26. Jahrgang | Nummer 3 | 30. Januar 2023

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Und jetzt?“ – Volksbühne / „Leonce und Lena“ – Deutsches Theater

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Volksbühne: Der Spaß als Sinn im Sinnlosen

Es war einmal: Das Arbeitertheater des VEB PCK, des Petrolchemischen Kombinats Schwedt. Die ambitionierte Laientruppe bastelt Mitte der 1960er an einem Stück über neuartige Produktions- und Leitungsprozesse – damals die Einführung von Kybernetik, Informatik, automatischer Steuerung. Um die trockene Materie poetisch, anders gesagt menschelnd aufzupeppen, wurde sie mit Anleihen aus Shakespeares‘ „Sommernachtstraum“ verbandelt. Sofort interessierten sich hauptstädtische Profis für das Projekt namens „Horizonte“. Der damalige Volksbühnen-Oberspielleiter Benno Besson (ab 1974 Intendant) unterstützte es derart, dass es zum Gastspiel bei den zentralen Arbeiterfestspielen eine Goldmedaille gab. Daraufhin adaptierte Heiner Müller den Erfolg fürs Repertoire der Volksbühne; leider erfolglos.

Ergibt sich die Frage: Steht da plebejisch-propagandistisches Arbeiter-Volkstheater gegen artifizielle Müllersche Konfliktdarstellung oder was? – Ein spannender Stoff aus der DDR-Theater- und Volksbühnengeschichte. Der gegenwärtige Intendant René Pollesch hat ihn pfiffigerweise hervorgekramt als Folie für sein neues Stück „Und jetzt?“

Und nun? Die Folie muss man sich selber zusammengoogeln. Denn sie verschwindet unter einem geplapperten Assoziationskonfetti nach Stichworten wie „Situationisten“, „Denken“, „Pause“, „Kunst“, „Ideologie“, „Propaganda“, „Selbstregulierung“, „Zukunftslust“. Äußerst bunte Mischung; Hilfestellung für hinterher gibt die Literaturliste kleingedruckt auf dem Programmzettel. Mit Autoren wie Dietrich Dietrichsen, Hans Thies-Lehmann und Helmut Lethen, Stanislaw Lem, Eva Renvert oder Gerhard Winterlich. Reichlich Bibliotheksarbeit.

Eine Quintessenz zu filtern bleibt Hausaufgabe fürs Publikum. Während der umjubelten Vorstellung ließe sich mit gutem Willen eine herausfinden: Das Dasein ist absurd und dementsprechend alle Kunst. Daneben der hübsche Satz: „Etwas Sinnloses zu bereden macht Sinn.“ Oder die Frage: „Was ist das für ein Leben ohne ein Denken des größtmöglichen Widerspruchs, so dass es einen zerreißt?“

Mal ganz abgesehen vom Stichwort Schwedt! Fährt doch das PCK ohne Rosneft-Öl gegenwärtig nur mit höchstens halber Kraft und Kurzarbeit. Auch ein Thema, und zwar ein brennendes. Doch davon leider nichts.

Stattdessen das erstaunliche Paradox: Nämlich 80 Minuten non stop große Schauspielkunst mit Martin Wuttke und Milan Peschel (und nebenbei Franz Beil). Vor allem das sensationelle Komiker-Duo Peschel-Wuttke verkocht Polleschs hauchdünnes Textbüchlein mit seinen hochmögenden, freilich bloß vagen Andeutungen, Flapsigkeiten und Kalauern zum atemlos rasenden Slapstick-Zirkus. Sieht man derart perfekt artistisch zurzeit nirgendwo (in Berlin). Ein Abend nur für zwei tolle Könner ihrer Kunst. Zwei große Clowns voll praller Lebenslust, gespickt mit Volkes Weisheit – dabei nicht ohne fein melancholische Momente des Innehaltens, gar der Verlorenheit. Alles sinnlos? Mit diesen beiden eher nicht! Was jetzt? – Genau das!

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DT: Exzessiver Polit-Wumms mit Büchner

„Wer ist der Staat?“ Die Frage kracht als erstes chorisch aus dem Bühnendunkel wie Donnerhall aufs Publikum. Sie ist der programmatische Einstieg in eine exzessiv ausladende Georg-Büchner-Performance.

Deren Titel „Leonce und Lena“ freilich ist einigermaßen irreführend. Denn Ulrich Rasche, dem Regisseur, der auf hierzulande einzigartige Weise exzessiv machtvolles, an den Grenzen des Erträglichen kratzendes Überwältigungstheater zelebriert (zuletzt am DT schmerzlich suggestiv „4.48 Psychose“ von Sarah Kane), diesem manischen Formalisten mit Vorliebe fürs archaisch Chorische geht es eher nebenbei um Büchners schwer melancholisches Märchen um die Weltverlorenheit und Liebe des Prinzen Leonce aus dem Reiche Popo und der Prinzessin Lena aus dem Reiche Pipi.

Büchner schrieb dieses wehe, hochphilosophisch blödelnde, tiefsinnig menschelnde und weit ins Absurde greifende Spektakel mit gerade 22 Jahren (1836). Da hatte der gleichermaßen geniale (promovierte) Jungakademiker wie Dichter die „Lenz“-Novelle hinter sich (Psychodrama) sowie die Flucht aus seiner Heimat wegen dem vormärz-revolutionär wütenden „Hessischen Landboten“ (Politdrama).

Was Büchner komischerweise „Lustspiel“ nennt, ist im Grunde eine zynisch nihilistische Satire. Sie umspielt wundersam wortspielverrückt die Allmacht allgegenwärtigen Todes sowie die Ohnmacht des Lebens gegenüber seinen Zwängen, dem martialischen „Zurechtstutzen“ des Einzelnen zum „nützlichen Mitglied der Gesellschaft“ – mithin die rücksichtslose Selbstbezogenheit aristokratischer Herrschaft.

Das passt zur eingangs gestellten Frage nach dem Staat. Büchners Antwort: „Alle!“ – Aber mit gravierenden Unterschieden. Denn „das Volk liegt vor den Vornehmen, deren Leben ein langer Sonntag ist, wie Dünger auf dem Acker; sein Schweiß ist das Salz auf dem Tische“ der Oberen.

Doch das sagen nicht Leonce und nicht Lena. Das sind „systemkritische“ Passagen aus besagter hessischer Flugschrift; ähnliches folgt aus „Lenz“, aus „Dantons Tod“.

Alles hammerstarke Texte. Von elf dunklen Gestalten unter einer riesigen, bedrohlich schwebenden, schimmernden, gleißenden Neonlichtskulptur (Ulrich Rasche, Nico Hoppe) in rhythmischer Bewegung auf immerzu rotierender Drehscheibe herausgeschleudert ins Düstere; herausgewürgt, herausgeflüstert. Dazu ein Soundtrak von vier Instrumentalisten an Elektrogeräten: stampfend, schlagend, schneidend, gelegentlich wie von fern rauschend. – Und noch dazu Zitate reichlich aus Büchner-Briefen: „Ich fühle mich wie zernichtet unter dem grässlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt…“

Wir begreifen: Dieser mit gut drei Stunden zuweilen quälend überlange, ins Monumentale, martialisch Monotone emporgewuchtete Büchner-Monolog macht – freilich zwingend kunstvoll – Systemkritik mit Büchner. Also nichts mit „Lust“ und nichts mit „Spiel“. Keine Figuren, keine Dialoge, kein Drama. „Leonce und Lena“ dient hier höchstens für einige wenige, immerhin berückende Kontrastmomente zwischen dem Zarten, dem Poetischen und dem brutal aufrührerischen, ohrzerreißenden Polit-Wumms.

Zum Schluss die Frage: Was von damals gilt noch heute? Man darf, man soll, man muss darüber grübeln!