Zur Sozialisation im Osten Deutschlands gehören für mehrere Generationen von Lesern ganz persönliche Christa-Wolf-Momente. Das betrifft nicht nur die Freude, wenn es gelungen war, möglichst früh ihr jeweils neuestes Buch zu ergattern. Mit dem Christa-Wolf-Sound, der nicht nur Clemens Meyer fasziniert hat, ließ sich jene Art von offizieller Sprachverhunzung einhegen, die damals gepflegt wurde. Man darf diesen Teil des DDR-Erbes getrost zu den Vorläufern der Angriffe rechnen, denen die Sprache von Goethe, Thomas Mann und Christa Wolf heute – wenn auch nicht von „oben“ – ausgesetzt ist. Solchen, die sie verbiegen, die inneren Verbindungen zur Vergangenheit (den für Meyer so zentralen „Kindheitsmustern“ im doppelten Wortsinn) kappen, sie ideologisch in Dienst nehmen (wollen). Von der manchmal einfach praktischen, meist aber nur gedankenlosen Anglifizierung, besser Amerikanisierung, über das ideologisch aufgeladene Gendern bis zum neuerlichen Abdriften in eine bellizistische Hysterie. Als wäre der dafür verantwortliche Krieg nicht schlimm genug, wird die Sprache zum Kollateralschaden. Russen etwa kommen da als „eliminierte“ Zahl in einer Schlagzeile bei n-tv unter einem Bericht über den Krieg der Nazis vor. Und keinem Redakteur fällt auf, was Christa Wolf wohl aufgefallen wäre …
Es ist aber auch die Bewunderung für den nur aus der Binnenperspektive einer erlebten DDR verständlichen Frauenmut vor Genossen-Thronen, wenn man an Christa Wolfs – seinerzeit im Neuen Deutschland nachlesbaren, also öffentlich gewordenen – Auftritt auf dem berüchtigten 11., dem Kahlschlag-Plenum des ZK der SED von 1965 denkt, mit dem sie angegriffene Kollegen verteidigte.
So ein Christa-Wolf-Moment ist aber auch der gemeinsame historische Irrtum mit dem Aufruf „Für unser Land“, den sie am 26. November 1989 vortrug. Also nach der legendären Demonstration auf dem Alexanderplatz am 4. November, von deren dortiger Rede sich Meyer seinen Titel „Als wir träumten“ borgte. Aber eben auch nach dem „Mauerfall“ am 9. November, da die Messen längst gesungen waren. Auch gemeinsame Irrtümer sind etwas Gemeinsames.
Mit dem Erscheinen von „Kassandra“ 1983 im Osten und Westen Deutschlands war der Ehrgeiz geweckt, im Vergleich beider Ausgaben, die Eingriffe der Zensur aufzuspüren und über deren (man kann es nicht anders nennen) Dummheit zu staunen. „Medea“ wiederum war 1996 wohl das Buch, das man (vor allem) im Osten auf Anhieb auch als Zustandsbeschreibung des vereinigten Deutschlands verstanden hat.
Sein Geburtsjahrgang 1977 erlaubt Clemens Meyer einen eigenen, spürbar emotionalen Blick auf Christa Wolf und ihre „Kindheitsmuster“, die seinerzeit, ein Jahr nach der Biermannausbürgerung und ihren Nachbeben erschienen. Für ihn wurden sie Teil seines eigenen Erwachsenwerdens als Schriftsteller.
In dem gerade erschienenen schmalen Bändchen sucht Meyer das Gespräch mit Christa W., spricht von Christa-Wolf-Momenten, die für einen Autor wie ihn natürlich mehr als nur die oben beschriebenen retrospektiven sind. Er sucht nach dem Prägenden einer Literatur, die Stephan Hermlin einmal an prominenter Stelle öffentlich und damals unerhörterweise als einen Zweig am Baum der deutschen Literatur bezeichnet hat. Für Meyer ist dieser Zweig keinesfalls „erledigt“, sondern allenfalls vernachlässigt.
„Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen“ – so fangen die „Kindheitsmuster“ an. Und so sind sie gemeint. Die Schriftstellerin Christa Wolf ist nicht tot, nur die Frau, die sie war, ist gestorben. Das muss auch ihr Enkel im Geiste Clemens Meyer akzeptieren. Er lässt sich aber nicht davon abhalten, mit der Autorin zu reden, sie zu be- und zu hinterfragen, sie aus dem inneren Exil zurückzuholen, in die sie die Arroganz der historischen „Sieger“ zeitweise verbannt hat. Ihrem Ansehen, ja ihrer Verehrung bei ihren Lesern hat das nie geschadet. Eine Lesung aus dem Briefwechsel mit Franz Fühmann, bei der sie sich selbst und Wolfgang Engel Fühmann lasen, im bis auf den letzten Platz besetzten Schauspielhaus in Leipzig wurde zu einem hochemotionalen letzten persönlichen Christa-Wolf -Moment, ihr Tod 2011 zu einem gleichsam privaten Verlust.
Was Clemens Meyer auf 100 Seiten zwischen zwei Buchdeckel jetzt bei Kiepenheuer & Witsch veröffentlich hat, ist ein Essay, der bewusst auf eine strenge Form verzichtet. Er reflektiert gleichsam das Schreiben selbst mit (so wie es in den „Kindheitsmustern“ vorexerziert wird), springt zwischen Zeiten und Ebenen. Natürlich hat der Titel auch ein Quantum Selbstermächtigung, wenn er seinen Namen vor den der Wolf setzt und mit „über“ verbindet: Clemens Meyer über Christa Wolf. Aber er ist ihr auf eine Weise suchend und fragend so nah, dass das in Ordnung geht. Zumal er um die bewusst aufgegriffenen und die unbewusst wirkenden Einflüsse ihres auf sein Schreiben weiß. Und sich auch darauf beruft.
Bei der Gelegenheit spielt er die aparte, fiktive Idee des Drehbuchs einer Soap zur DDR-Literatur durch. Er kennt die Bücher, nennt die Namen. Mischt sich – wohl ganz zu Recht – selbst unter deren Nachfahren. Als er die Idee dem MDR anbot, lehnte der ab. Für Meyer ist Christa Wolf eine kommentierende Seherin und Wolfgang Hilbig der um die Form ringende Nachtalb. Er findet für alle in Frage kommenden Mitspieler aus der Zeit der „Hoffnungswilligkeit“ trefflich Charakterisierendes. Schade, dass seine Idee für eine Ost-Schriftsteller-Soap wohl auch nur in diese Kategorie fällt. „Kein Ort. Nirgends“. Aber jede Literatur nährt so oder so das Prinzip Hoffnung. Eine wäre: diesen Essay einer Neuausgabe der „Kindheitsmuster“ hinzuzufügen.
Volker Weidermann (Hrsg.): Clemens Meyer über Christa Wolf. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023, 112 Seiten, 20,00 Euro.
Schlagwörter: Christa Wolf, Clemens Mexer, Joachim Lange