26. Jahrgang | Nummer 5 | 27. Februar 2023

Auschwitz – nicht vergessen, niemals

von Horst Möller

Auf 1800 beziffert Themos Kornaros in seiner Reportage über das KZ-Chaidari die Zahl der aus Rhodos deportierten Juden. Es überlebten 151, einer von ihnen war Sami Modiano. Erst mit 83 Jahren konnte er endlich sagen: „Ich habe die Kraft gefunden, meine Lebensgeschichte zu erzählen.“ Was für ein befreiender, erlösender Satz! Von Fotos blickt Modiano mit seinen inzwischen 92 Jahren als ein heiter, jugendlich wirkender Mann. Lange Zeit wollte er nur vergessen. Vergessen, was doch niemals zu vergessen ist. Und wenn er andeutungsweise wirklich einmal über Erlittenes sprach, dann begegneten ihm Fassungslosigkeit, Unglauben.

Mit vierzehn Jahren war er bei der Deportation der jüdischen Bürger aus seiner Geburtsstadt Rhodos am 23. Juli 1944 über das Athener SS-Schreckenslager Chaidari und Thessaloniki nach Auschwitz-Birkenau verbracht worden. Schlagartig hatten die Kinderjahre geendet, in seiner Erinnerung eine einzigartige Traumzeit trotz des frühen Todes der Mutter. Ebenso schlagartig endete auf Rhodos jüdisches Leben, das sich über Jahrhunderte friedlich entfaltet hatte, nachdem das Osmanische Reich die Insel im Jahr 1452 für erste Familien der während der Reconquista aus Spanien vertriebenen Juden geöffnet hatte. Nach 1912 wurde der Dodekanes italienisches Hoheitsgebiet, was für Sami bedeutete: „Ich war stolz, in die italienische Schule zu gehen und Italienisch zu sprechen. Ich fühlte mich als Italiener.“ Ihm gegenüber hatten allerdings die wenigen jüdischen Mitbürger mit noch türkischem Pass ein entschieden besseres Los, da sie von der Türkei aufgenommen und so vor der Fahrt ins Nichts bewahrt wurden.

Ein Schock die Ankunft in Auschwitz: „Die Selektion. Die machte ein Arzt … Ich weigere mich, seinen Namen zu nennen. Er schickte Tausende unschuldige Menschen in den Tod. An nur einem einzigen Tag. Sie alle hat er auf dem Gewissen. Wie konnte er abends schlafen gehen? Und wie hat er nach dem Krieg schlafen können? Die ganzen langen Jahre, die er noch gelebt hat.“ Haben Täter – gleich welchen Namens – jemals ein Zeugnis abgelegt, sich zu ihrer Schuld bekannt, gar Reue gezeigt? Sami Modiano gedenkt der Opfer. Sie sind es, die er nicht namenlos lassen will: Vater Jakob (45) – Nummer B 7455 –, Schwester Lucia (17) – Nummer ? – Angehörige der großen Familie und die so sehr vielen Leidensgefährten.

Von sich selber sagt er, dem die Nummer B 7456 eingebrannt worden war: „Wieso ich überlebt habe, frage ich mich noch heute.“ Je zwanzig Mann, von SS-Leuten und ihren Schäferhunden bewacht, mussten den Karren zerren, mit dem Holz aus dem Wald zu den Krematorien transportiert wurde. Besonders bei Regen und Kälte ein unaussprechliches Leiden. Vergleichbares schildert Jakovos Kambanellis über das Sterben auf der Steinbruchstiege, der „Todesstiege“ von Mauthausen, die – wie die Gedenkstättenverwaltung unlängst wissen ließ – bis auf weiteres nicht begehbar bleibt, da sie „den heute geltenden modernen Sicherheitsanforderungen und -einrichtungen nicht entspricht“. Die Torturen, mit denen durch Arbeit „frei“, das heißt: tot gemacht wurde, waren unendlich. Mit dem Vers aus Dantes Göttlicher Komödie „Qui si nuota altrimenti che nel Serchio!“ (Ein andres Schwimmen ist’s hier als im Serchio!) umschreibt Primo Levi in seinen „Erinnerungen an Auschwitz“ die infernalische Qual.

Grauenvoll Sami Modianos Berichte, wie oft ihm der Tod vor Augen stand – nicht nur der der Schwester und der des Vaters. Umso bewegender seine Schilderung, wie er in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen wurde. Man erklärte ihm mit strengem, bitterem Ton: „Domani, tu Bar-Mitzwah qui!” (Morgen Du hier Bar-Mitzwah!). In der hinteren Ecke seiner Baracke kamen 15 Männer zusammen, beteten und umarmten ihn. „Alle waren gerührt und befriedigt, weil wir es geschafft hatten und sie etwas Gutes, also ihre Pflicht, getan und mich zum mündigen Juden gemacht hatten. Wir alle konnten jetzt in Frieden sterben. Von diesem Augenblick an, dank dieser fünfzehn einfachen, aber außergewöhnlichen Menschen, konnte ich von jetzt an bei allen religiösen Dingen als mündiger Jude teilnehmen.“

Dass er am 17. Januar 1945 nachts, es lagen mindestens 30 Zentimeter Schnee, den kaum drei Kilometer langen Marsch von Birkenau nach Auschwitz überstanden hat, ohne wie Hunderte andere erschossen worden zu sein, grenzt für ihn zeitlebens an ein Wunder. Auch die folgenden zehn Tage bis zur Befreiung waren höllisch. Danach, im Lazarett, wurde er „von einer außergewöhnlichen russischen Ärztin behandelt … Sie tat mit großer Mühe alles, um mich wieder herzustellen.“ Welcher Lebenswille gehörte dazu, wieder zu Kräften und zu sich selber zu kommen! Und welche Willenskraft war aufzubringen, sich – gerade erst neu geboren – direkt hinter die Front schicken zu lassen, auf deutsches Territorium, um Schützengräben auszuheben, wo die Rote Armee im Begriff war, die Wehrmacht zurückzudrängen! Bei Kriegsende in Opole war für ihn das sehnlichste Ziel heimzukehren. Der gemeinsam mit einem Gefährten unternommene abenteuerliche „Gang“ von Polen nach Rom lässt sich gleichsam als Ausblick auf den weiteren Lebensweg verstehen – viele Jahre in Belgisch-Kongo, Rückkehr nach Rom, gelegentlich auch nach Rhodos, nach langem Zögern Besuch in Auschwitz. Um der Toten zu gedenken. „Es ist, als würden sie mir sagen: Sami, Du hast das Inferno überlebt, um unsere Geschichte zu erzählen!“

Und Sami Modiano geht in die Öffentlichkeit, spricht immer wieder über das Erlittene, in Schulen, im Fernsehen, manchmal mit versagender Stimme, von Trauer übermannt. Was bedeutet für diesen Mann da schon die Ehrung mit dem Bundesverdienstkreuz 2020? Zumal sie nicht einmal dazu führte, dass seine Erinnerungen schon längst auch auf Deutsch hätten gelesen werden können. Wieviel Bitterkeit mag er empfinden, dass die Bundesrepublik dem im Zweiten Weltkrieg ausgeplünderten Griechenland nach wie vor die wiederholt geforderte Wiedergutmachung verweigert? Der Bremer Rechtshistoriker Christoph Ulrich Schminck-Gustavus, seit langem mit der Dokumentation von Wehrmachtsverbrechen in Griechenland befasst und unermüdlich auch als Achtzigjähriger, war – wie einer Fußnote zu entnehmen ist – eher zufällig bei einem Aufenthalt auf Rhodos in der 1575 erbauten Kahal Kadosh Shalom Synagoge auf Sami Modiano und sein anrührendes, erschütterndes Buch getroffen. Seiner Übersetzung für den Metropol-Verlag in dessen mit bemerkenswerter Beharrlichkeit realisierten Reihe zur Geschichte der Konzentrationslager 1933-1945 ist eine gleiche Resonanz zu wünschen wie der Originalausgabe in der Biblioteca Universale Rizzoli, die seit 2013 bereits in 14 Auflagen und auch auf Englisch erschienen ist.

Sami Modiano: Von Rhodos nach Auschwitz. Aus dem Italienischen übersetzt von Christoph Schminck-Gustavus. Metropol Verlag. Berlin 2023, 168 Seiten, 19,00 Euro.