26. Jahrgang | Nummer 4 | 13. Februar 2023

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Iwanow“ – Berliner Ensemble / „Einsame Menschen“ – Berliner Ensemble, Neues Haus

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BE 1: Biedermeier in Gütersloh

Die Ankündigung, da kommt ein Klassiker, hätte man sich sparen können. Doch berühmte Namen sind eben immer gut fürs Geschäft. wie beispielsweise Tschechow.

Den hat die aus Litauen stammende, in Schweden lebende und deutsch so gut wie russisch sprechende US-amerikanische Regisseurin Yana Ross inszeniert: „Iwanow“, freilich „frei nach Anton Tschechow“. Also mit weitgehend eigenem Text.

Darf sie das? Aber ja! Und besser wäre, sie hätte das „frei nach“ einfach weggelassen und das komische sowie ein bisschen traurige Stück selbstbewusst zu ihrem ganz eigenen Ding erklärt, gerne mit Grüßen von A.T. aus weiter Ferne.

Dann hätte die Tschechow-Gemeinde wenig zu maulen, denn der Ross-„Iwanow“ (der nun Nicolas heißt) ist saftiges, amüsantes, also höchst kurzweiliges und noch dazu frech gegenwärtiges, flott, locker und gut gespieltes Theater. Kontrapunktiert mit pässlichen Musik- und Gesangseinlagen geht die Post ab.

Übrigens, Tschechow selbst nannte sein Frühwerk von 1887, da war er Ende zwanzig, mal Komödie, dann wieder Tragödie. Egal, beides gehört ja ohnehin ziemlich zusammen. Ross entschied sich eindeutig für Komödie und lieferte eine, sagen wir, ordentliche Boulevardkomödie – aber Achtung, kein Komödienstadel.

Und Tschechow meinte, mit „Iwanow“ all das zu summieren, „was bisher über die jammernden, melancholischen Menschen geschrieben wurde“. Man könnte sagen, sein „Iwanow“ ist eine Endlosschleife aus Entfremdung und Ermüdung, in der hypochondrische Weicheier eiern.

Diese Essenz hat die sehr erfahrene Regisseurin sehr wohl auch jetzt getroffen; allein schon auf Grund ihrer reichen Erfahrungen. Immerhin inszenierte sie bereits erfolgreich – mehr oder weniger stark überschrieben – diverse Zentralgestirne Tschechows wie „Wanja, „Kirschgarten“, „Möwe“, „Drei Schwestern“.

Ihr „Iwanow“ jetzt spielt im solide spießigen Vereinslokal „Netzroller“ eines Tennisclubs im Provinznest Gütersloh (Bühne: Bettina Meyer). Dort trifft der gepflegte Mittelstand aufeinander und gerät zunehmend aneinander. Eheprobleme, Krankheiten, ein elender Krebstod, eine Studentin aus stur woken Berliner Universitätskreisen, eine polyglotte Influenzerin, ein verlotterter Graf, triumphierende Neureiche und geschäftlich schwer Verschuldete sind die generationenübergreifende Mischung, mal treibend ins Wilde, mal ins Banale. Liebe, Lüge, Verrat, Intrigen, Eifersucht, Weltschmerz und Lebensgier im flotten Wechsel. Also Gütersloher Biedermeier mit frappierendem Identifikationspotenzial.

Das ist doch was! Was will man mehr von einem satirisch hingebretterten Unterhaltungsstück. Zugegeben, das Seelische wird kaum ausgespielt, aber ordentlich angedeutet. Erregend tiefe Psychoanalyse entfällt. Na und?

Schauspielerisch ist alles – wie immer am BE – klasse. Nicolas, die Titelfigur spielt Peter Moltzen schwer verklemmt, larmoyant, mit vom Alter und Sport lädierten Knochen, was ihn nicht davon abhält, der studentischen Verführungskraft – sie ist halb so alt wie er (Amelie Willberg) – lustvoll (?) seufzend zu erliegen, derweil in seiner Ehefrau (Constanze Becker) der nagende Krebs sein tödlich Werk vollendet.

Der finale geniale Regie-Coup: Bei Feuerwerk und brüchig guter Laune greifen sich all die verkorksten Gütersloher Normalos ein Instrument. Erst zögerlich verkrampfte Töne. Zum Schluss wird gerockt, was das Zeug hergibt. Eine Art Befreiung. Wenigstens für den Moment.

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BE 2: Co-Working im Stadtrand-Idyll

Nun nochmal das gleiche Prinzip. Überschreiben. Diesmal das Gerhart-Hauptmann-Stück „Einsame Menschen“ von 1890. Es spießt gutbürgerliches Spießertum auf, demontiert ein brüchiges, verlogenes Familien-Glück am Häuschen-Rand der Reichshauptstadt.

Neu-Schreiberin Felicia Zeller, sich selbst nennt sie „Wirtschaftsdramatikerin“, wurde bekannt für ihre spitz und präzis formulierten, höchst unterhaltsamen Stücke („Der Fiskus“, „Der Geldkomplex“), die das gespannte Verhältnis zwischen Individuum und Arbeitswelt aufregend anschaulich ausleuchten.

Jetzt also alte „Literaturdramatik“ überformt. Da wird aus Hauptmanns altfränkischem Stadtrand-Idyll ein schickes Co-Working- / Co-Gardening-Space für internationales Sharing. Motto: Landleben in eins mit urbanem Anspruch – nur 40 Minuten S-Bahn bis Berlin-Mitte.

Bewohnt wird das Anwesen von Marie (Sina Martens), taffe Architektin mit Baby, zuständig für die zeitgemäß digitale Ertüchtigung des Gehäuses und vernachlässigte Ehefrau von Gerhart (Gerrit Jansen), genervt vom lautstarken Babybetrieb, ignorant, wehleidig, hochmütig und dauerpromovierend in Sachen Angewandte Tiersoziologie. Das Thema seiner Doktorarbeit: „Die Erhaltung von Lebensräumen rudel- und schwarmfähiger Tiere und deren Möglichkeiten zur Eröffnung eines Vorstellungsraumes zur Gestaltung menschlicher Sozialorganisation unter besonderer Berücksichtigung […]“ – in ganzer Länge 13 Zeilen im Textbuch.

Neben den beiden Schwiegermama Erika (Corinna Kirchhoff), Esoterikerin und verbiesterte Heilpraktikerin nach Methode „Rugel“ (ein Gymnastikball ist Erde, ein anderer ist Sonne) sowie Hausfreund Bölsche, Klimaaktivist im grünen Overall mit Gipsbein (Oliver Kraushaar), weil während eines widerständigen Waldcamps aus dem Baumhaus gefallen. Und als gemeinschaftssprengender first guest im Space die digitale Nomadin im sexy Lederröckchen Margarete (Nina Bruns), tätig für Internetportale als Headlinerin; ihr Metier also Kurztexte wie etwa „Schock der Stille“; dies ganz im Gegensatz zum schreibenden Gerhart, dem sie an die Wäsche geht und der es länger liebt.

Wir wissen um die aberwitzige verschwurbelte Headline seiner Diss… Allein das schon ist eine generelle Ansage. Zellers aktivistische Mitarbeiter der Weltrettungsbewegung sind zwar wie bei Hauptmann letztlich einsam und insgeheim bedrückt von verlorenen Lebensträumen. Doch werden sie – weg von Hauptmann – als narzisstische Egomonster einer sich für avantgardistisch haltenden Intellektuellenblase ohne psychologische Feinzeichnung rigoros ins ätzende Licht einer scharfen Zeitgeistsatire gestoßen.

Eine kalte, plakative Bloßstellung, ein sarkastisches Warnstück vorm Wahn, spielerisch inszeniert von Bettina Bruinier. Dabei konzentriert auf Zellers Sprachkunst, die präzise abgelauscht ist dem dünkelhaften Milieu jener Selbstgerechten, die sich als nachhaltig gute Menschen fühlen.

Zellers Extra-Trick: Die gesprochenen Sätze enden abrupt, bleiben sozusagen stummelhaft. Was heißt: wir wissen schon, was da kommt. Das immergrüne Blabla in monologischen Wiederholungsschleifen.

Zugegeben, das Blabla, die Schleifen, die Stummel – es ist ein bisschen Zuviel im tollen Zwei-Stunden-Typenkabarett. Bitte eine halbe Stunde streichen. Das wäre der Tollheit Spitze.

Ob nun frei nach Tschechow oder frei nach Hauptmann, das BE liefert mit Yana Ross und Felicia Zeller ein Doppel unterhaltsames zeitgenössisches Theater eigener Art. Bravo!