Seit der Wende hat sich unsere Familie Bitterfeld als das Zentrum Ostdeutschlands auserkoren, denn es liegt ungefähr in der Mitte aller Familienwohnorte und ist außerdem in Sachen Kultur und Natur gewachsen.
Bis heute gucken Freunde skeptisch, wenn wir von unserem Pfingsttreffen erzählen. Sie wundern sich und fragen noch einmal nach, ob wir wirklich Bitterfeld meinen. Noch weniger wissen wohl viele Westdeutsche über das ehemalige Kohleabbaugebiet. Als ich nämlich neulich bei Freunden in Bayern rumhing, kam bei den abendlichen Zusammenkünften das Gespräch auf Bitterfeld, zumal ich es angestoßen hatte. Ich musste dann alles erzählen: Über den heutigen Zustand der Gegend um Bitterfeld-Wolfen, um das jetzige (Geld-) Geschiebe wegen der Grundstücke am großen Goitzschesee und viele Fragen zur Vergangenheit beantworten. Mir kam es vor, als ob die Wessis in Sachen DDR so etwas nie in der Schule hatten. Es ging da nur immer über Diktatur, Staatssicherheit und Mangelwirtschaft. Berichten konnte ich, denn in den 1980er Jahren studierte ich in Halle/Saale Agrochemie und Pflanzenschutz und mich Bekannte oft zu Feten nach Bitterfeld oder in den Nachbarort Wolfen einluden. Auf dem Weg dorthin roch es nach faulen Eiern, Ammoniak oder Salpetersäure, der Himmel war verhangen und Kohlestaub rieselte ganz fein und sachte auf die Erde. Der Spruch, den man mir entgegen rief, stimmte leider: „Bitterfeld, Bitterfeld, wo der Dreck vom Himmel fällt“. Alle ansässigen Fabriken und Kombinate beteiligten sich rege an diesem Umstand, ob nun das Braunkohlerevier (VEB BKK Bitterfeld), Kraftwerke oder Chemieanlagen. Fenster brauchten nicht geputzt werden und die Wäsche in den Wind zu hängen lohnte in Bitterfeld und Wolfen und in der ganzen Umgebung auch nicht.
Bei einem unserer letzten Treffen schlendere ich mal wieder durch den kleinen Ort Bitterfeld, der immer noch alternde und nicht erneuerte Bausubstanz hat, aber mit einer intakten Innenstadt und einer rekonstruierten Kirche punktet und gut ausgebaute Radwege vorweisen kann.
Die verrußte und verdammt dreckige Gegend veränderte sich nach der Wende total, denn 200 Jahre Bergbau und Industrie waren plötzlich am Ende. Die Natur kam zurück, neuer Wald entstand und es kam zu ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Umbrüchen. Die völlig überalterte Filmfabrik in Wolfen gestaltete man zum Museum um, die riesigen Kohleabbaumaschinen können in Gräfenhainichen bestaunt werden und der Muldestausee ist endlich Lebensraum für Biber, Greifvögel und jede Menge anderer Tiere, die die Kinder des Bitterfelder Sozialismus nur aus Schulbüchern kannten. Friedersdorf nannte sich nun „Buchdorf“, denn in verschiedenen Gebäuden, wie Schule, Schmiede, und Konsum zogen Antiquariate ein, die mittlerweile wieder geschlossen sind.
Da Bitterfeld-Wolfen immer eine Reise wert ist, musste das endlich erzählt und aufgeschrieben werden, was dann auch der Oldenburger Stefan Thoben tat. Er bereiste erst einmal das Ruhrgebiet, nachzulesen und auf Fotos nachzuschauen in „Ein Traum in bunt. Entdeckung Ruhrgebiet“, um sich dann auf einen kleinen Teil Sachsen-Anhalts zu stürzen. Thoben fährt Rad und besucht unter anderen Bitterfeld-Wolfen, Jeßnitz, den Muldenstausee, Pouch, den Großen Goitzschesee, den Seehausener See und Sausedlitz. Finden wollte der Autor an der Mulde entlang Menschen, die nach der Wende 1992 als Kinder an die Nordsee zur Kur konnten – nach einem Spendenaufruf im Westen. Gegen Ende des Berichts „Ein Kessel B.“, der fast den Namen einer DDR-Sonnabend-Abendshow trägt, wurde Stefan Thoben im Lokalarchiv der Mitteldeutschen Zeitung fündig, er fand einige Artikel: „Noch ein letztes Winken, dann ab an die Nordsee! 49 Kinder begaben sich gestern zur Heilkur nach Schillig.“ Doch bevor er wirklich noch mit damaligen Mitreisenden sprechen konnte, lernte er auf der ganzen Tour viele interessante, redselige und liebenswerte „Ureinwohner“ kennen und auch Neubürger, die alle gerne in Bitterfeld leben. So wurde mit Gartenbesitzern Kaffee getrunken, Museen und der Kulturpalast Bitterfeld und einige Veranstaltungen besucht. Schließlich geht der Autor mit Einheimischen baden, schläft in neu eröffneten Gaststätten, deren Besitzer auf viele Touristen hoffen, und lässt sich von ehemaligen Kumpels des Bergbaus in deren Welt, die nur noch in einer Ausstellung existiert, einführen. Natürlich fährt Thoben durch die neue Industrielandschaft, die jetzt ganz ohne orangenen Rauch aus den Schloten auskommt und u.a. aus der Kunstseidenstraße (Chemie) und der Sonnenallee (Solarindustrie) besteht. Zu den wundervollen Geschichten, die sehr natürlich sind und nicht an „Besserwessis“ erinnern, gesellen sich Fotos, die das Kleine im Großen widerspiegeln, an das DDR-Bitterfeld erinnern und dem Leser Menschen näher bringen, deren Heimat – verdammt nochmal – Bitterfeld-Wolfen ist. Zitate von Monika Maron, Karl-Heinz Jakobs, Thomas Brasch und Lukas Rietzschel runden diesen umfangreichen Bericht ab.
Stefan Thoben: Ein Kessel B. – Ein Sommer auf Bitterfelder Wegen, Verlag Andreas Reiffer, Meine 2023, 240 Seiten, 28,00 Euro.
Schlagwörter: Bitterfeld, Stefan Thoben, Thomas Behlert, Wolfen