Den nunmehr 96. Jahrestag der Volksbefreiungsarmee (VBA) am 1. August trotz sengender Hitze mit einer Militärparade zu begehen, gehört zum politischen Selbstverständnis in der Volksrepublik. Das umso mehr, da die derzeit zwei Millionen Soldaten im innerchinesischen Diskurs mit Taiwan als auch geopolitisch in der Konfrontation mit der Eindämmungs-Politik (Containment) der USA im Gefolge mit Japan, Südkorea und Australien in Ostasien und im Westpazifik erheblich an sicherheitspolitischem Gewicht gewonnen haben.
Neu ist, dass Peking seine nationale Sicherheit seit einem Jahr wesentlich komplexer definiert als bisher. Maßgeblich dafür sind die Festlegungen des XX. Parteitages der KP Chinas im Oktober 2022 und die Entwicklungen seit der russischen Aggression gegen die Ukraine sowie die Verschärfung der Beziehungen zu den USA, die traditionsreiche „Pudel“-Mentalität des krisengeschüttelten Großbritannien gegenüber den USA und deren China-Politik, die konfrontativen Positionen der EU und des „grünen Inkompetenz-Teams in der Bundesregierung“ (Stefan Aust).
Während hierzulande und in Brüssel um „neue“ Sicherheitsstrategien gerungen wird, hat Peking die Bereiche für seine Sicherheit längst definiert und steckt innen- und außenpolitisch mitten in ihrer Umsetzung. Grundsätzlich ist das nachzulesen in den Aussagen des XX. Parteitages der KP China (Bericht Xi Jinping an den Parteitag) mit ihrer strategischen Ausrichtung auf Etappenziele in 2030 und 2035 bis hin zu 2049, dem 100. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik. Im Mittelpunkt der komplexen Orientierungen stehen die militärische Sicherheit, die Ernährungs- und Energieversorgungs- und die Wirtschaftssicherheit. Bei ihrer Umsetzung geht es nun darum, alle Bereiche gezielt horizontal und vertikal miteinander zu vernetzen in Richtung Ausbau der sozialen Gerechtigkeit. Geschehen soll dies mittels der marktsozialistischen Fünf-Jahres-Pläne.
Im Folgenden wird versucht, das zumindest anhand dreier Bereiche zu verdeutlichen.
Erstens wird im überaus umfassenden militärischen Bereich die Modernisierung der VBA nicht zuletzt anhand der „strategischen Kampfunterstützungstruppe“ sichtbar. Im November 2013 ins Leben gerufen, am 1. Januar 2016 in Dienst gestellt, fungiert sie als eine der fünf Teilstreitkräfte, unterstützt den Auf- und Ausbau der Infrastruktur der chinesischen Raumfahrt und ist zur elektronischen Kampfführung befähigt. Seit 2016 hat sich viel getan: Im August 2018 erprobte die VBA erfolgreich die Hyperschallrakete „Sternenhimmel“. Die flog mit 6 Mach (7.340 km/h) und ist kaum abzufangen. Seit Anfang 2023 betreibt China seine eigene Raumstation „Himmelspalast“ (Tiangong).Das ist die einzige neben der Internationalen Raumstation (ISS). Ende Mai 2023 war man auch soweit, zum ersten Mal zusammen mit zwei Militärs einen Zivilisten ins All zu schicken. Zuvor gelang Anfang 2019 erstmalig die Landung einer Raumsonde auf der erdabgewandten Seite des Mondes und im Mai 2021 wurde der Mars-Rover „Zhurong“ auf dem Planeten zum Einsatz gebracht. Mitte Juni 2023 folgte ein neuer Rekord, indem gleichzeitig 41 Satelliten mit der Trägerrakete „Langer Marsch 2D“ in ihre Erdumlaufbahn installiert wurden.
Chinas innere Sicherheit ist zweitens stets mit der eigenen stabilen landwirtschaftlichen Entwicklung verknüpft, das dient der Ernährungssicherheit für die über 1,4 Milliarden Einwohner. Xi Jinping leitete deshalb ausdrücklich als erstes Parteitag der KP eine „Inspektionsreise“ in weniger entwickelte Landwirtschaftsregionen in den Binnenprovinzen Shaanxi und Anhui. Dort umriss er die neue strategische Ausrichtung zur Modernisierung der Landwirtschaft und charakterisierte die Landwirtschaft als Grundlage für die Gewährleistung der Nationalen Sicherheit Chinas. Ziele seien die „ländliche Wiederbelebung“ bis 2027 (XXI. Parteitag der KP Chinas), die grundsätzliche Modernisierung der Landwirtschaft bis 2035, der Aufbau eines starken Landwirtschaftslandes China bis 2049. Die sichere Lieferung von Nahrungsmitteln und wichtiger landwirtschaftlicher Produkte werde immer von „höchster Priorität“ bleiben. Ereignisse wie die Covid19-Pandemie, wie auch der Druck und die Eindämmungsstrategie von außen würden bleiben und zunehmen. Wenn es zu einem Niedergang der Landwirtschaft Chinas käme und Nahrungsmittellieferungen in die Hände „anderer“ fielen, sei die Modernisierung Chinas hinfällig. Die strategische Initiative müsse deshalb vor allem gerichtet sein auf die Sicherheit bei Nahrungsmittellieferungen, die Entwicklung der Landwirtschaftsindustrie auch in kleineren Bauernhöfen und bei Dienstleistungen für sie sowie auf eine gezielt zu entwickelnde hochproduktive ökologische Landwirtschaft und die enge Kooperation zwischen Stadt und Land. Ziel sei die deutliche Hebung des Lebensstandards und der Lebenskultur der 491 Millionen Landbewohner. Dazu gehört aktuell, dass Hochschulabsolventen – rund 11 Millionen (!) kommen in diesem Jahr neu auf den Arbeitsmarkt – zeitlich begrenzt und zu akzeptablen Lebens- und Gehaltsbedingungen gelenkt werden und eine Tätigkeit in ländlichen Regionen aufnehmen.
Die Versorgung mit Wasser war drittens traditionell ein Bestandteil der Wirtschaftssicherheit im Reich der Mitte und ist es heutzutage umso mehr. Im Süden gibt es zu viel davon, im Norden besteht oft katastrophaler Mangel. Der Entwicklungsboom seit Beginn des Reform- und Öffnungskurses 1979 hatte diese Diskrepanz noch dramatisch verschärft. Um die 2005er Jahre herrschte in der nordchinesischen Ebene (große Teile der Provinzen Hebei, Shandong, Anhui, Jiangsu und die Städte Peking und Tianjin, insgesamt für heute über 357 Millionen Menschen) akuter Wassermangel. Von gigantischer Dimension war und ist nun das Süd-Nord-Wassertransferprojekt mit drei Routen zur Wasserversorgung, von denen die mittlere Route (1.264 km Länge; Nutzung des Geländes so, dass keine Pumpstationen gebraucht werden) 2014 in Betrieb genommen wurde und unmittelbar für 140 Millionen Menschen Nutzen erbrachte und für die Wirtschaft von über 40 großen und mittleren Städten einen spürbareren Entwicklungsschub. Die Ost- und die Westroute (1.152 km bzw. 451 km) werden schrittweise weiter ausgebaut. Ebenso ist anderes erstmalig im Werden: So traten nach Absegnung durch den Staatsrat am 1. Dezember 2021 Verordnungen zum Grundwassermanagement in Kraft. Das ist neu für China und in ihrer chinesischen Dimension wiederum eine zu bewältigende Herkulesaufgabe sowohl in der Durchsetzung beim kontrollierten umweltgerechten Umgang als auch beim Unterbinden -zigfacher Gesetzesverstöße vor Ort. Denn: „Der Himmel ist hoch und der Kaiser (Peking) ist weit!“.
Vor dem Hintergrund der hier beispielhaft umrissenen Teile der komplexen Gesamtherausforderungen, vor denen China steht, bietet sich an, auf die „China-Strategie der Bundesregierung“ vom 13. Juli 2023 hinzuweisen. Peking reagierte unaufgeregt, zumal das Papier in seinen wiederholt apodiktischen Formulierungen und Forderungen dem Niveau der Gesamtbeziehungen widerspricht und Peking geradezu herausfordert, sich nicht auf diese Konfrontationsebene hinzubewegen. Dass Deutschland und China – unterschiedlich die EU-Länder – „Partner und Wettbewerber“ sind, ist generell in internationalen Beziehungen normal und die maximale Wahrnehmung der eigenen Interessen ist dementsprechend immer auch geprägt von diesen beiden Seiten der Medaille.
Die im Strategiepapier vertretene „systemische Rivalität“ zu China steht hingegen auf tönernen Füßen. Es betet inhaltlich Grundgedanken des US-Außenpolitikberaters Zbigniew Brzezinski (ein Kontrahent Henry Kissingers) aus den 1990er Jahren und eines EU-Papiers von 2019 nach und konterkariert die über 50-jährige Zusammenarbeit zwischen den beiden Staaten verschiedener Gesellschaftsordnungen. Denn entscheidend ist, dass Peking nicht danach strebt, seine gesellschaftliche Grundordnung anderen Staaten oder Regionen – etwa Deutschland oder der EU – aufzudrücken, sondern eine strategische Partnerschaft anstrebt. Die wird nie konfliktfrei sein, aber kann kontinuierlich produktiv verlaufen.
Noch ist nicht absehbar, ob das Papier Deutschland und China nützen könnte und ob beide Seiten zukünftig von vornherein noch zielgenauer ihre Interessen im Umgang miteinander abwägen, um Kooperationsmöglichkeiten differenzierter auszuloten und sicher auszubauen.
Schlagwörter: „systemische Rivalität“, China, Landwirtschaft, Sicherheitspolitik, Werner Birnstiel