Hamburg, Kunsthalle – fatal. Aber nicht nur …

von Hans-Peter Götz

Wer die Hamburger Kunsthalle kennt weiß, dass diese neben ihrem Hauptgebäude mit dem Besucherzugang aus einem weiteren, einem Parallelbau besteht, der vornehmlich für Sonderausstellungen genutzt wird und der vom ersteren durch einen großräumig dimensionierten unterirdischen Tunnel zu erreichen ist. Neben der Übergangsfunktion wird der Tunnel seinerseits für kleinere Expositionen genutzt.

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Das Sujet der Femme Fatale entwickelte sich in der europäischen Kunst im 19. Jahrhundert, zunächst in der bildenden – maßgeblich geprägt von der in England entstandenen Gruppe der Präraffaeliten –, dann in der Literatur und später, mit dem Aufkommen des neuen Mediums, schließlich im Film.

Im Zentrum dieses konstruierten, praktisch ausschließlich von männlichen, häufig hypersexualisierten Phantasien, Ängsten und Neurosen geprägten, auch als Vamp bezeichneten Stereotyps steht die Frau. Nicht als komplexes Wesen, sondern in ziemlich reduzierter Ausprägung – als besonders attraktive, ja aufreizende und somit erotisch verführerische, teils magische und dämonische Gestalt, die unter zielgerichtetem Einsatz ihres Sexappeals Männer reihenweise in ihren Bann zieht, um sie ins psychische Elend oder gar in den physischen Untergang zu stürzen.

Es geht um Sex als höchst effiziente Waffe im Kampf der Geschlechter – zu Lasten des Mannes, der in der Regel als versklavt und unterworfen, besser wohl unterwürfig, als seinen Trieben und grausamer weiblicher Herrschaft wehrlos ausgeliefertes Opfer erscheint. Oder – in helleren Momenten der Selbsterkenntnis? – als von einer selbstbewussten Frau am Gängelband geführtes Borstentier, wie auf Félicien Rops‘ „Die Dame und das Schwein“.

Gern griffen Maler in diesem Kontext auf antike Mythen über unheilbringende Frauenfiguren zurück – die aus Eifersucht mordende Medea, die Sphinx als Mischwesen aus Frau und Raubtier, Männer verschlingend, die Zauberin Kirke, die die Gefährten des Odysseus in Schweine verwandelt – oder auf biblische Männermörderinnen wie Salome, die sich als Präsent für ihre Verführungskünste das Haupt Johannes‘ des Täufers ausbedingt, oder Judith, die den feindlichen Heerführer Holofernes höchst eigenhändig enthauptet. Auch die urdeutsche Loreley fand Eingang in diesen Kanon. Zwar nicht mit den bloß romantischen Gedichten von Clemens Brentano und Heinrich Heine, weil in jenen das Weib auf dem Rheinfelsen „keinen Nutzen aus dem Untergang der Schiffer zu ziehen“ wusste, wie der Kunsthistoriker Markus Bertsch meint, wohl aber durch spätere Gemälde etwa von Wilhelm Kray oder Carl Joseph Begas, auf denen die barbusige Musikantin dem Tod ihrer männlichen Opfer mit augenkundigem Vergnügen beigewohnt habe.

Was waren das noch für Zeiten, als sich eine Ausstellung wie „geschlechterkampf. franz von stuck bis frieda kahlo“ im Frankfurter Städel im Rahmen ihres Themas auch ausführlich dem Sujet Femme Fatale widmen und das Ganze in einen zeitgeschichtlichen Kontext stellen konnte: „Die weibliche Emanzipationsbewegung war der Impulsgeber für die konfliktgeladene Situation zwischen den Geschlechtern in dem in der Ausstellung beleuchteten Zeitraum. Während die Frauen den Kampf um ihre Gleichstellung verfolgten, sahen die Männer darin eine Bedrohung für ihre Privilegien und Rechte. […] Die Frau wird als Gattung zu einem Feindbild oder Gegner gemacht […]. In den Bildern der Ausstellung lässt sich nachvollziehen, inwiefern die Frauendarstellungen immer überzogener werden, je stärker die Emanzipationsbestrebungen, ihr Echo in der Öffentlichkeit und die vermeintliche Gefahr, die von ihnen ausgeht, wahrgenommen werden.“ (Felicity Korn, Kuratorin)

Die Ausstellung im Städel (2015/2016) liegt zwar erst wenige Jahre zurück, doch erscheint eine derartige Präsentation in heutiger, von identitären Imperativen und MeToo-Wellen geprägter Zeit mit ihrer Fokussierung auf – und sei es auch nur potenziell – individueller Betroffenheit als maßgeblichem Bewertungskriterium völlig undenkbar. Derartige Kunst, wenn es sich denn überhaupt noch um solche handelt, gehört mindestens weggesperrt und keinesfalls in die Öffentlichkeit. Anderenfalls riskieren Veranstalter einen Shitstorm, wenn nicht Schlimmeres. Es sei denn, die Präsentation erfolgt – klar erkennbar – zur nachhaltigen Exemplifizierung der vollständigen politischen Unkorrektheit des Sujets als solchem und der verabscheuungswürdigen ethisch-moralischen Verkommenheit seiner Schöpfer im Besonderen.

Letztgenannter Ansatz scheint der im Parallelbau der Hamburger Kunsthalle derzeit laufenden Ausstellung „FEMME FATALE. Blick – Macht – Gender“, kuratiert von Markus Bertsch, zugrunde zu liegen, denn durch die gesamte Exposition verfolgt den Betrachter in der Gestalt der Begleittexte ein dauererigierter museumspädagogisch-didaktischer Zeigefinger, der immer wieder, nachgerade penetrant, darauf hinweist, dass und wie sehr die Frau auf den ausgestellten Gemälden und Zeichnungen, Grafiken, Radierungen sowie Stichen zum bloßen Objekt der Begierde degradiert, als sexuell zügellos, wollüstig denunziert, zur satanischen Plage erklärt werde und dergleichen mehr. Kulminationspunkt – eine völlig eindeutige intime Zeichnung von Rodin, zu der den begriffsstutzigsten oder blinden unter den Betrachtern gleichwohl mitgeteilt wird, dass die Frau damit nun quasi final zum bloßen Geschlechtsteil mutiert sei. Gott sei Dank handelt es sich um ein ausnehmend blasses Blatt. Nicht auszudenken, welchen Schaden des Lesens unkundige Betrachter nehmen könnten, hinge an dieser Stelle stattdessen Courbets „Der Ursprung der Welt“, das in der Ausstellung jedoch (leider) nicht vertreten ist! An anderen Stellen bekommt insbesondere Edvard Munch mit seiner „Sünde“ und anderen Werken sein Fett weg.

Von dieser Warte her wirkt die Hamburger Exposition, mit Verlaub, reichlich bemüht. Andererseits versammelt sie klangvolle Namen, die neben den Erwähnten (Auguste Rodin, Munch) von Max Liebermann, Lovis Corinth und Fernand Khnopff über Franz von Stuck, Aubrey Beardsley oder Gustav Moreau bis Max Klinger und vielen anderen reichen. Das lohnt schon.

Mindestens einen Großen des Sujets allerdings sucht man in dieser Ausstellung vergeblich – Alfred Kubin. Nicht allein sein „Der Todessprung“ wäre eigentlich ein Must.

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Und dann keimt beim Rückmarsch des Besuchers zum Hauptbau der Kunsthalle plötzlich der Verdacht auf, dass das Phänomen des Subversiven den Machern dieses Museums vielleicht doch nicht gänzlich unvertraut ist. Im Tunnel – beim Anmarsch noch nicht recht wahrgenommen – bietet sich dem Besucher eine weitere, sehr viel bescheidenere Ausstellung dar: „‚Paris ist meine Bibliothek‘. Zeichnungen und Druckgraphiken von Félicien Rops“, kuratiert von Andreas Stolzenburg und Juliane Au. Rops, wegen seiner unverkennbaren Affinität zu bestimmten Darstellungsweisen bei gleichzeitigem geistigen Tiefgang von Zeitgenossen mit dem Spitznamen Pornokrates versehen, hätte – außer der erwähnten Dame mit dem Schwein – etliche heftige Exponate zu „FEMME FATALE“ beitragen können. Sein Gemälde „Die Versuchung des heiligen Antonius“ – im Hamburger Tunnel jetzt als kleinformatige Grafik zu sehen – verursachte 1878 im Pariser Salon einen formidablen Skandal. Dame, Antonius und noch zahlreiche vergleichbare Blätter versammelt diese Ausstellung. Und – gänzlich ohne erhobenen Zeigefinger …

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Schon beim Betreten der Kunsthalle war der Blick aus dem Foyer kurz ins erste Obergeschoss geschweift, wo die geöffneten Türen eine Teilansicht des größten Exponates freigaben, über das das Museum verfügt: Hans Markarts gigantischen Historienschinken „Der Einzug Karls V. in Antwerpen“; 1878 fertiggestellt und bereits ein Jahr später von der Kunsthalle erworben. 5,2 mal 9,5 Meter messend – 50 Quadratmeter Öl auf Leinwand. Und der juvenile Kaiser in der Bildmitte eingerahmt von nicht übergrazilen, doch äußerst spärlich gewandeten Schönen. Nix von femmes fatales, doch die Frau schon wieder herabwürdigt zum bloßen erotischen Dekor! Mein lieber Markart, darüber wird noch zu reden sein …

„FEMME FATALE. Blick – Macht – Gender“, Hamburger Kunsthalle, noch bis 10.04.2023; weitere Informationen im Internet.

„‚Paris ist meine Bibliothek‘. Zeichnungen und Druckgraphiken von Félicien Rops“, Hamburger Kunsthalle, noch bis 07.05.2023; weitere Informationen im Internet.

„Making History. Hans Makart und die Salonmalerei des 19. Jahrhunderts“, Hamburger Kunsthalle, noch bis 31.12.2023; weitere Informationen im Internet.