Politische Ökonomie genoss Anfang des 19. Jahrhunderts in den gebildeten Kreisen Englands eine erstaunliche Popularität und David Ricardo, der am 11. September 1823 starb, war einer ihrer Stars. Sie war so angesagt, dass Jane Haldimand Marcet, in deren Londoner Salon er mit den Größen seiner Zeit verkehrte und die ein erfolgreiches populärwissenschaftliches Buch über Chemie veröffentlicht hatte, es für angebracht hielt, 1816 mit „Conversations on Political Economy“ eine Einführung in der Form eines Gesprächs zwischen zwei Damen folgen zu lassen. „Die Politische Ökonomie“, schrieb sie in einer späteren Auflage, „hat in den letzten paar Jahren eine starke Verbreitung gefunden. Außer der gefeierten Abhandlung von Adam Smith, der als der Vater dieser Wissenschaft betrachtet werden kann, ist inzwischen eine ganze Reihe exzellenter Arbeiten publiziert worden, so von Mr. Say, Mr. Ricardo, Mr. Malthus, Mr. Sismondi, Mr. Senior und anderen.“ Ricardo persönlich hatte ihr einige Hinweise zur zweiten Auflage gegeben, die sie aber in den Wind schlug. Nicht von ungefähr steht in ihrer Aufzählung Say an erster Stelle. Seine Produktionsfaktorentheorie schien ihr wohl einleuchtender als Ricardos Theorie. Dessen Überlegungen waren abstrakt und nicht sonderlich unterhaltsam. Er selbst soll über seine vor allem theoretisch-analytisch angelegte Arbeit gemeint haben, sie würde wohl von kaum mehr als 25 Leuten verstanden. Marcets abweichende Meinung war freilich kein Hinderungsgrund, die äußerst gebildete Frau in den 1821 von dem Wissenschaftlerkreis um Ricardo gegründeten exklusiven Political Economy Club aufzunehmen.
Der 1772 geborene Ricardo war als Börsenmakler steinreich geworden und hatte sich, aller pekuniärer Sorgen enthoben und angeregt durch die Lektüre von Smith, der ökonomischen Theorie zugewandt. In Marcets Salon traf er sich nicht nur mit seinen Freunden, den Ökonomen Thomas Malthus oder James Mill. Der mit im Haus lebende Bruder Marcets, William Haldimand, war Direktor der Bank of England und Fragen der Geldtheorie und Geldpolitik waren selbstverständlich Gegenstände der Konversation. Fast versteht es sich von selbst, dass Ricardos Interesse zunächst auf Fragen der Geldzirkulation und der Besteuerung gerichtet war.
Er veröffentlichte darüber einige kleinere Arbeiten, aber sein Blick wurde zunehmend auf die Bestimmung des Werts von Waren überhaupt und schließlich zur Frage der Verteilung gelenkt. Im Vorwort seines 1817 veröffentlichten Hauptwerks „Über die Grundsätze der Politischen Ökonomie und der Besteuerung“ schrieb er: „Das Hauptproblem der Politischen Ökonomie besteht im Auffinden der Gesetze, welche diese Verteilung bestimmen.“ Die Verteilung von Lohn, Profit und Rente versucht er konsequent aus der Analyse der Produktion des Werts durch die Arbeit zu entwickeln. Obwohl er die damit zusammenhängenden Fragen nicht gänzlich zu lösen vermochte und sich in Widersprüche verwickelte, erreicht die klassische bürgerliche Ökonomie mit seiner Arbeitswert- und Verteilungstheorie ihren Höhepunkt.
Ricardo suchte bis zu seinem Tod nach einem „absoluten Wert“ und einem „invariablen Wertmaß“. Er war mit seiner Theorie nie gänzlich zufrieden und hat darüber mit allen maßgeblichen Fachkollegen seiner Zeit korrespondiert und diskutiert. Noch in seinem letzten Brief und einem unvollendet gebliebenen Manuskript rang er mit diesem Problem, aber weder er noch seine Kollegen oder seine unmittelbaren Nachfolger konnten die offen gebliebenen Fragen klären. Die ricardianische Schule des ökonomischen Denkens und die bürgerliche Klassik überhaupt begannen zu zerfallen. Erst Karl Marx lieferte mit seiner Arbeitswert- und Mehrwerttheorie eine Lösung, indem er davon ausging, dass nicht die Arbeit, sondern die Arbeitskraft der Gegenstand des Austauschs zwischen Arbeitern und Kapitalisten ist und auf diesem Fundament ein neues Gebäude der Politischen Ökonomie errichtete. Diese Lösung und ihre soziale Konsequenz konnten von den bürgerlichen Denkern natürlich nicht akzeptiert werden. So schwenkten sie auf die Produktionsfaktorentheorie von Say um, wonach Arbeit, Kapital und Boden gleichermaßen an der Wertschaffung beteiligt sind. Bis heute bildet diese Theorie eine Prämisse der herrschenden Volkswirtschaftslehre. Ricardos Arbeitswertlehre verschwand aus der theoretischen Diskussion des Mainstreams; er wurde lediglich als der unmittelbare Vorgänger von Marx betrachtet, was einer Verdammung zumindest in dieser Frage gleichkam.
Ricardo lebte zuzeiten der industriellen Revolution, der Maschinenstürmer und der Massenproteste gegen die Korngesetze, die mit der Einfuhrbesteuerung das Korn, ein Grundnahrungsmittel der Arbeiter, verteuerten. 1817 kam es zur „Pentrich Revolution“, einem Aufstand, in dessen Ergebnis drei Anführer gehenkt wurden. In der Nähe von Manchester wurden bei einem solchen Protest 1819 fünfzehn Menschen getötet und Hunderte verletzt. Auch Ricardo hatte sich gegen die Zölle gewandt, weil sie die Profite in der Industrie schmälerten und nur den Grundbesitzern nützten. Obwohl er seit seinem Rückzug von der Börse sein Geld in Ländereien angelegt hatte, war für ihn die Industriebourgeoisie Träger des Fortschritts. So interessierte ihn vor allem der Profit und nicht etwa die Interessen der Arbeiter. Trotzdem stimmten ihn deren fürchterliche Lage und die Proteste nachdenklich, und seine Überlegungen führten zur Revision früherer Auffassungen, die er nun „für irrig“ hielt. In die dritte Auflage seines Werks von 1821 führte er das berühmte Kapitel „Über Maschinerie“ ein, in dem er zu dem Schluss kam, dass „die Ersetzung der menschlichen Arbeit durch Maschinen oft den Interessen der Arbeiter sehr schadet [und sich …] die Lage des Arbeiters verschlechtern kann“. Was für ein Paukenschlag in einer Situation, da die Angehörigen seiner Klasse – und immerhin hatte sich Ricardo 1819 einen Sitz im Parlament gekauft – die Arbeiter und ihre Kämpfe verdammten und bekämpften! Manche seiner Anhänger zogen aus seiner Analyse der Klassenauseinandersetzung kapitalismus-kritische Schlüsse und es entwickelte sich die Richtung der „ricardianischen Sozialisten“. Derartige Folgerungen lagen Ricardo freilich fern; für ihn galten in der Ökonomie ewige, unabänderliche Gesetze. Marx spöttelte, bei Ricardo würden sogar die Urmenschen zur Berechnung des Werts ihrer Arbeitsinstrumente Londoner Börsenkurse heranziehen.
Ricardo wird oft zu den „Pessimisten“ seiner Zeit gerechnet. Das hängt mit seinen das Bürgertum verstörenden Überlegungen zur langfristigen Tendenz der Profitrate zusammen. Wenn die Grundrente wegen des mit dem Bevölkerungswachstum notwendigen Übergangs zu schlechteren Böden steige und sich wegen der sinkenden Produktivität der „Wert der Arbeit“ und die Löhne erhöhen müssten, würde der Profit zunehmend in die Zange genommen. „Die natürliche Tendenz des Profits ist also zu fallen…“, schreibt er. Die Akkumulation würde aufhören, wenn kein Kapital einen ausreichenden Profit abwerfen könne. Schlüsse über das Schicksal des Kapitalismus zog Ricardo daraus keine; er war der Meinung, der technische Fortschritt würde dem Profitratenfall in ausreichendem Maße entgegenwirken. Marx lobt ihn für seine richtige Beobachtung, erklärt die Tendenz aber nicht aus der Verringerung, sondern aus der Steigerung der Produktivität und deren Voraussetzungen. Er sieht darin einen Beweis dafür, dass die Produktivkraftentwicklung in einen Konflikt mit der kapitalistischen Produktionsweise gerät.
Auch heute noch geschätzt wird Ricardos Außenhandelstheorie. Mit ihr wollte er zeigen, dass sich die internationale Arbeitsteilung und der Freihandel auch für weniger entwickelte Länder auszahle. Seine Theorie der komparativen Kostenvorteile ist Bestandteil jedes Lehrbuchs der Volkswirtschaft. Freilich ist sie nur ein hübsches akademisches Glasperlenspiel, das jeder leichte Wind der Realität und das Aufheben seiner Abstraktionen ins Wanken bringt. Die Wirklichkeit widerspricht der Auffassung von der uneingeschränkten Vorteilhaftigkeit eines völlig freien, unregulierten Weltmarktregimes für alle Länder. Was für ein Schock für die etablierten Wirtschaftswissenschaften, als der berühmte Nobelpreisträger Paul Samuelson 2004 theoretisch und empirisch nachwies, dass diese Kritik an Ricardo vollauf berechtigt ist.
Eine Renaissance erlebte ricardianisches Denken, als Piero Sraffa, einer der Herausgeber von Ricardos gesammelten Schriften, 1960 ein schmales Büchlein „Warenproduktion mittels Waren“ veröffentlichte. Es basiert auf Überlegungen Ricardos und begründete die Denkrichtung des „Neo-Ricardianismus“. Mit ihm ließ sich die neoklassische Ökonomie kritisieren, ohne auf die Marxsche Arbeitswerttheorie zurückgreifen zu müssen. Manche Vertreter dieser Schule meinen sogar, damit würde auch dessen Theorie überwunden. Allerdings haben ökonometrische Untersuchungen inzwischen ergeben, dass die marxsche Arbeitswert- und Preistheorie in der Erfassung der Wirklichkeit besser als der neo-ricardianische Ansatz abschneidet. Nils Fröhlich, der diese Berechnungen anstellte, wurde für seine überzeugende statistische Arbeit 2009 mit einem Preis des Statistischen Bundesamtes ausgezeichnet.
Ricardo war ein Genie sowohl an der Börse als auch in der Politischen Ökonomie. Diese hat ihm bleibende Erkenntnisse und Impulse zu verdanken. Dass auch dieses unvoreingenommen wissenschaftlich arbeitende Genie gelegentlich falsch lag, tut dieser Einschätzung keinen Abbruch.
Schlagwörter: Akkumulation, Arbeitswert- und Verteilungstheorie, David Ricardo, Jürgen Leibiger, Politische Ökonomie, Produktionsfaktorentheorie