25. Jahrgang | Nummer 24 | 21. November 2022

Zu Besuch bei Chagall in Nizza

von Klaus Hammer

Als „Maler-Poeten“ hat ihn der Kunsthistoriker Werner Haftmann bezeichnet. 1887 im jüdischen Viertel von Witebsk, einer mittelgroßen Stadt in Weißrussland geboren, war hier das Leben auf die elementaren Erfahrungen von Geburt, Hochzeit und Tod beschränkt, auf religiöse Feste, auf Bauern und Tiere in den Höfen. Wer diesen Grenzen entfliehen wollte, dem bot sich die bittersüße tragikomische Welt der jiddischen Volkskunst an. Zunächst – noch in Russland – malte Marc Chagall Bilder in einem seltsamen, einfach-folkloristischen Stil. Doch dann – seit 1910 in Paris – ließ er sich von den neuen Ideen der westlichen Avantgarde anregen. Da gab es die Vorstellung von der Simultaneität, der Gleichzeitigkeit, die verschiedene Gegenstände und Ereignisse – aber auch unterschiedliche Perspektiven – auf einem einzigen Bild zusammenbringt, wie das innere Auge eine Vielzahl verschiedener Erfahrungen gleichzeitig aufnehmen kann. Chagall hatte die überwältigende Flut von Kindheitserinnerungen aus seiner Heimat in den Westen mitgebracht, die uns noch heute entzücken. Er erzählte zugleich die Geschichte der chassidischen Juden, denen es um eine Verlebendigung des religiösen Lebens ging, und verwob jüdische Sprichwörter und Redewendungen in das Bildgefüge, ironisierte religiöse Rituale oder fügte hebräische Buchstaben spielerisch ein. Die Selbstverständlichkeit, mit der Chagall den Traum, das Märchen, die Phantasie als Bildgegenstand zuließ, hat in der modernen Malerei neue Türen geöffnet. Das Dahinterliegende ist dabei nicht immer so harmlos, wie es mitunter scheinen möchte. Es ist Sediment eines jüdischen Lebens auf der Wanderschaft zwischen den Kulturen, den Ländern, den politischen Debatten.

Chagall hinterließ ein fast unübersehbares Werk, das neben den Ölbildern, den Arbeiten auf Papier, den Radier- und Lithographiefolgen, den Bühnen- und Kostümentwürfen für das Theater, den Wand- und Deckenbildern, den Glasfenstern und Teppichen, den Skulpturen und Keramiken auch Dichtungen enthält. Die Bibel, die jüdische Bibel, das Alte Testament hatte nach dem Bekenntnis Chagalls in seinem Bewusstsein immer eine zentrale Bedeutung. Glaubensdokument und Weltliteratur zugleich, hat er sie als „die reichste poetische Quelle aller Zeiten“ bezeichnet.

Das von einem mediterranen Garten umgebene Musée National Marc Chagall in Nizza ist mit mehr als 400 Werken die größte öffentliche Sammlung des Künstlers. Es wurde noch mit Chagalls Unterstützung erbaut und 1973 eröffnet. Schwerpunkt bilden 17 großformatige Gemälde zu Themen des Alten Testaments, die Bücher Genesis, Exodus und das Hohelied. Dazu kommen Radierungen, Lithographien, Gouachen und Pastelle, die Chagall als Vorstufen des zwischen 1954 und 1967 entstandenen einzigartigen Bilderzyklus zur Geschichte des Volkes Israel geschaffen hat. Auch wenn dieser keinen aktuellen politischen Bezug nimmt, so nehmen wir doch die bestürzende Gleichzeitigkeit der Entstehung dieses Bildzyklus zur Geschichte des Volkes Israel und der Schoah, mit dem Holocaust, mit den Pogromen, mit den Gräueltaten an Juden und der Vernichtung des jüdischen Volkes im Namen des deutschen NS-Staates wahr.

Mit der „Erschaffung des Menschen“ beginnt der Zyklus. Der Maler setzt hintereinander ein kräftiges Rot, ein extrem leuchtendes Gelb und intensive Blau- und Grüntöne ein, die den Bibelszenen Leben und Sinn eingeben. Wie losgelöst von der Erdanziehungskraft gleiten die märchenhaft irreal schwebenden Figuren durch den Raum. In blauer Transzendenzsphäre wird der Körper Adams vom Jahwe-Engel aus der Ewigkeit in die Zeit der Schöpfung überführt. Der Engel bläst mit dem Schofarhorn das neue Leben ein. Eine kreisende Sonne am Himmel reißt in ihrem Lauf das jüdische Volk und die Episoden der Bibelgeschichte mit sich fort. Mose bekommt im Himmel zur Schöpfung bereits die Gebote Jahwes angeboten und weist schon auf das Schlussbild hin, das als Grundfarbe in dem Goldgelb himmlischer Ausstrahlung gehalten ist.

„Jakobs Traum von der Himmelsleiter“, im Querformat gemalt: Der Jahwe-Engel in der blauen Transzendenzsphäre nimmt den größten Teil des Bildformats ein. Noch ist Jakob auch im Traum vom Jahwe-Engel abgewandt, doch der schofarblasende Engel auf der linken Seite kündigt für Jakob schon das Neue an: dass er sich in alle Himmelsrichtungen ausbreiten werde. Den Segen, der von Jakob ausgehen soll, hat Chagall in der Farbe Violett wie einen geöffneten Vorhang einbezogen. Die drei großen Engel auf der Leiter, den Auf- und Abstieg zwischen Erde und Himmel andeutend, sind in den Farben Gelb, Grün und Blau gehalten, während Jakob ganz in Rot eingebunden ist.

„Noah und der Bundesbogen“: Ein großer Engel spannt den Regenbogen des Bundes, den Gott nach der Sintflut in die Wolken stellte, als Zeichen des Friedens zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und Menschen. Links und rechts des Bogens sind Himmel und Erde der Menschen gemalt. Ganz rechts ist die Erschaffung des Menschen angedeutet, Adam und Eva als Liebespaar. Das Tier erscheint als Hinweis auf die Schöpfung allen Lebens im Paradies. Doch hinter dieser Szene greift Eva schon nach dem Apfel, droht die Versuchung. Oberhalb des Bogens geheimnisvolle, schreckenerregende Zeichen – Hinweis auf die Erfahrung der Zeiten der Zerstörung –, aber auch Zeichen der Hoffnung: die glückverheißende Jakobsleiter, die zwei Gesetzestafeln des Moses, die Frau mit nackter Brust und ausgebreiteten Armen. Das ganze Bild in den Sekundärfarben Grün, Violett und Orange, davon heben sich das Gelb/Gold-Rot des Engels und das Weiß des Bundesbogens umso überzeugender ab.

Wie in einem Traum – dem Traum von einer neuen Menschheit – deutet Chagall Gestalten und Geschehnisse an, die seinen Bildern eine besondere Hintergründigkeit verleihen. Seine religiös-innenpsychische Schau lässt tiefere Schichten unseres Menschseins anklingen. Der Künstlerpoet erinnert gleichzeitig an Episoden seiner eigenen Biographie: seine Kindheit im jüdischen Schtetl von Witebsk, die Schrecken des Holocausts und seine Einsamkeit im amerikanischen Exil.

In flammenden Rot-Tönen sind die fünf Gemälde des Hoheliedes Salomos, auch „Lied der Lieder“ genannt, einer einmaligen Sammlung von Liebesliedern aus dem alten Israel, gehalten. „Das Hohelied III“ enthält Chagalls Lebenswelt: Drei angeschnittene Kreisformen – den Brüsten und dem Bauch einer Frau gleichend – werden von einem Hochzeitspaar durchschritten, über dem Engel einen Baldachin ausbreiten. Ein Engel trägt ein Licht voran, ein anderer spielt den Schofar, eine Menschenmenge feiert die Zeremonie. Die Taube, Symbol des Friedens, fliegt oberhalb des musizierenden Engels. Wie in einem Spiegeleffekt sind zwei einander entsprechende Städte zu erkennen, Vence, Chagalls Domizil im hohen Alter, und umgekehrt die Heimatstadt Witebsk. Im Himmel über Witebsk ist ein Jude mit Rucksack zu erkennen, ein Verweis auf Chagall selber. Das ausgestreckte Hochzeitspaar unten ist wohl eine Hommage an seine verstorbene erste Frau Bella, während er mit „Vava“ in Vence ein neues Glück gefunden hat.

„Das Hohelied IV“: Auf dem Rücken eines geflügelten Pferdes lässt Chagall die Liebenden als Brautpaar über die Stadt Jerusalem schweben. Auf dem Hügel tanzt die Hochzeitsgesellschaft. Das Paar wird entrückt, sich und seiner Liebe hingegeben, strahlend auf einem glühenden Himmel, der die ganze Stadt in das Feuerrot der Leidenschaft getaucht hat.

„Ich las die Bibel nicht, ich träumte sie“, bekannte Chagall und verband in seiner poetischen Bildsprache das Juden- mit dem Christentum, die biblischen Erzählungen mit autobiographischen Erlebnissen. Nie hat er nur das Grauen gemalt, nicht ohne dem auch Hoffnung und Vertrauen, Frieden und Versöhnung entgegenzusetzen. Seine Gemälde, die seelische Tiefenschichten ansprechen und eben auch eine „andere Wirklichkeit“ zum Ausdruck bringen, sind zugleich Parabeln auf das Zeitgeschehen des 20. Jahrhunderts geworden.