26. Jahrgang | Nummer 15 | 17. Juli 2023

Der stille Krieg zwischen Künstlern und Macht

von F.-B. Habel

Ein großer Internationalist, trotz seines deutsch klingenden Namens ein Bulgare, ein Philosoph unter Filmemachern und Politikern, war Angel Wagenstein, dem es vergönnt war, ein ganzes Jahrhundert zu durchleben und mitzugestalten. Ende Juni ist er im 101. Lebensjahr in Sofia gestorben.

In Plovdiv 1922 geboren, lebte Angel, dessen Vorname französisch ausgesprochen wurde, eine Zeitlang im Pariser Exil, weil der Vater als Bolschewik verfolgt wurde. Überhaupt hatte er seinen Vater erst mit vier Jahren das erste Mal gesehen, als die Mutter mit ihm den Vater im Gefängnis besuchen durfte. Der Vater blieb sein Leben lang – bis in die neunziger Jahre – ein alter Bolschewik. In Paris lebte die Familie von 1927 bis 1934 in ärmlichen Verhältnissen und war über die Generalamnestie von 1934 erleichtert. Doch sie kehrten nicht nach Plovdiv zurück, sondern in die Hauptstadt Sofia.

Im Zweiten Weltkrieg war Angel Wagenstein als Jude, Kommunist und Partisan gefährdet. „Jäcki“ Wagenstein schloss sich mit 16 einer illegalen kommunistischen Jugendorganisation und nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht 1941 den Partisanen an. Mit Genossen setzte er ein Pelzlager der Wehrmacht in Brand, das nun nicht mehr als Nachschub für die Stalingrader Winterschlacht dienen konnte. Weiteren Aktionen folgten Denunziation und Verhaftung. Dem Todesurteil entging Wagenstein durch Bombardements der Alliierten, große Konfusion und Flucht.

Der Drehbuchautor und Schriftsteller stand bis in die Gegenwart zu Georgi Dimitroff. Nach dem Krieg konnte Wagenstein an der Moskauer Filmhochschule WGIK studieren und gilt seit seinem Abschluss 1950 als Mitbegründer der bulgarischen Filmkunst, was zahlreiche internationale Auszeichnungen belegen. Der Weltbürger hat Vieles gemacht, zum Beispiel auch Dokumentarfilme für die ARD aus Vietnam (was den Protest der CDU/CSU-Bundestagsfraktion nach sich zog). Obwohl oder gerade weil er Georgi Dimitroff verehrte, der in Bulgarien einen demokratischen Sozialismus auf den Weg brachte, der von seinen Nachfolgern verfälscht wurde, stellte Wagenstein sich 1989 an die Spitze der Demonstranten gegen den Staatssozialismus. In den neunziger Jahren vertrat er sein Land als Diplomat im Ausland, und er begann, Romane zu schreiben, die an historischen Einsichten reich sind. Der jüngste, „Weit von Toledo“, harrt noch der deutschen Übersetzung.

Berlin hat er bis vor wenigen Jahren immer wieder besucht. Mit Filmen, die er für Jo Hasler, Wolfgang Staudte, Herrmann Zschoche und Peter Patzak schrieb, zählt er auch zu den wichtigen deutschen Szenaristen. Filmhistorisch am bedeutendsten war aber die Zusammenarbeit mit Konrad Wolf. Nach action-reichen Kriegsfilmen sowie Komödien, die Wagenstein in seiner Heimat herausbrachte, kam der künstlerische Durchbruch, als er mit seinem Moskauer Ex-Kommilitonen Konrad Wolf zusammenarbeitete. Ihr gemeinsamer antifaschistischer, nach eigenen Erlebnissen aus seiner Partisanenzeit gestalteter Film „Sterne“ über die Liebe einer gefangenen Jüdin zu einem deutschen Offizier, wurde 1959 in Cannes preisgekrönt, kam aber erst mit Verzögerung in die bulgarischen Kinos. Daran, dass die damaligen bulgarischen Faschisten die Deutschen bei der Unterdrückung der Juden unterstützten, sollte aus falsch verstandenem Patriotismus nicht erinnert werden. Doppelbödig war auch beider Feuchtwanger-Adaption „Goya oder Der arge Weg der Erkenntnis“, die 1971 erschien. „Konrad Wolf lag daran, den stillen Krieg, den kalten Krieg zwischen Künstler und Macht deutlich herauszustellen“, sagte Wagenstein in einem Interview. Transportiert wurde das zum Beispiel durch die von Ernst Busch gespielte Figur des Aufklärers Jovellanos. Doch die, die gemeint waren, durchschauten die Absicht. Trotzdem erhielt der Film auf dem Moskauer Filmfestival 1971 den Spezialpreis der Jury. Zehn Jahre später bereitete Wagenstein mit Konrad Wolf den Film „Die Troika“ vor, der auf Wolfs Erinnerungen beruhen sollte. Doch Wolf starb 1982, so dass das Projekt abgebrochen und neuem Ärger aus dem Weg gegangen wurde.

Mit immerhin 93 Jahren besuchte Wagenstein das Berliner Kino Toni am Antonplatz. Es gelang, ihn nach Berlin zu locken, weil er den eigenen, sehr selten aufgeführten Film „Der kleine Prinz“ (1966/71) noch nie gesehen hatte. Es war dem 93jährigen aber auch eine angenehme Verpflichtung, an seinen drei Jahre jüngeren Studienfreund Koni zu erinnern, den er mitunter auch Konrad Friedrichowitsch nannte. Schließlich war Koni der Sohn des Dichters Friedrich Wolf, der mit seiner Familie in die Sowjetunion emigrierte, die Konrad Wolf zur zweiten Heimat wurde. Wagenstein hatte gemeinsam mit Wolf aus dem „Kleinen Prinzen“ einen diffizilen Anti-Kriegsfilm gemacht, indem er dem nachdenklichen Flieger, der über der Wüste abstürzt, größeres Gewicht gab. Das gefiel dem Haupterben des Autors Saint-Exupéry nicht, und es mußte für jede einzelne Aufführung des Films seine Zustimmung eingeholt werden – und die gab es meist nicht. Inzwischen sind die Werke Saint-Exupérys rechtefrei, und der Film kann ausgewertet werden.

Wie die glückliche Besetzung der Titelrolle mit der durchaus burschikosen Christel Bodenstein zustande kam, verrieten sie und Angel Wagenstein im Toni selbst. Wolf hatte für seine damalige Ehefrau kein Geburtstagsgeschenk, und Wagenstein schlug vor: Schenke ihr die Rolle des Prinzen! Es wurde die einzige künstlerische Zusammenarbeit des Ehepaars, und – wie man jetzt beurteilen kann – eine beglückende.

Inzwischen darf Angel Wagenstein mit seinen Romanen als einer der großen, noch zu wenig bekannten europäischen Erzähler gelten. Sein dritter, 2010 auf deutsch erschienener Roman heißt „Leb wohl, Shanghai“. Er erzählt von Schicksalen europäischer Juden, die vor den Nazis ins von Japanern besetzte Shanghai fliehen. Hier versuchen sie, sich mit den Widersprüchen einer ihnen neuen, alten Welt zu arrangieren. Woran kann man noch glauben? „Wenn Gott Fenster hätte, hätte man ihm schon längst die Scheiben eingeschlagen.“