zur lang anhaltenden Abstinenz der Tonträgerproduzenten Bredemeyerscher Musik gegenüber, auch an die Adresse des kompromisslosen Verfechters der Neuen Musik, der sich jeglichem Tönerausch verweigerte und zudem gar nichts von der auch im DDR-Komponistenverband gerne gepflegten Künstler-Selbststilisierung hielt. Selbst Arnold Schönbergs Äußerungen über den „Taumel des Komponierens“ fand er dubios. Reiner Bredemeyer hatte eine große Affinität zur Mathematik, in seinen „unprätentiös“ (Frank Schneider) daherkommenden Kompositionen ist das spürbar. Sie sind in ihren besten Stücken von einer geradezu kristallinen Schönheit.
Gerhard Müller lässt in seinem Buch den Komponisten oft und ausführlich selbst zu Wort kommen. So zitiert er ein Vortragsmanuskript aus dem Jahr 1972, in dem Bredemeyer sich über sein Verständnis Neuer Musik äußert: „Neue Musik wird neue und alte Empfindungen auslösen oder nicht auslösen, wird versuchen, unsere akustische Umwelt benützend, Gegenwart zu sein, nicht nur mit den Märchentönen ‚es war einmal‘ auskommen; und neue Musik wird Schwierigkeiten in Schwierigkeiten belassen müssen: Sie ist kein Ersatz und keine Verheißung. Nur Realität.“
Das ist es, mehr wäre eigentlich nicht zu sagen.
Dass Bredemeyer immer wieder das „Es war einmal“ auf den Prüfstand stellt, ist da nur konsequent. Paradigmatisch geradezu seine Neuaneignung – gemeinsam mit seiner Frau, der Germanistin Ute Bredemeyer – der Dichtungen Wilhelm Müllers. Dessen „Winterreise“ neu zu vertonen (1985), ist angesichts der übermächtigen Prägung der Vorlage durch Franz Schubert beinahe tollkühn zu nennen. Das Ergebnis spricht für sich: Während Schubert die Vorlage Wilhelm Müllers romantisiert, führt Bredemeyer sie wieder auf ihre Ursprünge zurück – und entdeckt einen spätjakobinischen Dichter, der, aus der preußischen Armee geworfen, im eiskalten Winter 1814 hauptsächlich zu Fuß den Weg von Brüssel in das heimatliche Dessau zurücklegt. Eine Winterreise eben. Entsprechend verweigert sich Bredemeyer auch, wie Gerhard Müller anmerkt, dem Belcanto. „Schön Singen“ kann auch Lüge sein. Ähnliche Entdeckungen lassen sich anhand fast aller anderen Kompositionen des Spätwerkes machen. Der Autor deckt dessen Vielschichtigkeit Lage um Lage auf. Das macht Lust auf diese Musik.
Im Zusammenhang mit „Candide“ sprach ich von pointierter Schärfe. Reiner Bredemeyer „vertonte“ Politikersprüche. 1993: „Aufschwung OST (Quartettstücke 4), unter treuhänderischem Mißbrauch der Nr. 2 aus den Phantasiestücken op. 12 von Robert Schumann“. Darin parodiert er auch Helmut Kohls berüchtigten Satz von den „blühenden Landschaften“. Das rief seinerzeit kunstferne und humorlose Abgeordnete der PDS-Bundestagsfraktion auf den Plan, die argwöhnten, die Bundesregierung missbrauche Kulturfondsmittel der DDR zu eigenen PR-Zwecken. Eine Woche nach dem Einreichen einer messerscharfen Anfrage, unterzeichnet von Barbara Höll und Gregor Gysi, führte dies zu einer über AFP verbreiteten öffentlichen Entschuldigung des Parteivorsitzenden Lothar Bisky bei Bredemeyer.
Weit weniger lustig „269“ – 1983 komponiert für Chor und Schlagzeug. Bredemeyer nimmt die beiden TASS-Meldungen vom 2. und 7. November 1983 über den Abschuss einer südkoreanischen Verkehrsmaschine durch die sowjetische Luftwaffe als Vorlage. TASS schreibt in nicht überbietbarem Zynismus von einer „Unterbindung des Fluges“. Hintergrund des Titels: durch den Abschuss starben 269 Menschen … „269“ wurde erst 2014 in Dresden uraufgeführt. Müller meint, „da war es nur noch ein historisches Zeugnis“. Hier irrt der Autor. Am 17. Juli 2014 wurde über der Ost-Ukraine eine Boeing 777 der Malaysia Airlines, Flug MH17, von einer Rakete russischer Herkunft abgeschossen. Es starben 298 Menschen. Solange die Weltzustände so sind, wie sie sind, ist gute Kunst auch historisches Zeugnis. Aber eben nicht nur.
Ich halte es für keinen Zufall, dass Reiner Bredemeyer gegen Ende seines Lebens wieder auf die „Geistliche Chormusik 1648“ von Heinrich Schütz zurückkam. Noch 1984 überzog er die Bach-Händel-Schütz-Feierlichkeiten 1985 der DDR mit gleißendem Spott: „Alle Neune – eine SCHÜTZ(en)festmusik“.
Gerhard Müller meint, dieses „letzte Jahrzehnt der DDR, so sehr es von Honeckers bürokratischem und diktatorischem Dirigismus überschattet ist, war gleichwohl eine der fruchtbarsten Perioden in der Musikgeschichte der DDR“. Ich bin ihm für diese Wiederentdeckung sehr dankbar.
Gerhard Müller: Bagatellen für B. Der Komponist Reiner Bredemeyer, Verlag Neue Musik, Berlin 2022, 330 Seiten, 32,80 Euro.
Schlagwörter: DDR-Musikgeschichte, Deutsches Theater Berlin, Gerhard Müller, Neue Musik, Reiner Bredemeyer, Winterreise, Wolfgang Brauer