26. Jahrgang | Nummer 14 | 3. Juli 2023

Esteban Volkov

von Mario Keßler

Nicht nur der besiegte Revolutionär Leo Trotzki, sondern auch seine Familie fiel der Mordlust des Konterrevolutionärs Josef Stalin zum Opfer. Die Söhne Lew und Sergej Sedow aus Trotzkis zweiter Ehe wurden ermordet, seine Tochter Nina Nevelson geb. Sokolowskaja aus seiner ersten Ehe ging an den Strapazen der Verfolgung zugrunde, ihre Schwester Sinaida Wolkowa beging im Januar 1933 in Berlin Selbstmord. Angesichts des Entzugs der sowjetischen Staatsbürgerschaft durch Stalin und am Vorabend des faschistischen Sieges in Deutschland, dessen Konsequenzen ihr im türkischen Exil lebender Vater klar vorausgesehen hatte, sah sich die von Tuberkulose und schweren Depressionen heimgesuchte Frau in einer ausweglosen Lage.

Sinaidas erster Ehe mit Sachar Moglin entstammte die Tochter Alexandra, ihrer zweiten Ehe mit Platon Wolkow, einem führenden Mitglied der antistalinistischen Opposition in der bolschewistischen Partei, der Sohn Esteban, ursprünglich Wsewolod, der in seiner Kindheit Sewa gerufen wurde. Er wurde am 7. März 1926 in Jalta auf der Krim geboren. Nach der erzwungenen Deportation Leo Trotzkis aus der Sowjetunion wurde sein Schwiegersohn Platon Wolkow verhaftet und 1936 umgebracht. Sinaida durfte 1931 mit dem kleinen Sohn ausreisen. Ihre Tochter Alexandra blieb mit dem Vater in Moskau und überlebte den Stalin-Terror. Von Prinkipo, der türkischen Insel im Ägäischen Meer, Trotzkis erstem Exilort, gingen Sinaida und Sewa nach Berlin. Sinaida wollte sich bei Arthur Kronfeld einer psychologischen Behandlung unterziehen. Nach ihrem Selbstmord nahm Lew Sedow seinen kleinen Neffen in Obhut.

Hitlers Machtantritt zwang Trotzkis Angehörige zur Flucht aus Deutschland. In Paris ging Sewa zur Schule, während sein Onkel die Arbeit der internationalen trotzkistischen Opposition koordinierte. Dies endete mit Lew Sedows Ermordung durch die sowjetische Geheimpolizei im Februar.

Es folgte ein langer Streit zwischen Trotzkis Angehörigen um das Sorgerecht für Sewa, bevor er im August 1939 nach Mexiko zu Trotzki und seiner Großmutter Natalia Sedowa gelangte. Fürsorglichkeit und Liebe, die Leo Trotzki seinem Enkel zuteilwerden ließ, widerlegt die oft wiederholte Verleumdung, er sei ein ichsüchtiger Mensch gewesen. In einem nachgelassenen Brief an seinen Enkel bat Trotzki ihn, die russische Sprache nicht zu vergessen. Doch von einem Land ins andere geschleudert, konnte Sewa Trotzkis Bitte nicht erfüllen und vergaß das Russische wie das Deutsche, die Sprachen seiner frühen Kindheit. Er bedauere dies lebenslang, sagte er mir Jahrzehnte später, obwohl er neben dem Spanischen auch Französisch und Englisch fließend beherrschte.

In der Nacht zum 24. Mai 1940 verübten fast zwei Dutzend als Polizisten verkleidete Männer mit Maschinenpistolen ein Attentat auf Trotzki. Wie durch ein Wunder überlebte die Familie den Angriff des Mordkommandos, das unter Leitung des Malers und fanatischen Stalinisten David Alvaro Siqueiros stand. Der vierzehnjährige Sewa, nunmehr Esteban Volkov, wurde am Fuß verwundet. Das einzige Todesopfer war Sheldon Harte, ein Leibwächter, der den Attentätern das Tor zu Trotzkis Haus geöffnet hatte. Sie erschossen ihn, nicht wissend, dass er im Sold des sowjetischen Geheimdienstes stand. Knapp drei Monate später erreichte Stalin jedoch sein Ziel, als der Geheimagent Ramón Mercader Trotzki ermordete. Esteban war damals nicht im Haus, traf jedoch unmittelbar danach ein und sah seinen tödlich getroffenen Großvater. Dieser sagte noch zu den – zu spät gekommenen – Wachleuten, man solle den Jungen fernhalten, er dürfe das nicht sehen.

Trotzkis Witwe Natalja Sedowa blieb bis zu ihrem Tod 1962 der Esteban Volkov am engsten verbundene Mensch. Esteban blieb in Mexiko, studierte Technische Chemie und arbeitete jahrzehntelang erfolgreich als Ingenieur. Schon früh beschäftigten ihn Probleme der Umwelttechnologie und der Umweltökonomie ebenso wie Fragen nach einem ökologisch basierten demokratischen Sozialismus. Die Lektüre von Rudolf Bahros „Alternative“ übte einen starken Einfluss auf ihn aus. Er gründete eine Familie und wurde Vater von vier Kindern.

Politisch blieb er, ohne sich einer trotzkistischen Organisation anzuschließen, dem Erbe seines Großvaters verbunden. Er gestaltete Trotzkis Haus in der Avenida Viena in Coyoacán, damals ein Vorort von Mexiko-Stadt, zu einer Gedenkstätte um und gründete eine Stiftung zu ihrem Erhalt. Dort fand eine Reihe politisch-kultureller und wissenschaftlicher Begegnungen statt, so am 11. März 2021 – wahrscheinlich etwas gegen seinen Willen – eine Tagung zu Ehren von Estebans 95. Geburtstag. Wieviel er an Zeit und Geld in die damit verbundenen Projekte investierte, wusste wohl nur er allein.

Mit größtem Interesse verfolgte Esteban Volkov die Entwicklung in der Sowjetunion unter dem Signum von Glasnost und Perestrojka. Seine Hoffnung, dieser Wandel werde in einen demokratischen Sozialismus einmünden, erfüllte sich nicht. Doch erlebte er, dass in Moskau der Bannfluch über seinen Großvater aufgehoben wurde. Zu seiner Freude erfuhr er dank der Nachforschungen des französischen Trotzki-Biografen Pierre Broué, dass seine totgeglaubte Schwester Alexandra Moglina in Moskau lebte. Kurz vor ihrem Krebstod 1989 konnte er sie dort noch besuchen.

Trotzkis Nachkommen leben heute in Russland, Mexiko, den USA und Israel. Nicht alle blieben dem Erbe des Revolutionärs so eng verbunden wie sein Enkel Esteban Volkov. Ein Urenkel, David Axelrod, Enkel von Trotzkis Sohn Sergej, ließ sich im Westjordanland nieder und wurde innerhalb der israelischen Siedler-Bewegung zu einem ihrer aggressivsten Wortführer. Er gab seinem Sohn, Trotzkis Ururenkel, den Namen Baruch Meir – benannt nach Baruch Goldstein, der 1994 beim Gebet in Hebron 29 Muslime erschoss, und nach Rabbi Meir Kahane, dessen ultranationalistische Partei in Israel verboten wurde.

Zur Familiengeschichte der Trotzkis gehört die Tatsache, dass David Axelrods Mutter Julia als Enkelin Trotzkis von Kindheit an unter dem Stalin-Terror litt: Ihr Vater wurde ermordet, ihre Mutter überlebte jahrzehntelange Haft und Verbannung, sie selbst wuchs bei Verwandten auf, ohne ihre Familiengeschichte zu kennen. Auch ihr Sohn wusste lange davon kaum etwas. Selbst die Tatsache, dass er Jude war, erfuhr er erst, als Mitschüler den Jugendlichen in Moskau deshalb verprügelten. Er begann alles zu hassen, wofür der Großteil seiner Familie stand. Doch besaß seine zuletzt in New York lebende Mutter in ihrem Apartment ein Bild Martin Luther Kings, das unübersehbar an ihrer Zimmerwand hing.

Esteban Volkov zog aus all den Tragödien eine völlig andere Folgerung für sein Leben als der militante Araber-Hasser David Axelrod. Er verkörperte das Erbe Leo Trotzkis, in dessen Zentrum der Internationalismus stand, der eine Zukunft der Juden mit einem eigenständigen Territorium in einer sozialistischen Weltgesellschaft aber nicht prinzipiell ausschloss. Esteban Volkov starb am 16. Juni im Alter von 97 Jahren. Er war der letzte Nachkomme, der Trotzki noch persönlich gekannt und ihm nahegestanden hatte. Seine Arbeit im Museum wird von Gabriela Pérez Noriega fortgesetzt, die ihm auch in den letzten Jahren angesichts seiner schwindenden Gesundheit zur Seite stand. Esteban Volkovs Leben, auch wenn es die letzten Jahrzehnte äußerlich ruhig verlief, lässt uns in die schlimmsten Abgründe des 20. Jahrhunderts blicken.