26. Jahrgang | Nummer 14 | 3. Juli 2023

Die Bad-Kleinen-Ballade

von Gerhard Müller

Vor 30 Jahren geschah es. Der Provinzbahnhof in Bad Kleinen im Norden des Schweriner Sees wurde Schauplatz einer wüsten Wild-Ost-Schießerei, bei der zwei junge Menschen ihr Leben verlieren, der Polizist Michael Newrzella und der RAF- Wolfgang Grams. Sie waren Opfer eines Polizei-Einsatzes, bei dem 100 Elite-Polizisten der GSG  9 das Ziel verfehlten, ein RAF-Pärchen zu verhaften, das in der Bahnhofsgaststätte bei Kaffee und Kuchen saß – Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams. Es kam zu einer Schießerei und anschließend zu einem Medien-Skandal, weil unklar blieb, wer wen erschossen hatte. Der offizielle Polizeibericht beschuldigte Wolfgang Grams, sich selbst erschossen zu haben, als er durch fünf Schüsse verletzt auf die Gleise stürzte. Aber nachdem Akten und Beweisstücke abhandengekommen waren, gaben Generalbundesanwalt Alexander von Stahl und der Bundesinnenminister Rudolf Seiters überraschend ihre Ämter auf, als hätten sie einen Grund dafür gehabt.

Inzwischen erinnert nichts mehr an das Vorgefallene. Der Bahnhof von Bad Kleinen präsentiert sich wieder als harmloser Provinzbahnhof. Tunnel, Café und der Kiosk, von dem aus eine Zeitungsverkäuferin das Geschehen beobachtete, existieren nicht mehr, und die Augenzeugen wurden zum Schweigen verpflichtet. Aber einer schwieg nicht, er war auch nicht beteiligt – der Komponist Reiner Bredemeyer. Er komponierte zwei Wochen nach dem Vorfall eine Kantate, die er, der überzeugte Kommunist und Eisler-Verehrer, „Geistliche Chormusik Nr. 1“ nannte und die im Untertitel „Kleine Bad-Kleinen-Ballade für Tenor, Chor und 9 Instrumente – Eine (GSG) 9-Ton-Komposition“ hieß. Bredemeyer schickte sie umgehend nach Leipzig an seinen Freund, den Thomaskantor Georg-Christoph Biller, auf eine Aufführung hoffend, die Biller indes nicht wagte. In einem launischen Begleitbrief hieß es „Bußpsalmen sinds wohl auch nicht so direkt, aber Buße tun sollten die RAF- und GSG 9-Typen allemal.“ Dass Bredemeyer die beiden RAF-Akteure ins Zentrum seiner Komposition rückte, irritierte selbst seine Freunde. Aber darum ging es ihm nicht. Seine Frage war die alte Woyzeck-Frage: Was sind das für Verhältnisse, die Menschen zu Terroristen und Mördern machen? Die „Bad-Kleinen-Ballade“ war sein modernes Lamento, ein „Deutsches Requiem“ des. 20. Jahrhunderts. Vergangene deutsche Musik, vergangene deutsche Literatur kommen demzufolge in den Zeitbericht. Zwei Hörner stimmen den „Jägerchor“ aus dem „Freischütz“ an („Was gleicht wohl auf Erden dem Jägervergnügen…“, die Klarinette zitiert einen Schlager von Peter Kreuder „In einer kleinen Konditorei da saßen wir zwei bei Kuchen und Tee…“ und ein „Evangelist“ berichtet im Gestus des Weihnachtsoratoriums, aber im Wortlaut der Bild-Zeitung von dem „Blutbad im Bahnhof“. Verse von Friedrich Hölderlin, Ludwig Uhland und Bertolt Brecht kommentieren das Geschehen:

„Der Busch war kahl, der Wald war stumm

zwei Liebende sah ich scheiden.

Sie sah ihm nach, er sah herum,

bis der Nebel trennte die beiden.“

 

Und als Schlusschoral dienen Verse Brechts aus dem „Guten Menschen von Sezuan“:

„Keinen verderben zu lassen, auch sich selber nicht,
jeden mit Glück zu erfüllen, auch sich,
das ist gut.“

 

Die Ukraine fällt einem dabei ein, Bad Kleinen im Großen – sinnlose Totschlägerei.

Christoph Hein, ebenfalls mit Bredemeyer befreundet, beschrieb in seinem Roman „In seiner frühen Kindheit ein Garten“ die Moritat von Bad Kleinen. Seinem literarischen Werk war jene Aufmerksamkeit beschieden, die dem musikalischen bisher versagt blieb. Bredemeyer hat viele „politische“ Musiken geschrieben, deren (negativ konnotierte) Texte oft auch Zeitungsberichte prominenter ost-westlicher Politiker waren, die er in ironische oder sarkastische Tonbilder hüllte. Manche erregten Skandale, andere wurden gar nicht erst aufgeführt, weil sie zu provokativ oder zu schwierig oder beides waren. Man hat sie als „Höllenpolyphonie“ beschrieben, ein treffender Ausdruck für eine Kunst, die sich nicht fügte. Aus deren politischen Leersätzen wurden durch die Musik karnevaleske Lachnummern. Einzige Ausnahme war Gorbatschow, dem die choralische Phantasie „Einmischung in unsere Angelegenheit“ gewidmet war.

Bredemeyer, 1995 verstorben, war sein Lebtag lang Theaterkomponist und -kapellmeister des Deutschen Theaters und schrieb die Bühnenmusiken für Dutzende der berühmten Inszenierungen des Hauses. Daneben aber, im Schatten der Alltagsarbeit, entstanden große und anspruchsvolle Kompositionen, die immer auch polemische Auseinandersetzungen darstellten. Darunter befinden sich die Liederzyklen „Die schöne Müllerin“ und „Die Winterreise“, mit denen er denen von Franz Schubert originelle Varianten hinzufügte, die Bühnenwerke „Die Ausnahme und die Regel“, „Der Nein-Sager“, „Die Galoschenoper“ und „Candide“, Lieder und Vokalwerke nach Texten von Heinrich Heine, Bertolt Brecht, „Die ersten beiden Sätze für ein Deutschlandbuch“ (Johannes Bobrowski) , „Berliner Lieder“ (Günter Kunert), Volker Braun, Karl Mickel, Heiner Müller und anderen. Daneben stehen Instrumentalstücke wie „bagatellen für b.“ (Beethoven), „novembernes“ (Arno Schmidt), „Auftakte“, „Aufschwung OST“, „Abschlussbericht“. Unter seinen komponierenden Kollegen war er das größte satirische und polemische Talent, was aber nicht „Komiker“ oder Operettenkomponist bedeutete. Im Gegenteil. Der kommerziellen unterhaltenden Musik brachte er das größte Misstrauen entgegen. Das Unvereinbare war sein Genre – trauriger Spott und lachende Melancholie, sarkastischer Witz und wehmütiges Grinsen. Sein Leitmotiv die kritische Erinnerung. Er hielt sie für die erste Bürgerpflicht.

Die soll heute nicht mehr gelten. Der Bürgermeister von Bad Kleinen, Joachim Wölm von der „Linken“, kämpft tollkühn gegen die Erinnerung und für das Vergessen. Dem ermordeten Polizisten Newrzella will er, wie die Schweriner Volkszeitung schreibt, kein Denkmal setzen, weil dann womöglich auch ein Gegendenkmal für Wolfgang Grams gefordert würde. Welch kluge Vor-(aus-) sicht! Vergessen ist die erste Bürgerpflicht. Vergessen, was einst Heine sagte und Hermann Kant als Motto seines Romans „Die Aula“ wählte: „Der heutige Tag ist ein Resultat des gestrigen. Was dieser gewollt hat, müssen wir erforschen, wenn wir zu wissen wünschen, was jener will.“

Die Kleine Bad-Kleinen-Ballade ist noch nicht erklungen. Als ich vor einigen Jahren dem damaligen Direktor der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern, Markus Fein, die Partitur schickte mit der Bitte, das Stück in das Festivalprogramm aufzunehmen, antwortete er genau wie der Thomaskantor vor 30 Jahren – mit Schweigen.

Von Gerhard Müller erschien 2022 im Verlag Neue Musik Berlin „Bagatellen für B. Der Komponist Reiner Bredemeyer“. 336 Seiten, 32,80 Euro.