Kurt Hiller und die Demokratie – das ist kein Verhältnis, das man in einem Satz auf den Punkt zu bringen vermöchte, hat sich doch Hiller sein Leben lang mit Fragen von Politik und Gesellschaft, Staat und Verfassung auseinandergesetzt und dabei – immer getragen von humanitären Idealen – durchaus variierende Positionen bezogen. In Bezug auf die Demokratie allerdings blieb er sich treu. Dies wird durch zwei Bände deutlich, die die Kurt-Hiller-Gesellschaft – seit vielen Jahren um die Wiederentdeckung des Pazifisten und einstigen Weltbühne-Autors verdient – in diesem Jahr als Nach- bzw. Neudrucke hervorgebracht hat: „Die Verwirklichung des Geistes im Staat“ von 1925 und „Das Problem der Verfassung“ von 1945.
Das Buch von 1925 ist ein Sammelband, der in stringenter Weise Aufsätze des Autors aus den Jahren 1916 bis 1924 zusammenfasst. Ein Blick auf die Titel der Beiträge zeigt den weiten Horizont, innerhalb dessen sich Hiller bewegt: vor der Novemberrevolution etwa „Philosophie des Ziels“, „Nach Thomas Mann: Franz Werfel“, „Die Neue Volkstümlichkeit“, „Ein Deutsches Herrenhaus“, „Christ und Aktivist“; nach der Revolution dann unter anderen „Überlegungen zur Eschatologie und Methodologie des Aktivismus“, „Brauchen wir eine Reichswehr?“, „Gegen die Arbeitsdienstpflicht“, „Die neue Partei oder Politik der Synthese“. Hillers eigene Position schält sich vielleicht am anschaulichsten in seiner Auseinandersetzung mit einem Aufsatz Thomas Manns aus dem Jahre 1916 heraus: „Auch daß Politisierung dasselbe wie ‚Demokratisierung‘ sei, ist gröbstes Mißverständnis. Der Aktivismus will keine Kratie des Demos, also der Masse und Mittelmäßigkeit, sondern eine Kratie des Geistes, also der Besten. Daß diese Besten höchst unidentisch sind mit dem, was heute als ‚Adel‘ gebucht wird, gilt, lebt und regiert – ist eine Erkenntnis, die wir freilich mit sogenannt demokratischen Parteien teilen. Auch zu andern Punkten ihres Programms (Forderungen der Freiheit und der allmenschlichen Verbundenheit) sagen wir Ja, nur just zu ihrem staatsphilosophischen Prinzip nicht. Sehr im Zentrum unseres Denkens – ich rede jetzt von uns Jüngeren – steht der Versuch, die anerkennungswürdigen, ewigen Grundideen des Liberalismus und des Sozialismus (nicht der Demokratie!) in eine organische Verbindung zu bringen mit jenem Aristokratismus, der uns vielleicht als stärkster Instinkt im Blute sitzt.“
Das Beispiel mag genügen, um deutlich zu machen, wie wenig sich Hiller mit einem Demokratismus anzufreunden vermag, „der ‚das Volk‘ ausspielen möchte gegen Einzelne, die es überragen“, für den das Volk eben nicht die Gesamtheit darstellt, sondern die „Gesamtheit der Mittelmäßigen“, auf deren Niveau er die Gesellschaft als Ganze herabdrückt („Ein Deutsches Herrenhaus“, 1917). Diese für Hiller „üble“ Sorte Demokratie „nimmt aus Instinkt von vornherein stets die Partei der Vielen gegen die Wenigen – nämlich der vielen Roheren, Einfacheren, Flacheren, Materielleren, Kälteren und Beschränkteren […] gegen die paar Empfindlicheren, Verwickelteren, Tieferen, von der Idee Bestimmteren, Glühenderen und Geistigeren“. Ein Schelm, wer angesichts des derzeitigen Erstarkens populistischer Parteien überall auf der Welt Böses dabei denkt! So versteht denn auch der Herausgeber Harald Lützenkirchen die Neuausgabe von Hillers Buch als „eine Aufforderung an heutige Generationen zur Tat mit dem Ziel, den ‚Besten‘ zur Herrschaft zu verhelfen“. „Aber: erst das Wort, dann die Tat; erst Planung des Ziels, dann der Weg zur Durchsetzung.“
Grundgedanken der Schrift von 1925 nimmt Kurt Hiller auch zwanzig Jahre später in „The Problem of Constitution“ auf, die dank Lützenkirchen nun zum ersten Mal in einer deutschen Fassung vorliegt. Auch jetzt plädiert er für ein Zweikammersystem mit einer Kammer der Geistigen, „die neben dem vom Volk gewählten Parlament als qualitatives Korrektiv fungieren soll, damit nicht nur die durch Parteienklüngel eingeschränkte Wahl einer unmündigen Mehrheit des Volkes über das Wohl einer Gesellschaft entscheidet“. Hierzu beruft sich Hiller auf Autoren von Konfuzius und Platon über Georg Christoph Lichtenberg, Schiller und Fichte, Schopenhauer und Nietzsche bis hin zu George Bernard Shaw und Ernst Toller; zugleich spielen selbstverständlich auch die Erfahrungen aus der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus eine Rolle.
„The Problem of Constitution“ war einer von vier Beiträgen in dem von Kurt Hiller 1945 in London herausgegebenen Band „After Nazism – Democracy?“; die übrigen Aufsätze stammten von Walter Detlef Schultz („Democracy, Freedom, Socialism“), Hans Jaeger („A New Form of Democracy“) und Eugen Max Brehm („A Democratic Foreign Policy“) und ergänzen Hillers Grundkonzept. Dass dies mitnichten im Begriff der Demokratie aufgeht, zeigt schon das Fragezeichen im Titel des Buches. Nicht Demokratie, „dieser vage Ausdruck mit vielen Bedeutungen, der dem Schreien jedes Esels und dem Schwindeln jedes Heuchlers hilft“, ist Hillers Ziel, sondern „Sozialismus mit Freiheit“, eine Verbindung, wie sie „niemals in der Geschichte bis in die Gegenwart existierte“. Hillers Hoffnung auf eine Verwirklichung seines Ideals konnte er 1945 voll rührender Naivität noch in der Gemeinsamkeit der Westmächte mit der Sowjetunion verortet finden – dass er mit seinem niemals mehr Recht behalten sollte als er wollte, gehört wohl zur Tragik seines Denkens wie auch zur Tragik vieler, die dachten und denken wie er. Jedoch: „Politik mag die Kunst des Möglichen sein; aber man kann sie nur ausüben, wenn man weiß, was das Erforderliche ist.“ In solchem Sinne bringt auch dieser Band ein Problem auf den Punkt, das bis heute ungelöst ist.
Kurt Hiller: Verwirklichung des Geistes im Staat. Nachdruck, hg. v. Harald Lützenkirchen, von Bockel Verlag, Neumünster 2023, 360 Seiten, 29,80 Euro; ders.: Das Problem der Verfassung, übertragen u. hg. v. Harald Lützenkirchen, von Bockel Verlag, Neumünster 2023, 140 Seiten, 19,80 Euro.
Schlagwörter: "Die Verwirklichung des Geistes im Staat", Demokratie, Demokratismus, Hermann-Peter Eberlein, Kurt Hiller, Weimarer Republik