Einen solchen Absturz der deutschen Leistungsbilanz hat die Statistik schon lange nicht mehr verzeichnet. Diese Bilanz (der Saldo zwischen Exporten und Importen und ein paar weiteren Komponenten) war, nachdem sie in den 1990er Jahren im Gefolge des Importhungers durch den Vereinigungsprozess negativ geworden war, mit Beginn der europäischen Währungsunion aus einem Minus ins Plus gedreht und seitdem gestiegen. Deutschland, größter Gewinner des Euro, wurde zum Exportweltmeister. Diesen Titel musste es zwar inzwischen an China abgeben und auch die USA verbesserten sich zuletzt wieder, aber noch nimmt das weit kleinere Deutschland den dritten Platz beim absoluten Umfang der Exporte ein. Sein Leistungsbilanzüberschuss betrug im vergangenen Jahr 247 Milliarden Euro; davon gingen 212 Milliarden auf das Konto des Warenhandels – immer noch Vizeweltmeister in dieser Kategorie.
Zwar liegen noch keine Zahlen für das Gesamtjahr 2022 vor, aber die Monatswerte werden immer niedriger und rutschen von über 20 Milliarden zu Beginn des Jahres in den einstelligen Bereich. Noch gibt es einen Überschuss (die aktuellsten Zahlen beziehen sich auf den Oktober), er hat sich jedoch mehr als halbiert und das letzte Quartal wird wohl keinen Aufschwung bringen. Verliert Deutschland seinen Platz auf dem Siegerpodest der Export-Champions?
Ein Leistungsbilanzüberschuss kann viele Ursachen haben: Im Ausland besonders gefragte Exportgüter, niedrige Kosten, die Terms of Trade (Preisrelation zwischen Export- und Importgütern), der Außenwert der Währung, eine Politik der Exportförderung oder des Protektionismus oder die Notwendigkeit von Importen (wie Rohstoffe und Energieträger), um überhaupt produzieren und exportieren zu können. Er wird sowohl von Exporten wie von Importen bestimmt. Schaut man sich diese Faktoren über die letzten zwanzig Jahre an, ist eine Entwicklung besonders auffällig: Im Vergleich zu den anderen europäischen Ländern – mit weit über fünfzig Prozent sind EU-Länder Hauptabnehmer deutscher Produkte – haben sich die Lohnstückkosten lange Zeit deutlich langsamer als anderswo entwickelt. Lohnstückkosten signalisieren die Entwicklung des Lohnniveaus im Vergleich zur Arbeitsproduktivität.
Zweifellos hat sich die Produktivität deutlich erhöht, aber offensichtlich wurde sie in geringerem Maße als anderswo an die Lohnempfänger weitergegeben. Ein solcher politisch geschaffener Vorteil würde bei anderen Konkurrenten als Lohndumping bezeichnet. Das Gegenstück zu dieser Entwicklung ist die Tendenz zu einer Nachfrageschwäche im Vergleich zum Angebot im Inland. Sie zeigt sich darin, dass Spar- und Investitionsvolumen weit auseinander klaffen. Deutschland hat zu wenig investiert und zu viel gespart, in Höhe der Differenz wird mehr exportiert als importiert; die Lücke wird also durch eine positive Leistungsbilanz ausgefüllt.
Völlig zu Recht wird dem Land deshalb eine „merkantilistische“ Außenwirtschaftspolitik, eine einseitige Exportförderpolitik auf Teufel komm raus vorgeworfen. Man kann es auch als eine Politik des „beggar thy neighbour“, Politik auf Kosten der Nachbarn, bezeichnen. Ein permanenter Überschuss verletzt darüber hinaus die Forderung nach einem „außenwirtschaftlichen Gleichgewicht“ wie es das nach wie vor gültige „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums in der Wirtschaft“ von 1967 vorschreibt.
Überschüsse hierzulande gehen mit Defiziten und Schulden in den Partnerländern einher. Die katastrophalen Folgen konnten ab 2010 im Euro-Raum besichtigt werden, als verschiedene Länder, allen voran Griechenland, aber auch Italien, Spanien oder Portugal vor dem Abgrund standen. Zu Recht wurde von einer „Zahlungsbilanzkrise“ gesprochen. Sie war zumindest teilweise das Gegenstück dazu, dass es der deutschen Exportwirtschaft blendend ging. In der Folge flüchteten mehr Kapitalanleger aus jenen Ländern Richtung Deutschland. Der Ansturm auf deutsche Anleihen ließ die hierzulande sowieso schon niedrigen Renditen immer weiter sinken und drückte sie sogar ins Negative; man war bereit, etwas dafür zu zahlen, das Geld hier zu parken. Der deutsche Staat und seine Steuerzahler sparten Milliarden an Zinskosten für ihre Schulden ein.
Erleben wir heute das unausweichlich scheinende Rückschlagen des Pendels?
Schaut man sich die Struktur der aktuellen Leistungsbilanz und ihre Komponenten genauer an, kann davon keine Rede sein. Auch die anderen Länder haben Verschlechterungen und keineswegs Verbesserungen ihrer Bilanz zu verzeichnen. Der Absturz der deutschen Leistungsbilanz erklärt sich nicht aus einer irgendwie gesetzmäßigen marktwirtschaftlich verursachten Pendelbewegung, sondern aus bewussten politischen Entscheidungen und ihren Wirkungen auf das Importgeschehen. Diese Politik führte zu einer voraussehbaren Reaktion der Energieexporteure und zu einer rein nominellen Steigerung der deutschen Energieimporte. Während deren Volumen seit 2020 von knapp acht auf gegenwärtig unter sechs Milliarden Euro gesunken ist, hat sich ihr Wert, also die in aktuellen Preisen gemessene Höhe, ungefähr verdreifacht. Die deutschen Exporte erhöhten sich zwar ebenfalls, aber der nominelle Wert der Importe stieg wesentlich rascher; die Leistungsbilanz ging deshalb zurück.
Von dieser Entwicklung profitierte vor allem die Ländergruppe der OPEC-Staaten, an die im Sommer 2022 im Vergleich zu 2020 bei vermindertem Importvolumen (!) ein dreifacher Betrag überwiesen wurde. Die größten Nutznießer dieses Geldsegens infolge der Ölpreiserhöhung sitzen im Nahen Osten. Die deutschen Verbraucher bezahlen mit ihren inflationsbedingten Mehrausgaben die windfall profits der Ölscheichs. Auch Russland profitiert im Rahmen seines Abkommens mit der OPEC (OPEC+) von dieser Entwicklung. Natürlich haben die hiesigen Energiekonzerne diesen Trend ausgenutzt; sie zeigten mit dem Finger auf die Importpreise, haben aber im Schatten der OPEC+-Politik riesige Extragewinne eingefahren.
Auch der Wert der Gasimporte hat sich vervielfacht. Inzwischen ist nicht mehr Russland der Hauptlieferant für Deutschland. An seine Stelle sind Norwegen und in geringerem Maße die Niederlande getreten. Auch sie profitieren von den höheren Preisen. Die Lage wird sich nicht entspannen, wenn Deutschland künftig mehr verflüssigtes Erdgas aus Übersee, allen voran die USA und Katar bezieht. Die Umwandlungs- und Transportkosten sind nicht nur wesentlich höher als bei Pipeline-Gas, die Exportländer werden sich die Engpässe bei ihrer Preisgestaltung natürlich zunutze machen. Obwohl die Preise für die Energieimporte zuletzt teilweise etwas sanken, vollzieht sich das vor dem Hintergrund eines inzwischen sehr hohen Ausgangsniveaus. Einen Rückgang auf das Niveau der Jahre vor der Pandemie und des Ukrainekriegs wird es nicht geben.
Was die vom Kanzler Olaf Scholz ausgerufene „Zeitenwende“ für die deutsche Außenwirtschaft bedeutet, dürfte ziemlich klar sein. Deutschland ist im Vergleich zu ähnlich großen Ländern extrem stark in die internationale Arbeitsteilung eingebunden und hat mehr als andere Länder von den vergleichsweise preiswerten Energieimporten aus Russland und seiner Vorzugsbehandlung profitiert. Seine außenwirtschaftlich bedingten Wohlfahrtsgewinne waren außerordentlich hoch und liegen laut Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zwischen 17 und 22 Prozent des Pro-Kopf-Einkommens. Diese Vorteile gehen bei Stagnation oder Rückbau der globalen Wirtschaftsvernetzung verloren; ihr Umbau verursacht zusätzliche Kosten. Wenn infolge des Wirtschaftskrieges und der weltwirtschaftlichen Konflikte nicht nur die Verbindungen zu Russland gekappt werden, sondern zunehmend auch China in den Fokus machtpolitisch verblendeter Strategen gerät, erhöht sich das Risiko solcher Verluste. Der Sachverständigenrat hat ermittelt, dass China einen Anteil von 45 Prozent am deutschen Gesamtimport jener Produktgruppe hat, die besonders stark von importierten Zulieferungen abhängt. Dieser Wert ist dreimal so hoch wie bei den USA, die an zweiter Stelle stehen und diese Rangliste natürlich gern verändert hätten.
Die Leistungsbilanz ist ein wichtiger Indikator internationaler Wettbewerbsstärke. Auch wenn das Erreichen des Ziels eines außenwirtschaftlichen Gleichgewichts aus makroökonomischer und stabilitätspolitischer Sicht wünschenswert wäre, ist es fragwürdig, wenn es nur mit dem Austausch der Abhängigkeit von Energie-Autokratien oder imperial ausgerichteten Staaten und zulasten des Wohlstands der Mehrheit der Bevölkerung erreicht würde.
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