Den Begriff Art Brut hat der französische Avantgardist Jean Dubuffet für eine spontane, unreflektierte, sich aus dem Unbewussten ableitende Ausdrucksform geprägt. Der in dem Spreewald-Dörfchen Brahmow lebende Maler-Philosoph Dieter Zimmermann, der für seine Malerei (selbst-)ironisch die Bezeichnung „Zim-Brut“ erfunden hat, ist aber kein Autodidakt, der für sich selbst arbeitet. Er hat in den 1960er/1970er Jahren an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle/Saale studiert und sich seitdem als Maler-Philosoph einen Namen gemacht.
In seinen wie in Mauern und Wandflächen eingeritzten oder aufgekritzelten Bildwelten zieht er provokative Quer- und Längsschnitte durch das öffentliche und geheime Leben seiner Zeitgenossen. „In Fließrichtung mit den toten Fischen“, „Die Tore der Postmoderne“, „Verwackelter Aufschwung“, „Es tickt“, „Schon wieder Indianer im Spreewald“, „Masse und Macht“, „Die verrinnende Zeit“ – das Umdrehen oder Spiegeln einer Aussage, ihre Vieldeutigkeit oder lediglich das pure Wörtlich-Nehmen, das die intendierte Sinnübertragung verweigert, dient nach alter Eulenspiegel-Regel stets der Wahrheitsfindung, zumindest der Klarheit, sprich Verunklärung.
Dabei bedient er sich des Comic (eines Comic ohne Plot?), der sich selbst als bestimmte Art von Realität, als Sur-Realität, darbietet, des durch Absurdität und Dada-Humor lebenden Strip, der Verbindung räumlich getrennter, aber zeitgleicher Ereignisse, der Skizzierung eines Panoramas, der Bühne, die für seine Figuren zur Kulisse ihres Dramas wird. Wir erleben detailfreudige Inszenierungen und weiträumige Kameraperspektiven. Eine penible Zerlegung der Handlung in die kleinsten Phasen ihres zeitlichen Ablaufs, wie sie von den Vorläufern der Filmkamera entwickelt worden ist. Einzelszenen sind stockartig neben-, über- und ineinander aufgebaut, umgeben als Bilder im Bild eine zentrale Szene, die einen zweiten Rahmen und somit eine weitere Bildebene setzt, oder rotieren in Kreisen und Ellipsen. Mitunter werden die gleichen Momente aus anderer Perspektive gezeigt und erfahren dadurch eine neue Bedeutung, oder der Künstler beschränkt sich nur auf einen Ausschnitt und erst später stellt sich heraus, dass die Szene noch weitergeht.
Während viele Comic-Serien durch ständige Wiederholung und genaue Berechenbarkeit langweilig werden, zielt Dieter Zimmermann mit dem Mittel der elementaren Geste des Machens auf noch unverbrauchte Ausdruckszusammenhänge. Magisch-visionär gebildete Figuren und Gesichte muten in der Tat wie Zeugnisse der Art Brut an. Ihrer elementaren, archetypischen Wiedergabe des Menschen entsprechen eine in den Bildmitteln rohe, unprofessionelle Gestaltung und ein rudimentär-emotionaler Ausdruck. Dabei malt der Künstler seine Bilder mit hoher technischer Perfektion und in einem sicheren Gefühl für Farbzusammenhänge, lässt mitunter eine märchenhafte Welt entstehen, lockend und viel menschlicher als die wirkliche. Farb- und Raumschichten sind so miteinander verwoben, dass das Bild eine Transparenz erhält, die an Hinterglasmalerei erinnert. Und auf Glas mit Spiegelhintergrund hat er schon zu Studienzeiten gemalt, weil es billiger war als die Leinwand.
Bei allem Skurrilen und Spielerischen gibt es eine tiefere Bedeutung. Der Steg zwischen den verschiedenen Bild- und Realitätsebenen ist schwankend. Zimmermanns Wirklichkeitsbegriff weist Brüche auf, bei ihm ist die Skepsis Teil des Gemäuers, die Risse in der Konstruktion sind die eigentlichen Leitlinien. Die narrativen Exkursionen werden meist gestützt durch tektonischen Zusammenhalt, übersichtliche Achsen und gestaffelte Raumschichten. Doch Rissigkeiten, Bruchlinien, Unterhöhlungen der Festigkeit der Materie sind an vielen Sujets abzulesen.
Was sind seine Gemälde und Arbeiten auf Papier, Glas und anderen Materialien? Seine Zyklen wie „Es herrscht große Unordnung unter dem Himmel“ (2009), „Der Grübelzwang“ (2011/12), „Die Quadratur des Spreewaldes. Alles fließt“ (2008–2018), „Zeitfluss – Lausitz“ (2020/22) oder „Himmelsleiter“ (2016–2019), die von den Turbulenzen des Alltags in die Sphäre der Ruhe und Ausgeglichenheit führt? Bildergeschichten, deren erzählerischer Zusammenhang – wenn es ihn überhaupt gibt – nicht so ohne weiteres erschlossen werden kann, Bilderbögen, wie sie im 18. und 19. Jahrhundert als populärer Bild- und Lesestoff weit verbreitet waren, Bilderrätsel, denn Zimmermann regt in Kürzeln und Zeichen unsere Phantasie an, Bildtagebücher, in denen er täglich das von ihm Erlebte und Imaginierte festhält, oder raumfüllende Farb- und Figurenteppiche – auf jeden Fall aber ein sich ständig verändernder und erweiternder Bilderkosmos.
Zimmermann experimentiert mit einer auch vom Kientopp her erprobten Erfahrung, dass mehrere mit Unterbrechungen dargebotene stillstehende Bewegungsphasen vom Auge zum tatsächlichen Ablauf ergänzt werden. Aus der Meditation über die Natur entsteht die Vorstellung von rhythmischen Grundvorstellungen des Raumes, des Werden und Vergehens, des Wachsens, der Statik und Schwerkraft, der Dynamik des Fließens, des Schwebens und Fliegens, und aus diesen Grundstrukturen wird durch die Gestaltung unversehens, aber doch notwendig, wieder Natur, nicht deren Abbild, sondern deren Wesen. Das kann zu einem magischen Erlebnis führen: Einmal durch die Setzung von Zeichen, die entweder von gegenständlichen Bildungen abstrahiert oder frei – aus inneren Erfahrungen – erfunden oder gefunden werden. Zum anderen durch den traumartig schwebenden Charakter, den diese Bildzeichen im Bildraum einnehmen, in dem sie auftauchen, sich verhüllen, sich verändern. Letzteres hängt deutlich mit dem Surrealismus zusammen. Bei Zimmermann ist der Weg vom Abbildhaften zum Zeichenhaften deutlich zu verfolgen, und in der Natur dieser Zeichen bleibt das Abbildhafte erkennbar, verdichtet zum psychisch-assoziativen Element.
Der Künstler hat einen ganzen Vorrat von Formsymbolen im engsten Anschluss an die körperhafte Wirklichkeit, Zeichen für Kopf, Auge, Nase, Mund, Arme, Beine, Zeichen für das Kreatürliche wie Hund und Schlange, für Vogelflug, Wellenschlag, bizarre Pflanzenwelt. Tages- und Nachtzeit, das Kosmische wie Stern, Mond und Sonne zur Verfügung. Mit diesen Elementen, wie traumhaft zu einem präzisen Bildaufbau zusammengefügt, beschwört er seine Wirklichkeit. Die wenigen Elementarfarben, Blau, Grün, Zinnoberrot, Gelb und Schwarz sind sparsam, aber unfehlbar eingesetzt. Viele Zeichen blicken den Betrachter unmittelbar an, oft wie Hilfe suchend, handeln so aus dem Bild heraus, während sie gleichzeitig in einer Handlung im Bild beteiligt sind, die kreatürliches Schicksal spiegelt. Zimmermann taucht manchmal zwar auch als Kürzel mit dem Zauselbart auf, verzichtet aber weitgehend auf Selbstinterpretationen und identifiziert sich so ganz mit den Gestalten seiner Bildwelt, die alle Skalen der Empfindung und Stimmung beherrschen, von satirischer Unerbittlichkeit, melancholischer Traurigkeit, skurriler Verspieltheit bis zu unbeschwerter Heiterkeit. Souverän operiert er mit den modernen Stilarten. Dann wieder gibt es abstrakte Arbeiten mit Spiralnebeln, Fließstrukturen, Wellenformen, manchmal auch nur mit einem Flimmern, wie wir es bei einer Bildstörung im Fernsehen gewöhnt sind.
Zimmermanns erfinderisches Zeichenrepertoire ist erstaunlich. Er lässt Kreativität und Phantasie statt der immer gleichen Wiedererkennungsmuster walten. Er hat Poesie in den Comic gebracht.Der Zyklus „überträgt“ keine Realität, er bietet sich selbst als eine bestimmte Art von Realität dar. Eben darin liegt Zimmermanns Faszination.
Zum 80. Geburtstag des Künstlers findet in Cottbus unter dem Titel „Vom Ausschwärmen der Bilder“ eine Doppelausstellung statt: In der Kunsthalle Lausitz (ehemals Alte Segeltuchfabrik), W.-Külz-Str. 15, Di+Sa 16–19 Uhr, werden Arbeiten auf Leinwand und Hinterglasmalerei und in der Galerie MA/RIE/MIX 23, Marienstr. 23, Do–Sa 19–22 Uhr, Arbeiten auf Papier bis 25. Februar 2023 gezeigt. Begleitet wird das Projekt von „Zimmermanns Bilderbuch“, in dem es – wie in einem Wimmelbilderbuch – immer wieder Neues, witzig, tiefsinnig und erkenntnisreich, zu entdecken gibt. 14,95 Euro.
Schlagwörter: Comic, Cottbus, Dieter Zimmermann, Galerie MA/RIE/MIX 23, Klaus Hammer, Kunsthalle Lausitz, Surrealismus