25. Jahrgang | Nummer 25 | 5. Dezember 2022

Roe versus Wade und die Wahlen in den USA

von Brigitta Wagner

Nach übereinstimmender Ansicht von Beobachtern der jüngsten Zwischenwahlen in den USA wurde deren Ergebnis vom Thema Pro und Contra Schwangerschaftsunterbrechungen beeinflusst. In diesem Zusammenhang wird der Präzedenzfall Roe versus Wade zitiert. Der anonymisierte Name Jane Roe steht für Norma McCorvey, eine junge Frau aus Texas, die in prekären Lebensverhältnissen 1969 ihr drittes Kind erwartete. Sie wollte eine legale Schwangerschaftsunterbrechung vornehmen lassen, was ihr in ihrem Bundesstaat verwehrt wurde. Mit Hilfe von zwei Anwältinnen wollte sie dieses Recht einklagen. Der texanische Bezirksstaatsanwalt Wade entschied jedoch gegen das Recht auf Schwangerschaftsunterbrechung. Letztendlich landete der Fall Roe versus Wade beim Obersten Gericht der USA. Der Supreme Court entschied 1973 zugunsten von Roe, obwohl das Gericht schon damals von einer Mehrheit konservativer Richter dominiert wurde. Jeder Frau wurde fortan das Recht auf eigenständige Entscheidung zugebilligt, ob sie ein Kind austrägt oder nicht. Für Norma McCorvey kam das Urteil allerdings zu spät, ihr drittes Kind wurde zur Adoption freigegeben.

In der Folgezeit hatte dieser Richterspruch Bestand: Anti-Abtreibungsgesetze in 46 weiteren Staaten der USA mussten aufgehoben und an die Rechtsprechung von 1973 angepasst werden. Mit der Regierungsübernahme durch Donald Trump nahm die Diskussion über Für und Wider im Fall Roe versus Wade jedoch erneut Fahrt auf. Unversöhnlich stehen sich zwei Bewegungen gegenüber.

Auf der einen Seite positioniert sich die Bewegung „Pro-Life“, die jegliche Schwangerschaftsabbrüche ablehnt. Auch Schwangerschaften durch Inzest, Vergewaltigungen und mit Risiken für das Leben der Frau sind auszutragen. Schwangerschaftsunterbrechungen, unabhängig vom Zeitpunkt der Schwangerschaft, werden mit Mord gleichgesetzt. Selbst prekäre Lebensumstände der Familien sind kein Grund, eine Schwangerschaft abzubrechen. Ein besonders verbissener Verfechter dieser Meinung war und ist Donald Trump, der in Wahlkampfauftritten von der „Bestrafung der Frauen“ spricht und behauptet, damit die Frauen zu „beschützen“. Seine Anhänger danken ihm in der Öffentlichkeit dafür, dass er sich „für die Rettung weißen Lebens“ einsetzt. Befürworter dieser extrem harten Gangart sind verschiedene kirchliche Bewegungen, vor allem evangelikale Strömungen, sekundiert von ärztlicher Seite, indem behauptet wird, dass Schwangerschaftsunterbrechungen das Brustkrebsrisiko erhöhen.

Dagegen steht die Bewegung „Pro-Choice“ – jede Frau soll eigenständig entscheiden, ob sie eine Schwangerschaft austrägt. Sie wird von der Mehrzahl der Vertreter der Demokratischen Partei unterstützt und beruft sich auf das Urteil im Fall Roe versus Wade, das diesen rechtlichen Sachverhalt umfassend und endgültig entschieden hatte. In den letzten Jahren wurden Schwangerschaftsabbrüche jedoch in immer mehr Bundesstaaten erschwert oder fast unmöglich gemacht. Bisher konnten Schwangerschaftsabbrüche in Kliniken der Organisation „Planned Parenthood Federation of America“ oder der Vereinigung „Naral Pro-Choice America“ vorgenommen werden. Frau konnte sich auch eine entsprechende Pille schicken lassen, die sie ohne ärztliche Begleitung einnahm. Mit der Zuspitzung der Auseinandersetzungen wurden die Möglichkeiten zu einem sicheren Schwangerschaftsabbruch erschwert: durch Kürzungen der Zuschüsse für die Kliniken, durch Schließung funkelnagelneuer Kliniken wegen angeblicher Baumängel (Korridore sind wenige Zentimeter zu eng), wegen des Vorwurfs, Kliniken befänden sich zu nahe an Schulen, durch Einschüchterung und Bedrohung des Klinikpersonals und dergleichen. In einigen Bundesstaaten bietet nur eine einzige Klinik ärztlich gesicherte Schwangerschaftsunterbrechungen an. Der postalische Versand der Abtreibungspille sollte verboten werden.

Geprägt durch sein konservativ-klerikales Familienbild hatte sich Donald Trump bereits in seinen Wahlkampfduellen mit Hillary Clinton 2016 und in seiner Regierungszeit auf die Fahne geschrieben, das Recht auf Schwangerschaftsunterbrechung zu unterbinden. Auch die Heirat von Weißen mit Schwarzen will er mit allen Mitteln erschweren. Langfristig setzte er dabei auf die Berufung neuer, konservativer Richter für das Oberste Gericht der USA. Nach der Berufung durch den Präsidenten und einem bestandenen Anhörungsprozess sind diese Richter auf Lebenszeit tätig. Ihre Amtszeit endet erst mit dem Tod oder einem Antrag des Richters selbst wegen gravierender gesundheitlicher Probleme. Die letzten drei Berufungen durch Donald Trump ließen bereits Schlimmes befürchten, da sich alle drei Richter zuvor frauenfeindlich, rassistisch und homophob geäußert hatten. Erstaunlich in diesem Kontext ist, dass sich laut Meinungsumfragen seit 2015 fortlaufend 60 Prozent der Bevölkerung, Wähler der Demokratischen Partei und der Republikanischen Partei, für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch und körperliche Autonomie aussprachen.

Kraft der veränderten Mehrheitsverhältnisse im Obersten Gericht (nunmehr sechs konservative und drei liberale Richter) wurde das Grundsatzurteil von 1973 am 24. Juni 2022 aufgehoben. Der Richterspruch, bekannt unter dem Namen Dobbs versus Jackson Women’s Health Organization, rief einen Aufschrei der Entrüstung unter der Bevölkerung hervor, der sich in Demonstrationen in mehreren Bundesstaaten Luft machte. Besonders eindeutig positionierten sich einige Mitglieder der Demokratischen Partei, darunter Alexandra Ocasio-Cortez, die diese Proteste anführten, zu Aktionen zivilen Ungehorsams aufriefen und die Frage des Schwangerschaftsabbruchs immer wieder zum Wahlkampfthema machten. Vertreterinnen des linken Flügels der Demokraten betonen, dass die Entscheidung zum Abbruch von den Frauen zumeist nicht leichtfertig, sondern in sozial angespannten Situationen gefällt wird. Andere Demokratinnen, darunter Vizepräsidentin Kamala Harris, vormals Generalstaatsanwältin in Kalifornien, und Nancy Pelosi, bis vor kurzem Sprecherin des Repräsentantenhauses, äußerten sich karg oder vermieden jegliche Stellungnahme. Man kann vermuten, dass Frauen mit dem finanziellen Hintergrund Nancy Pelosis und Kamala Harris’ und deren Wählerklientel unabhängig von der jeweils geltenden Rechtsprechung immer eine entsprechende Klinik finden können.

Nach dem neuen Urteil des Obersten Gerichts gilt die Rechtsauffassung, dass Schwangerschaftsunterbrechungen in der Geschichte der USA nicht „tief verankert“ sind und jeder Bundesstaat das Recht hat, Schwangerschaftsabbrüche zu unterbinden. Innerhalb weniger Tage wurde das neue Recht in mehreren Bundesstaaten umgesetzt, während sich andere Bundesstaaten bereit erklärt haben, Frauen aus Anti-Abortion-Staaten die Möglichkeit zu einer ärztlich betreuten Schwangerschaftsunterbrechung zu gewähren.

Unmittelbar nach dem Anti-Abtreibungsurteil vom Sommer 2022 versprach Präsident Joe Biden, Frauen ärztlich begleitete Schwangerschaftsunterbrechungen zu garantieren. Als eine Möglichkeit brachte er Liegenschaften in Staatsbesitz – Armeekrankenhäuser, Postgebäude, andere nicht genutzte Immobilien – ins Spiel, wo Schwangerschaften unter ärztlicher Aufsicht unterbrochen werden könnten. Das Für und Wider von Schwangerschaftsunterbrechungen wurde von beiden Parteien, Demokraten und Republikanern, zu einem die Zwischenwahlen entscheidenden Thema gemacht. Donald Trump beharrte auf seiner rigorosen Ablehnung, andere Republikaner – darunter Trumps Konkurrenten im Kampf um die Präsidentschaftskandidatur – signalisierten Kompromissbereitschaft, etwa in der Frage, in welcher Frist Schwangerschaftsunterbrechungen bei der Indikation Inzest und Vergewaltigung zulässig sind. Beobachter stimmen darin überein, dass das Ergebnis der Wahlen für Senat und Repräsentantenhaus maßgeblich durch den überdurchschnittlichen Anteil junger Wähler beeinflusst wurde. Präsident Biden wird von seinen Befürwortern sicherlich daran gemessen werden, wie konsequent und schnell er seine Versprechen zugunsten von „Pro-Choice“ umsetzt. In letzter Zeit werden auch recht ungewöhnliche Vorschläge an Biden herangetragen: Er solle erwägen, die Zahl der Mitglieder des Obersten Gericht zu erhöhen, und ausgewiesen liberale Richter berufen. Nicht zu unterschätzen wäre ein Nebeneffekt: Die Chancen auf Erfolge Donald Trumps vor dem Obersten Gericht – in Sachen Veröffentlichung seiner Steuerunterlagen, Beschlagnahme als geheim klassifizierter Dokumente an seinem Wohnsitz Mar-a-Lago oder Ladung vor den Untersuchungsausschuss zur Erstürmung des Capitols am 6. Januar 2021 – würden sinken.