Auf der Webseite des indischen Außenministeriums wird sie nach wie vor gefeiert: die Idee der Nichtpaktgebundenheit, an deren Begründung Mitte des vorigen Jahrhunderts Indien nicht unwesentlich beteiligt war: Von Bandung (1955) über Belgrad (1961) bis Havanna (2012) habe diese Idee nichts an Aktualität eingebüßt, ist da zu lesen. Und weiter unten: Die Bewegung der Nichtpaktgebundenen (NAM), konfrontiert mit bislang nicht realisierten Zielen sowie neuen Herausforderungen, sei aufgerufen, auch weiterhin eine bedeutende und führende Rolle in den aktuellen internationalen Beziehungen zur Verteidigung der Interessen und Prioritäten seiner Mitglieder sowie zur Gewährleistung von Frieden und Sicherheit für die Menschheit zu spielen.
Allerdings ist der entsprechende Eintrag mehr als zehn Jahre alt. Und ein bisschen liest er sich auch wie ein Echo aus längst vergangener Zeit.
Indiens Außenminister Subrahmanyam Jaishankar scheint dies ähnlich zu sehen: Nichtpaktgebunden zu sein, hatte seine Zeit und seinen Kontext, erklärte er unlängst. Zwei Aspekte seien hier zu nennen: Zum einen „unsere Unabhängigkeit, als die Konstante unseres Seins; zum anderen unsere Schwäche in den 1950ern und 1960ern“. Heute sehe dies anders aus: „Von uns erwartet man Lösungen. Wir sind nicht länger bloße Zuschauer.“ Außerdem könne Indien nur wachsen, wenn es Einfluss auf die internationale Situation nehme. „Und das geht freilich nicht, wenn du dich aus allem raushältst. Die Ära der großer Vorsicht […] liegt hinter uns. Wir müssen bereit sein, mehr Risiko einzugehen […]“
Noch deutlicher: P. S. Raghavan, Ex-Diplomat und langjähriger Nationaler Sicherheitsberater: Einige Jahre schon vermeide es Delhi, Nichtpaktgebundensein als einen Eckpfeiler der indischen Außenpolitik zu benennen. Versuche, eine neue außenpolitische Erkennungsmelodie zu finden, seien bisher alle gescheitert. Weder das vollmundige Gerede von „Strategischer Autonomie“, noch der abstrakte Ruf nach „Thematischen Partnerschaften und Koalitionen“ taugten letztlich als strategische Wegzeichen für Indiens Orientierung in einer zunehmend komplexeren Welt.
Neuen Nektar sogen Indiens Geostrategen aus der 2020 von Außenminister Jaishankar veröffentlichten Streitschrift „Indiens Weg: Strategien für eine ungewisse Welt“. Jaishankars zentrale Botschaft: Angesichts einer im Umbruch befindlichen globalen Machtbalance und gravierender Herausforderungen wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Natur, müsse Indien seine nationalen Interessen präzisieren, indem es Möglichkeiten, die sich aus globalen Widersprüchen ergeben, identifiziert und nutzt, maximal Vorteil aus so vielen Beziehungen wie möglich zieht. In einer Welt, in der es wahrscheinlich „Annäherung an Viele, jedoch Deckungsgleichheit mit Niemanden“ geben werde, müsse Indiens Diplomatie behände und flexibel , seine „Gesamtstrategie“ notgedrungen mehrfach ausgerichtet (multi-aligned) sein.
Die vielbeschworene neue globale Bipolarität sei laut Jaishankar alles andere als absolut. Ja, es gebe sie wieder, aber „wir bewegen uns in Richtung einer multipolaren Welt. Ganz offensichtlich sind die USA und China einflussreicher als andere. Aber ich würde dennoch behaupten, das auch die alte bipolare Welt über multipolare Eigenschaften verfügte; diesmal ist es nur umgedreht.“
Bestseller-Autor und Ex-Regierungsberater Sanjaya Baru stimmt dem Außenminister zu: „Die Welt mag sich durchaus in Richtung einer neuen Bipolarität bewegen, die USA das anführen, was gemeinhin als ,Anglosphäre‘ und China das, was als ‚Sinosphäre‘ bezeichnet wird. Augenblicklich jedoch sind die globalen Machtkonstellationen im Fluss. Selbst wenn es Washington und Peking gelingen sollte, einige Länder hinter sich zu versammeln, wird es viele andere geben, die willens und fähig sind, strategischen Raum für sich zu behaupten. Zu diesen sogenannten Mittelmächten zählen neben Brasilien, Frankreich, Deutschland, Indien, Japan, Russland und Vietnam auch Länder wie der Iran, die Türkei, Nigeria und Ägypten. Diese Gruppe sei weder statisch noch immer einer Meinung. Ganz im Gegenteil, denke man nur an solche zentralen Fragen wie die Weiterverbreitung von Kernwaffen, Handel oder Klimawandel. Als Gruppe jedoch würden sie einen Rückfall in „bipolare“ Zeiten wie die des „alten“ Kalten Krieges zu verhindern wissen. Sei der „alte“ Kalte Krieg von „Nichtpaktgebundenheit“ bestimmt gewesen, werde der „neue“ Kalte Krieg durch „Multiples Alignment“ geprägt, die im Entstehen begriffene Weltordnung (nach Samuel Huntington) eher „bi-multipolar“, denn bipolar sein.
Für Indiens Geostrategie bedeute dies, laut Raghavan, zweierlei: Einerseits, die Wahrung seiner wirtschaftlichen und Sicherheitsinteressen im Indo-Pazifischen Raum durch enge Kooperation mit der ASEAN, Südkorea, Japan, sowie Australien und den USA. Andererseits, die Anerkennung der strategischen Bedeutung der nördlichen, eurasischen Landmasse: Im Sinne einer besseren Vernetzung und Zusammenarbeit mit Afghanistan und Zentralasien brauche es, laut Meinung des ehemaligen indischen Botschafters in Moskau, verstärktes Engagement mit Russland und dem Iran bzw. eine aktive Auseinandersetzung mit der durch die russisch-chinesischen Beziehungen erzeugte regionale Dynamik. Durch breiter aufgestellte russisch-indische Beziehungen (jenseits von Waffen und Energie) müsse Moskaus deutlich zu spürender Unwille, als bloßer Juniorpartner Pekings zu enden, genährt werden.
In Russland stoßen derartige Einschätzungen natürlich auf offene Ohren. Etwa bei Andrew Korybko, US-stämmiger freier Autor und Absolvent des Moskauer Staatlichen Instituts für Internationale Beziehungen, dessen Analysen regelmäßig in führenden russischen außenpolitischen Zeitschriften erscheinen: Russland und Indien könnten diesbezüglich eine unikale Rolle spielen, da ihre langjährige umfassende Partnerschaft sowie ihr gemeinsames Ziel maximaler strategischer Autonomie unter den Bedingungen des globalen systemischen Übergangs von Bi-Mulitipolarität zu wirklicher Multipolarität beiden ermöglicht, eine „neue Nichtpaktgebundenenbewegung (‚Neo-NAM‘)“ zu initiieren und damit einen „dritten Einflusspol“ zu schaffen, der maßgeblich dazu beitragen könne, in den Internationalen Beziehungen den Übergang von „Bi-Multipolarität“ (à la Baru) hin zu „Tripolarität“ und weiter zu „komplexer Multipolarität“ zu organisieren. Genauso wie Indien versuche, in Eurasien einen „dritten Einflusspol“ zu etablieren, sollte es dies, laut Korybko, auch im Indo-Pazifik vor allem mit Blick auf die ASEAN tun. Der Versuch, gleichzeitig in den zwei dynamischsten Regionen der östlichen Hemisphäre Tripolarität zu befördern, könne als „duale Tripolarität“ bezeichnet werden. Sie sollte den Kern der indischen „Gesamtstrategie“ im „Zeitalter der Komplexität“ bilden.
Korybkos Idee einer „Neo-NAM“ als Vehikel zur Schaffung eines „dritten Einflusspols“ dürfte nicht von ungefähr kommen. Zum einen bemüht sich Russland seit geraumer Zeit um mehr Einfluss auf die Bewegung der Nichtpaktgebundenen: Im Juli vergangen Jahres bekam es in Baku den Status eines Beobachters und im November in Belgrad aus Anlass des 60 Jahrestages ihrer Gründung die Möglichkeit, sich erstmals zu präsentieren.
Zum anderen zeigt kein Geringerer als Indien Premier Narendra Modi seit einiger Zeit verstärktes Interesse an den mehr als 120 nichtpaktgebundenen Staaten: Während er sich 2016 in Venezuela und 2019 in Aserbaidschan von seinem Vize vertreten ließ, nahm er im Mai 2020 erstmals an einem (virtuellen) Gipfel der Bewegung unter Vorsitz des aserbaidschanischen Präsidenten Alijew teil.
Nach Meinung des indischen Analysten Ashutosh Nagda geschah dies freilich ausschließlich mit dem Ziel, das Image des Ministerpräsidenten ihm nahen und fernen Ausland aufzupolieren. Zunächst habe Modi die 1985 gegründete und seit Jahren vor sich hinschlummernde Südasiatische Assoziation für Regionale Zusammenarbeit (SAARC) wiederbelebt, um über sie wirkungsvoll zehn Millionen USD für einen Covid-19-Notfonds zuzusagen. Adressat dieser Maßnahme seien in erster Linie Indiens Nachbarn gewesen, die einiges an Delhis jüngster Nationalitätenpolitik auszusetzen hatten. Der NAM-Gipfel wiederum sei für Modi die ideale internationale Bühne gewesen, um sich bei der Beschreibung der im Entstehen begriffenen neuen post-pandemischen Weltordnung ins rechte Licht zu setzen.
Was Modi diesbezüglich ausführte, fügte sich allerdings nahtlos in den laufenden indischen Sicherheitsdiskurs ein und sollte daher nicht als reine PR abgetan werden: Die bestehende internationale Ordnung sei alles andere als perfekt, nötig sei daher eine „neue Globalisierungstheorie“, basierend auf Gerechtigkeit, Gleichheit und Menschlichkeit. Internationale Institutionen sollten nicht nur wirtschaftliches Wachstum, sondern auch gesellschaftliche Wohlfahrt fördern. Mit Initiativen wie dem Weltyogatag, die 121 Mitgliedsstaaten zählende Internationale Solar-Allianz oder die 23 Regierungen und 7 internationale Organisationen umfassende Koalition für katastrophenbelastbare Infrastruktur (allesamt von Modi initiiert) leiste Indien dafür wesentliche Beiträge. In einem Punkt freilich ist Nagda zuzustimmen: Mit der Wiederbelebung von SAARC und der Rückbesinnung auf die Nichtpaktgebunden hat Modi jene von Jaishankar geforderte geopolitische Behändigkeit, die Fähigkeit, schnell auf sich verändernden globale Kräftekonstellationen zu reagieren, meisterhaft unter Beweis gestellt.
„Non-Alignment“ und „Multi-Alignment“ scheinen nur auf den ersten Blick einander ausschließende Begriffe zu sein. Tatsächlich bilden sie ein geostrategisches Kontinium. Wenn Indiens Sicherheitsdebatte der letzten Zeit etwas deutlich gemacht hat, dann dieses.
Und diese Einsicht greift um sich. Etwa auf dem 6. Forum für Interaktion und vertrauensbildende Maßnahmen in Asien (CICA), das (vom Westen weitestgehend ignoriert) vor wenigen Tagen im kasachischen Astana stattfand: 29 Mitgliedstaaten, darunter Aserbaidschan, Belarus, China, Indien, Irak, Iran, Kasachstan, Katar,, Kirgistan, Pakistan, Russland die Türkei, Usbekistan und Vietnam sowie 5 internationale Organisationen tauschten sich dort u. a. über neue globale Vernetzungsstrategien, alternative Finanzierungsmodelle, sowie Ernährungssicherheit aus.
Übrigens, Indien zählte Anfang der 1990er zu den CICA-Gründungsmitgliedern …
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