25. Jahrgang | Nummer 25 | 5. Dezember 2022

In und mit Büchern reisen

von Jürgen Hauschke

Ein schön gestaltetes, reich illustriertes Buch mit einem Titel, der sofort Reise- und Abenteuerlust evoziert: „In 80 Büchern um die Welt“. Zu den darin vorgestellten Büchern gehört natürlich Jules Vernes Klassiker „Reise um die Erde in 80 Tagen“. Der wurde – wie der Leser erfährt – zunächst als Serienroman in „Echtzeit“ publiziert. Der letzte Teil erschien am 22.12.1872, also am Ende der Reise von Phileas Fogg. Einige Leser, die den Roman für eine wahre Geschichte hielten, schlossen sogar Wetten auf den Helden ab. Sicher verrate ich nichts Neues: Fogg gewinnt schließlich seine Wette. Der Roman vermittelt die bekannte Einsicht: Reisen erweitert den Horizont, auch wenn man sich vehement dagegen wehrt.

Der reizvolle deutsche Titel des aus dem Englischen übersetzten Sammelbandes ist dennoch ein wenig ungenau. Es sind 78 Bücher, die in chronologischer Ordnung vorgestellt werden und das Reisen in den vielfältigsten Formen thematisieren. Im ersten Teil unter dem Titel „Expeditionen und Reisen“ geht es von Homers „Odyssee“ bis zu Bram Strokers „Dracula“ (1897). Im zweiten Teil „Zeitalter des Reisens“ von Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ (1899) bis zu Alejo Carpentiers „Die verlorenen Spuren“ (1953). Der dritte Teil „Postmoderne. Neue Wege“ führt von Vladimir Nabokow („Lolita“ 1955) bis Barbara Kingsolver („Die Giftholzbibel“ 1998). Der umfangreichste Teil „Reisen in der Gegenwart“ berichtet von César Aira („Eine Episode im Leben des Reisemalers“ 2000) über Wolfgang Herrndorf („Tschick“ 2010) bis zu Amor Towles („Lincoln Highway: Roman“ 2021).

Anders als es der Untertitel erwarten lässt, stammt die Mehrzahl der vorgestellten Bücher aus den USA und aus England, jeweils drei kommen aus Australien, Deutschland, Japan und Russland. 27 weitere Länder sind in der Weltreise vertreten. Die 55 Autoren der überwiegend angenehm zu lesenden informativen Texte leben mehrheitlich in Großbritannien und in den USA. Das erklärt die Konzentration auf angloamerikanische Literatur.

Beim Stöbern in dem stilvollen Buch bleibt der Leser immer wieder an interessanten Details hängen: Der im 19.Jahrhundert geprägte Begriff „Seidenstraße“ bezog sich auf die Reiserouten Marco Polos, von dem auch in „La Serenissima“ zu lesen sein wird. Die „Canterbury-Erzählungen“ (1400) von Geoffrey Chaucer waren das erste mit einer kommerziellen Buchpresse hergestellte englischsprachige Buch. Eine der berühmtesten Zeilen daraus berichtet vom Müller, der „lässt fliegen einen Furz, der einem Donnerschlag gleicht“. Mary Shelleys Figur Frankenstein erschafft seine Kreatur in Ingolstadt. Wir erfahren die Unterschiede zwischen pikaresken Romanen und dem neuen Genre der Robinsonade. John Steinbecks „Früchte des Zorns“ (1939) münden in den Kult um die Route 66. Sein literarischer Held Tom Joad inspirierte über 50 Jahre später Bruce Springsteen zum Album „The Ghost of Tom Joad“, in dessen Titelsong ein Obdachloser sein Lager am Rand eines Highways aufschlägt. Manch andere Trivia sind zu erfahren, so zum Beispiel, dass Paulo Coelho ins Buch der Guinness World Records kam, als er 2003 auf der Frankfurter Buchmesse „die meisten Übersetzungen (53) eines einzelnen Werkes während einer Sitzung“ signierte. Es war sein Roman „Der Alchimist“.

Besonders der Gegenwartsteil regt den Leser zu Entdeckungen an. Zwei davon seien hier hervorgehoben: Das Endzeit-Szenario „Die Straße“ (2006) von Cormac McCarthy – eine postapokalyptische Reise gen Süden durch die verwüsteten USA. Und die „Reisen“ von Immigranten aus Nigeria, die das Versprechen vom Wohlstand nach Westen lockt – „Americanah“ (2013) von Chimamanda Ngozi Adichie. Überhaupt scheint das Reisen, je näher die Gegenwart kommt, seinen Entdeckerreiz oder die romantische Sehnsucht verloren zu haben. An deren Stelle treten oft Flucht und Migration als auslösende Faktoren. Gleichwohl war Migration durchgängig in der Vergangenheit ein wichtiges Reisemotiv, das sich auch in den literarischen Auseinandersetzungen mit der Realität niederschlägt.

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Seit etwa 500 Jahren zieht Venedig Touristen an. Zunächst war es das reiche Angebot an Luxuswaren in den Geschäften, später lockten bekannte Künstler wie die Maler Giovanni Battista Tiepolo oder Bernardo Bellotto (Canaletto), die Musiker wie Antonio Vivaldi und Claudio Monteverdi oder Dichter wie Carlo Goldoni. Venedig wird und ist noch immer Sehnsuchtsort von Reisenden aus aller Welt. Seit Ende des 19. Jahrhunderts besuchen Massen von Touristen die nunmehr bröckelnde Pracht. Gerhart Hauptmann urteilte 1897 scharf: „Da strömen die Leute nach Italien, jeder Barbier und jeder Schlachter tut es: Die ganze zähe träge Masse des deutschen Philistertums wälzt sich über die Berge, jahraus, jahrein, und als dieselbe träge und zähe Masse wieder zurück. Nichts kann der Philister lernen.“ Die romantische Venedig-Verklärung findet sich in ganz Europa, vor allem in England. Später erfasst sie die ganze Welt. Heute droht der Lagunenstadt durch den sogenannten Overtourism der Kollaps – verursacht insbesondere durch täglich mehr als 30.000 Touristen allein von den Kreuzfahrtschiffen. 33 Millionen Touristen sind es insgesamt pro Jahr.

„La Serenissima Repubblica di San Marco“ (Die allerdurchlauchtigste Republik des heiligen Marcus); kurz La Serenissima, so lautet die offizielle Selbstbezeichnung und kündet vom Selbstbewusstsein der Venezianer über die Jahrhunderte. Das zu besprechende Buch über die Geschichte Venedigs zeichnet eindrucksvoll nach, wie aus kleinen Ansiedlungen auf den mehr als 100 Inseln in der Lagune an der Adria eine große Teile des Mittelmeers beherrschende mittelalterliche Großstadt wurde und wie sie nach dem Ende der Napoleonischen Kriege an Bedeutung verlor.

Schon 1337 hatte Venedig mehr als 135.000 Einwohner und war ein bedeutender Warenumschlagplatz. Das älteste und wichtigste Handelsgut war Salz. Venedig nutzte sein Monopol an Salinen im Adriaraum. Der Handel von Westeuropa bis ins Byzantinische Reich lief über Venedig. Venedigs Macht reichte über die Levante bis in den Vorderen Orient. Die Rivalität mit Genua bestimmte viele Jahrhunderte. Ob als Kolonialmacht (Kreta, Zypern, die dalmatinische Küste) oder als Sklavenhändler – die venezianischen Kaufleute scheffelten riesige Gewinne. Davon zeugten die Reichtümer in den Palästen der Stadt. Über Venedig kamen nicht nur Waren wie die Gewürze der „Pfeffersäcke“ nach Europa, es kam auch der schwarze Tod, die Pest. Und mit ihr die Erfindung der Quarantäne für Schiffsbesatzungen und Einreisebeschränkungen im 14. Jahrhundert. Aus dieser Zeit berichten die Reisebeschreibungen des Venezianers Marco Polo. Glasbläserei, Seidenproduktion und Seidenhandel vergrößerten Venedigs Reichtum.

Die Staatsform war über Jahrhunderte bis zur Kapitulation vor der französischen Revolutionsarmee 1797 die einer Republik. Das Oberhaupt, ein Doge, wurde auf Lebenszeit gewählt. Deshalb waren es auch meist ältere Herren, die mit dem Amt betraut wurden, deren Erben konnten haftbar gemacht werden. Andere wichtige Verwaltungsposten waren meist auf eine Dienstzeit von einem Jahr beschränkt.

Im Jahr 1516 beschloss der venezianische Senat, das Wohnrecht der Juden in der Dogenrepublik auf eine der vielen Inseln Venedigs zu konzentrieren. Die allgemein praktizierte Stadtpolitik dieser Zeit sah vor, dass fremde Völker in bestimmten Vierteln zu wohnen hätten. Die gewählte Insel war unter dem Namen Ghetto bekannt. Nachts wurden die Tore der beiden Brücken geschlossen. Diese Maßnahme wurde Vorbild für andere Ghettogründungen in italienischen Städten. Ausgerechnet die Republik Venedig, die nach ihrem Selbstbild und dem Fremdbild vieler für Toleranz und Zivilisiertheit stand, trug mit dem Begriff „Ghetto“ zum internationalen Wortschatz der Vorurteile und der Verfolgung bei.

Reich mit Illustrationen versehen, enthält das Buch eine weiterführende Literaturliste. Mehrfach gebrauchte Begriffe wie „ausdifferenziert“ und „auseinanderdividieren“ hätten als Pleonasmen redigiert werden sollen.

In 80 Büchern um die Welt. Abenteuerliche Reisen von Marco Polo, Anna Seghers, Paulo Coelho, Wolfgang Herrndorf u.v.a. Mit einer Einleitung von John McMurtrie. Aus dem Englischen von Andreas Schiffmann und Alan Tepper. wbg Theiss Darmstadt 2022, 256 Seiten, 29,00 Euro.

Hg. DAMALS – Das Magazin für Geschichte: La Serenissima. Venedig von der Völkerwanderung bis zum Massentourismus. Mit Beiträgen von Rafael D. Arnold et al., wbg Theiss Darmstadt 2022, 128 Seiten, 29,00 Euro.