Am 7. März 1953, zwei Tage nach Stalins Tod, erschien Neues Deutschland, wie tausende kommunistische Zeitungen in der ganzen Welt, mit der Schlagzeile: „Das Herz des größten Menschen unserer Epoche hat aufgehört zu schlagen.“ An Stalins 70. Todestag erinnerte das nd in diesem Jahr nicht. Dies taten jedoch die russischen Kommunisten.
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Auf der offiziellen Website der Kommunistischen Partei der Russländischen Föderation (kprf.ru) findet sich über Jahre hinweg eine kaum übersehbare Zahl an Würdigungen des Diktators. Nur zwei seien aus Anlass seines 70. Todestages herausgegriffen:
Am 3. März 2023 fand in der Redaktion der KP-Zeitung Prawda ein runder Tisch zum Thema „Stalin als herausragender nationaler Führer, Militärstratege, Staatsmann und politische Figur“ statt. Daran nahmen laut offizieller Verlautbarung teil: Vertreter des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation, des Lenin-Komsomol, der Allrussischen Bewegung zur Unterstützung der Armee, der Verteidigungsindustrie und der Militärwissenschaft, der Internationalen Union der sowjetischen Offiziere, der Organisation „Russische Wissenschaftler sozialistischer Orientierung“ sowie Sekretäre und weitere Funktionäre örtlicher Parteiverbände.
Prawda-Redaktionsmitglied Viktor Koshemjako erinnerte an Stalin als Mitgründer der Prawda 1912 (dass Trotzki vier Jahre vorher in Wien die erste Nummer der Zeitschrift herausgegeben hatte, fand keine Erwähnung). In seiner Grundsatzrede lobte Generalmajor Viktor Sobolew, Leiter der Allrussischen Bewegung zur Unterstützung der Armee, der Verteidigungsindustrie und der Militärwissenschaft, die Stalinsche Industrialisierung und Kollektivierung der Landwirtschaft, ohne auf die Opferzahlen einzugehen. Trotz der Verluste des Großen Vaterländischen Krieges sei die Einwohnerzahl der Sowjetunion zwischen 1927 und 1952 von 148,4 auf 188,4 Millionen Menschen gestiegen – woher sollten dann die Zahlen angeblicher Menschenverluste stammen?
Falsch sei auch die Behauptung, die „Repressalien“ (die Anführungszeichen stehen im Konferenzbericht) gegen die Befehlshaber der Armee in den Jahren 1937 und 1938 hätten die Armee der Möglichkeit beraubt, dem Feind wirksam entgegenzutreten. Die „Verschwörung gegen die Regierung durch eine Gruppe von Militärbefehlshabern“ unter der Führung Michail Tuchatschewskis sei eine Tatsache gewesen; ihre Zerschlagung habe die Sicherheit der UdSSR gewährleistet. Nach der Ernennung von Lawrenti Beria zum Leiter des NKWD seien „alle Fehler korrigiert“ worden.
Interessant waren die Ausführungen des Duma-Abgeordneten Iwan Nikitschuk über Stalins Rolle bei der Errichtung eines nuklearen Raketenschildes für die Sowjetunion. Josef Wissarionowitsch (er nannte Stalin in dieser höflichen Form) habe ein waches Bewusstsein für diese Fragen gehabt, und so seien bereits im Oktober 1942 die Forschungen zur Produktion von Atombomben angelaufen. Hierher hätte die – selbstverständlich nicht erwähnte – Tatsache gehört, dass Stalin ein einziges Mal einen wirklichen früheren Trotzkisten vor dem Tode bewahrte, nämlich den Physiker Lew Landau, der später am Projekt der sowjetischen Wasserstoffbombe entscheidend beteiligt war. Landau hatte im Vorfeld des 1. Mai 1937 in einer von ihm initiierten Flugblattaktion zum Sturz Stalins und zur Rehabilitierung der trotzkistischen Angeklagten der ersten beiden Moskauer Prozesse aufgerufen. Akademiemitglied Pjotr Kapiza warnte damals Stalin, das brillanteste Gehirn der Sowjetunion zu zerstören (beide Physiker erhielten später den Nobelpreis). Weitere Ausführungen zur Militärgeschichte enthielten trotz ideologischer Verzerrungen interessante Einzelheiten zur Entwicklung der verschiedenen Waffengattungen, der Rest war reine ideologische Lobhudelei, Hetze gegen wirkliche und angebliche Trotzkisten und eine Leugnung der Massenmorde.
Am 5. März fand in Moskau eine „patriotische Gedenkaktion statt“, hieß es in einer anderen KP-Meldung (mit Video). Kommunisten, Komsomol-Mitglieder und Vertreter „linker patriotischer Bewegungen“ legten Blumen am Lenin-Mausoleum und an Stalins Grab an der Kremlmauer nieder. Anschließend würdigte der Parteivorsitzende Gennadi Sjuganow Stalin. Er zog eine Linie zur – von ihm zurückgewiesenen – Aufarbeitung des Stalinismus in den Perestrojka-Jahren. Diese Aufarbeitung sei auf amerikanische Anweisung und mit Förderung der Harvard University erfolgt und habe aus drei Phasen bestanden. „Der erste Abschnitt hieß ‚Perestrojka‘, der zweite – ‚Demokratisierung‘ und der dritte – ‚Liquidation‘. Heute stehen sowohl Präsident Putin als auch wir alle vor der Phase der Liquidation, wobei es nicht nur darum geht, den russischen Staat, sondern die gesamte russische Welt zu beseitigen. Unserer großartigen Geschichte, unseren glänzenden Siegen und unseren großen Komponisten und Schriftstellern wurde jetzt der Krieg erklärt. Allen, die unseren tausendjährigen Staat geschaffen haben, dessen Höhepunkt die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken war, wurde der Krieg erklärt. Wir haben soeben den 100. Jahrestag ihrer Gründung gefeiert. Und an den Ursprüngen ihrer Entstehung standen Lenin und Stalin.“ Beide hätten auch mit der Neuen Ökonomischen Politik den Grundstein für den wirtschaftlichen Aufstieg der UdSSR gelegt (gab es nicht einen gewissen Bucharin?). Heute gelte es, im Geiste Lenins und Stalins die „Jungs“ zu unterstützen, „die jetzt in der Sondereinsatzzone kämpfen.“
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Von der Tragödie des Krieges sei ein Schwenk zur scheinbar nur beklemmenden Farce gestattet. Am 8. März 2014 hielt die Stalin Society of North America ihren Gründungskongress in Cambridge, Massachusetts, ab – eine ähnliche Organisation war in England bereits 1991 gegründet worden. „Wir hoffen“, betonten die amerikanischen Stalinisten, „nicht nur die Tradition unserer britischen Genossen fortzusetzen, sondern die Arbeit zur Rückgewinnung der Geschichte, die uns gestohlen wurde, zu erweitern und zu vertiefen. Unser Ziel ist nichts Geringeres als die Überwindung des antikommunistischen Geschichtsparadigmas des Kalten Krieges und die Wiederherstellung des ursprünglichen und richtigen Urteils der Geschichte über Josef Stalin als einen der Titanen des 20. Jahrhunderts. Aber wir sind nicht nur eine Ansammlung von Antiquaren, und dies ist nicht nur eine historische Gesellschaft. Unser Auftrag ist bewusst und ausgesprochen politisch. Stalin zu verteidigen heißt, den Sozialismus zu verteidigen, für eine bessere, gerechtere und menschlichere Welt einzutreten. Durch die Diffamierung Stalins haben konservative und antikommunistische Historiker und Kommentatoren versucht zu zeigen, dass es keine Alternative zum Kapitalismus gibt und dass der Versuch, eine solche Alternative zu etablieren, auf monströse Weise scheitern wird“ (stalinsociety.com). Der damalige Sprecher der Gesellschaft, der Literaturprofessor Grover Furr, wiederholte diese Worte bei der Vorstellung seiner Organisation wenige Monate später auf der Jahreskonferenz des Left Forum in New York (die Vorgänger-Tagungen, die Socialist Scholars Conferences, hatten ernsthafte Beiträge zur Verbreitung marxistischen Gedankenguts geleistet). Ich nahm an der Vorstellung unter dem Pseudonym Stephen Nash aus Kingston, New York teil (meine musikalischen Helden Stephen Stills und Graham Nash mögen mir diesen Frevel verzeihen).
Aber diese Angelegenheit ist nicht nur eine Farce. Die Stalin Society ist wie ähnliche Gruppierungen bei Veranstaltungen an Universitäten und Gewerkschaftseinrichtungen sichtbar, druckt und verteilt eine Vielzahl an Publikationen, darunter von Grover Furr und dem Engländer Harpal Brar. Einige der Bücher schafften es in deutscher Übersetzung bis in die Buchhandlung im Karl-Liebknecht-Haus. Zu den Unterstützern der Stalin Society zählt Arthur Scargill, der frühere Vorsitzende der britischen Bergarbeiter-Gewerkschaft. Die Stalin Society ist, nach einigen Jahren in halber Versenkung, wieder recht aktiv. Sie gibt als Kontaktadresse ein Postfach in Lake Bluff, Illinois (nördlich von Chicago) an. Ihr Anspruch, den Marxismus gegen alle revisionistischen Entstellungen zu verteidigen, ist natürlich ein Bluff. Doch in trüben Zeiten, in denen jungen, linksorientierten Studenten inner- und außerhalb amerikanischer Universitäten ein Gemisch aus Pseudo-Radikalismus und sogenannter „woker“ Identitätspolitik als revolutionär verkauft wird, wächst die Suche nach Antworten aufgrund von Klassenanalysen. Hier hinein stoßen Stalins Jünger mit ihrem pseudomarxistischen Vokabular. Auch sie tragen damit ihren Teil bei, um junge Menschen, denen es noch am Vergleichsmaßstab fehlt, zu desorientieren, damit diese gegen ihre eigenen Interessen handeln.
Schlagwörter: Gennadi Sjuganow, Kommunistische Partei der Russländischen Föderation, Mario Keßler, Stalin, Stalin Society, Stalinisten