26. Jahrgang | Nummer 2 | 16. Januar 2023

Theaterberlin 

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „The Writer“ – Berliner Ensemble Kleines Haus / „Bühnenbeschimpfung. Liebe ich es nicht mehr oder Liebe ich es zu sehr?“ – Gorki Theater

***

BE: Saftiger Theaterstreit und Dildos auf dem Sofa 

Im Theater nach der Vorstellung trifft eine Frau aus dem Publikum auf den Regisseur. Und bombardiert ihn mit Kritik: Sein Theater sei eitel abgehoben, gegenwartsfern, sexistisch, unpolitisch, kommerziell und machohaft wie der ganze Alte-weiße-Männer-Scheiß-Regie-und-Theaterbetrieb. Der brauche zwingend eine „neue Form“ – wie die kaputt gehende Welt überhaupt.

Wow! Was für ein Aufschrei, was für eine fundamentalistische Raserei. Und was für ein Tsunami der Vorurteile, der blindwütenden Selbstgerechtigkeit einer jungen und schönen Anarchistin des Feminismus und der Weltverbesserung, die sich im Theater mit seinen altbackenen, dazu noch vom Regietheater zerstückelten Stücken nicht wahrgenommen fühlt. Der routinierte Regisseur weiß natürlich, wie man da zurückschießt. Beide schenken sich nichts, kommen sich aber auch kaum näher.

Müssen sie auch nicht in diesem Schnell-Duell über Kunst und Politik, Pragmatismus und – ja doch – Revolution. Der aufregende Diskurs im Schnelldurchlauf ist die kämpferische Einstimmung auf das Stück „The Writer“ von Ella Hickson. Dafür erfand die englische Dramatikerin dieses extrem ungleiche Paar, gespielt von Theresa Gmachl und Max Gindorff.

Und nun endlich tritt mit forschem Schritt die den Titel stiftende Autorin an. Nein, es ist nicht Ella Hickson, sondern eben die Figur The Writer in ihrem Stück („The Writer“), verkörpert von Pauline Knof. Wieder gibt es ein scharfes Duell. Jetzt zwischen Autorin und Regisseur. Der findet den Text besagter Eingangsszene wie überhaupt ihr neues (von Hickson ihr sozusagen in den Laptop gegebenes) Stück zu plakativ. Der blinde Furor nerve die sehenden Leute. Mehr Drama, mehr Sentiment müsse sein statt gellender Zeitgeist-Agitation und Weltrettungswut. Sie müsse umschreiben, abmildern, gefällig sein. Immerhin winke ein fettes Honorar.

Selbstverständlich wehrt sich die Autorin. Fühlt sich fremdbestimmt, unter Zwang. Argumentiert politisch und künstlerisch. Wettert gegen die Allmacht der Herren Regisseure (und Intendanten gleich mit). – Und so eröffnen sich beim pointierten Schlagabtausch allerhand Einblicke ins Innere des Theater- und Schreibbetriebs.

Vorspiel vorbei, Vorhang auf. Und los geht Ella Hicksons Vexierspiel mit den Schwierigkeiten einer Schreiberin. Akt eins: eine Wohnzelle. Rührende Spießigkeit. Die Autorin zu Hause bei ihrem Freund (Max Gindorff). Zur Feier des Tages fein essen, eine Tüte Knabberglück und Routinesex auf dem Sofa; freilich mehr Kraft- als Lust-Akt. Denkt doch der hochgestimmte Junge, sein Schreib-Mädel kommt heim mit reichlich Kohle, dem angesagt satten Honorar (einige Tausender) fürs neue Stück. – Das soll sie noch umschreiben? Kleinigkeit! Aber die Autorin sperrt sich – spannungsgeladene Auftritte von Pauline Knof. Fuck Knete. Fucking Fremdbestimmung. Es lebe die Autonomie der Kunstschaffenden. Der Freund findet das hochmütig und dämlich. Es kracht. Die Fetzen fliegen zwischen seinem Glücksanspruch im trauten Heim mit Knabberglück aus der Tüte und dem ihren am Laptop mit Gedankenfreiheit.

Zwischenspiel: In einem blütenreichen Arkadien monologisiert sich die Autorin (Pauline Knof) in eine matriarchalisch-lesbisch organisierte Fantasiewelt. Ein intellektueller Traum ins Mythische, in utopische Seligkeiten.

Akt zwei: Die Autorin jetzt als elegant auftretende feministische Lesbe im schicken Loft mit „Girlfriend“ (Theresa Gmachl). Der (die?) verhöhnt seine (ihre) Freundin erst mit sarkastischen Sprüchen über verlogenes Künstlertum, dann wird sie verwöhnt mit Cocktails und Dildos. Doch Lust und gute Gefühle bleiben aus. Es ist offensichtlich, die Autorin hat ihr Stück verraten, umgeschrieben, ordentlich Kohle kassiert. Aber wo nur ist sie hingekommen? Aufs queere Luxus-Sofa? Wenigstens reicht Girlfriend was zum Knabbern aus der Tüte: „Keks!?“ Das war ihr letztes Wort. Und Schluss.

Was sagt uns alles das? Queer ist nicht per se besser als binär. Ansprüche, Ideale sind korrumpierbar. Was das Patriarchat kann, schafft auch das Matriarchat. Das kleine Glück verspielt man genauso schnell wie das große. Und das gilt für jedes System. Wie die Sache mit der Kunst, dem Starkbleiben gegenüber Mächten, dem Schwachwerden gegenüber Geld. Und überall gibt’s Dildos, Kekse, Knabbergebäck.

Und natürlich Diskurs! Der schlägt kraftvoll rein in die verrückten, ernsten, albernen, komischen, kontrapunktisch gesetzten Spielszenen. Der Zeitgeist bissig skizziert im Unterhaltungstheater – das die vielversprechende Jungregisseurin Fritzi Wartenberg (Mitte Zwanzig) trefflich, witzig, wirkungssicher arrangiert.

***

Gorki: Schlangengrube oder Paradies 

Wie ärgerlich! Nein, nicht etwa die brutal-sarkastische, unverschämt zupackende, in geschliffene Monologe gegossene Auflistung so ziemlich sämtlicher, gegenwärtig kritisch diskutierter Probleme der Theatermacherei im ersten Teil der Veranstaltung – Überschrift: „Bühnenbeschimpfung. Liebe ich es nicht mehr oder Liebe ich es zu sehr?“ (Text: Sivan Ben Yishai, aus dem Englischen von Maren Kames).

Ärgerlich vielmehr ist der zweite Teil, der das Publikum betrifft.

Freilich, vor Jahrzehnten schon machte Peter Handke mit seiner geradezu schockierenden, gleichfalls monologischen „Publikumsbeschimpfung“ (in Frankfurt von Peymann inszeniert) den Anfang. Damals ging es um Fundamentalkritik an einem auf passives Konsumieren erpichtes Publikum (Brecht brachte es seinerzeit auf die Kurzformel „Glotzt nicht so romantisch!“).

Jetzt im Gorki, ein Halbjahrhundert später, versucht man nun wie in der guten alten Schule einen Dialog mit dem Publikum. Und arbeitet mit Fragen. Als Ja-Antwort gilt Erheben der sich betroffen Fühlenden von den Plätzen. Also: Wer seid ihr (Schüler, Student, Angestellter et cetera); wieviel verdient ihr monatlich (600, 800, 1000, 5000, mehr als 10.000 Euro); was wollt ihr vom Theater (Politisches, Unterhaltsames, Dramatisches, Komödiantisches et cetera); wie ist eure sexuelle Orientierung; wie sehr oder wie wenig fühlt ihr euch angesprochen vom Theater? – Sozusagen eine Publikumsanalyse. Mit viel Gejohle und Gejuxe zwischendurch. Glaubhaft ist da natürlich überhaupt nichts. Aber man macht bei der Alberei überraschend eifrig mit. Dennoch: Es bleibt primitives Mitmachtheater. – Es sei denn: man begreift die Peinlichkeit als Kritik an der Manipulierbarkeit des Publikums. Ärgerlich obendrein, dass der Zirkus eine gute Dreiviertelstunde lang breitgetreten wird.

Und so sehr schade, dass sie den ganzen Abend letztlich kaputt haut. Denn die erste knappe Stunde der Show ist glanzvolles, geistreiches, auch abgründig komisches, aber immerzu erhellendes Performance-Theater. Die reine Theaterlust, obgleich oder weil es den eigenen Betrieb so aggressiv in die Mangel nimmt.

Mit Eloquenz und Schärfe werden spielerisch hinreißend die Strukturen des Theaters, seine Arbeits- und Produktionsbedingungen, das Ausbeuterische und Selbstausbeuterische, werden die glücklichen oder tragischen Verhältnisse zwischen Intendant, Autor, Schauspieler, Regisseur sowie die Dramen der Konkurrenzen, Egomanien und Selbstverliebtheiten durchexerziert (Regie: Sebastian Nübling).

Aysima Ergün, Lindy Larsson, Virina Popov und Mehmet Yilmaz in hautengen Silberglitzerhosen schleudern mit artistischem Körpereinsatz und perfekter Präzision ihre Monologe von der Rampe. Spektakuläre Virtuosität. Was für ein grell funkelndes, tiefschwarz gerahmtes Bild einer dramatischen Gefühlsmischung des extrem gemischten Personals in der Wahnsinnskiste Schaubude, die eher einer Schlangengrube als dem Paradies gleicht. Hingabe, Hass, Wut, Begehren, Verdammen, Glück und Verzweiflung. Das ganze Programm. Immer volle Kannen – schluckweise oder auf ex. Tolles Theater, wie wir es lieben – mithin auch eine Antwort auf die Gretchenfrage im Titel „nicht mehr“ oder „zu sehr“. Und gerade deshalb umso ärgerlicher der elende Absturz des Abends, sein banales Austrudeln. Statt mit gleicher intellektueller und künstlerischer Kraft die Brücke ins Publikum zu bauen.

Delikates Detail am Rande zum virulenten Thema Intendanten-Allmacht und Transparenz: Drangen doch bereits im Sommer letzten Jahres Beschwerden über Machtmissbrauch der Intendantin des Hauses nach draußen. Mit unredlich politischer Unterstützung wurden sie flugs unter den Teppich gekehrt. Erst jetzt hatte Shermin Langhoff den Mut und eine gewisse Größe, immerhin auf ihrer Bühne (!) die „Causa Gorki“ öffentlich zu machen.