25. Jahrgang | Nummer 23 | 7. November 2022

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Der Theatermacher“ – Berliner Ensemble / Gedenken – Benno Besson zum 100. Geburtstag.

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BE: verzweifelte Hassliebe-Erklärung an das Theater

Staatsschauspieler Bruscon auf großer „Welttournee“. Mit seiner Komödie „Das Rad der Geschichte“ („Unter uns, ich bin ein Klassiker“) und mit Gattin, Tochter, Sohn macht er Station im kleinen Utzbach. Sein „Klassiker“ enthält „alle bislang vorhandenen Komödien der Welt“. Und ist gespickt mit Auftritten fast aller Größen von Cäsar, Napoleon, Goethe bis Hitler.

Jetzt also im Kaff Utzbach. Im elend versifften Gasthof die Vorbereitungen für den familiären Großauftritt. Bruscon, ältlich und kränklich, tobt wie immer: Gegen die Dummheit der Provinz („Kunstfalle“), den Dilettantismus überall, die Schauspieler allgemein („sprechen, dass es einer Sau graust“), die Frauen auf der Bühne („Schwerfälligkeitsmenschen“, „Theaterhemmschuhe“).

Ein sich für genial haltender Schmierant im Clinch mit der Macht der Schmiere sowie der Rücksichtslosigkeit einer Welt voller „Niederträchtigkeits-Fanatiker“. Ein gekränkter Irrer, der als „Gottesgeschenk“ auftritt und sich immer wieder aus Verachtung und Hass schwitzend rettet in breitbeinige Selbstermächtigung, in tyrannischen Größenwahn.

Stefanie Reinsperger packt mit schier unglaublicher Kraft diesen widerlichen Bluthochdruck-Macker aus Thomas Bernhards galliger Tragikomödie „Der Theatermacher“ (Uraufführung Salzburger Festspiele 1985 durch Claus Peymann). Dessen monologischer Text besteht vornehmlich aus krachenden Wortgewittern, durchsetzt mit Blitzen ätzenden Witzes – und gelegentlich untröstlichem Gewinsel.

Regisseur Oliver Reese inszenierte die abgrundtief verzweifelte Hassliebe-Erklärung an das Theater gekonnt quasi als Zweistunden-Solo für die Reinsperger und ihre Kunst, das unentwegt Steigende und Stürzende im Rasen und Geifern ihrer psychopathischen Figur wahrlich atemberaubend zu spielen. Diese Besetzung ist kein Gender-Gag. Sie hat vielmehr zu tun mit der überbordenden Spiel-Lust, ja Spiel-Gier dieser singulären Begabung. Mit ihrem gewaltigen stimmlichen und physischen Repertoire, mit dem sie eine jegliche Kreatur erschafft. Jeder Intendant, jeder Regisseur muss einfach solch ein Juwel im Ensemble glänzen lassen.

Freilich, dass diesem so brutal herrischen Herrchen, diesem rasenden Widerling bei aller grotesk greinenden Selbstverklärung und zynischen Weltverfluchung im Dreckstall zu Utzbach (Bühne: Hansjörg Hartung) auch melancholische Momente schmerzlicher Verlorenheit kommen („wir sind todkrank und tun so, als lebten wir ewig“), das drückt der von Reese befeuerte expressive Hochdruckbetrieb der Reinsperger eher beiseite.

Dafür umso deutlicher das grundsätzliche Unglücklichsein im Bruscon-Kosmos der sadistisch gedemütigten Familie, diesen typisch Bernhardschen Schweigefiguren. Obwohl bloß als Stichwortgeber in Kurzszenen angetreten, zeigen Frau Bruscon (Christine Schönfeld) und die Kinder Sarah und Ferruccio (Dana Herfurth, Adrian Grünwald) verschämt ihre Wunden. Das ist so erschütternd wie die zaghaften Versuche verdrucksten Widerstands gegen die rhetorische, auch handgreifliche Übergriffigkeit des kindisch dämonischen Vaters.

Die eine Pointe dieses Familientheaters voll Ekel, Not und Vergeblichkeit ist das mit staunenden, zuweilen gar mitleidigen Blicken hilflose Beiseitestehen des Utzbacher Kneipenwirts Wolfgang Michael. – Die andere: Zum Schluss kurz vorm Vorhangfall, alles liegt darnieder nach einem die Bühne überflutenden Gewitterguss, rappelt Bruscon sich auf und will schon wieder aufs Neue … – Da geht das Licht aus.

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Benno Besson zum 100. Geburtstag: „Spielen! Spielen! Spielen!“

Brecht, der gerade zurück war aus amerikanischer Emigration, hat er 1947 am Zürcher Schauspielhaus kennengelernt; als Student, der ein paar „Kleinigkeiten“ von ihm „ganz lustig“ inszenierte. „Da hat er mich eingeladen nach Berlin“, so Benno Besson in seinen Erinnerungen. Doch erst zwei Jahre später kam er zum Brecht-Ensemble, das damals noch im Deutschen Theater zu Gast war vor seinem Einzug ins Theater am Schiffbauerdamm, dem Berliner Ensemble. – „Und der Brecht, der hat mich dann einfach machen lassen.“

Und der Besson, der hatte dann schnell seinen Spitznamen weg. Er war, im Gegensatz zu Brecht, dem „Großen B.B.“, eben der fixe „Kleine B.B.“, der mit Molière und einem hämisch antiautoritären „Don Juan“ gleich für gehörig Feuer sorgte.

„Doch nach Brechts Tod passte ich plötzlich nicht mehr ins Kollektiv.“ Es war das Undogmatische, Lebenspralle und zugleich elegant wie intelligent Komödiantische, das den Gralshütern Brechts missfiel an dem bunten Vogel mit seinen trotzkistischen Ansichten.

Und so verließ verlies Besson 1958 das in epischer Didaktik erstarrende Haus und ging, nach Zwischenspielen im Westen – immer war er ein Wanderer zwischen den Welten –, ans Deutsche Theater. Als Chefregisseur. Dort kam er durch seine so einfache wie artifizielle Verquickung von poetischem Witz mit dem hintergründig Politischen zum ganz großen Ruhm mit den Epoche machenden Inszenierungen „Der Frieden“ (Peter Hacks nach Aristophanes) und „Der Drache“ von Jewgeni Schwarz.

Doch auch hier düpierten ihn alsbald die Neider des Erfolgs. So wechselte er 1969 an die Volksbühne. Hier konnte er sein „Theater für die Leute“ zum Blühen bringen und seine Idee verwirklichen, aus einem Theater ein Gesamtkunstwerk zu formen. Frank Castorf über seinen Vor-Vorgänger-Chef: „Er kreierte das Prinzip Volksbühne.“ Ein politisch packendes, schlitzohriges Volkstheater, gemeinsam mit Regie-Kollegen wie Manfred Karge, Matthias Langhoff, Fritz Marquardt oder Brigitte Soubeyrand, das bei aller Kunstfertigkeit alles Tempelhafte sprengte (mit zeitgenössischen Autoren wie Heiner Müller oder Thomas Brasch).

Seine Spektakel und Happenings vom Keller bis unters Dach der Volksbühne und draußen am Rosa-Luxemburg-Platz machten groß Schule – nicht nur in der DDR. Besson: „Mir wurde nichts verboten, aber wir waren sehr wohl sehr privilegiert.“ Bis auch hier wieder die Apparatschiks zuschlugen, und Besson 1978 den Hut nahm, die DDR aufgab und nach Frankreich ging.

Besson pochte auf ein „Theater der Sinnlichkeit“. Verkopftes und Grobes waren dem weisen Spaßmacher und genialischen Traditionalisten (Molière & Brecht, seine „lebendigen Götter“) wesensfremd. Bei all seiner sprühenden Phantasie: der Bauernsohn aus den Schweizer Bergen blieb geerdet.

Über den gegenwärtigen Bühnenbetrieb meinte er noch kurz vor seinem Tod in einem Berliner Krankenhaus im Februar 2006, die Regisseure wollten Originalität um jeden Preis, ignorierten hochmütig die Tradition. Das sei eitel individualistisch. „Die Kunst der Antike hat den Menschen situiert innerhalb des Kosmos und der Natur. Die Kunst heute sieht ihn gern davon losgelöst. Ein Niedergang.“

Trotzdem glaubte der bekennende Atheist (und Sozialist) unverdrossen an das Theater. Das Einzigartige an ihm sei das gelöste, das unverkrampfte Durchspielen grundlegender Sachen wie Freiheit und Demokratie. „Das Theater ist ein Gottesgeschenk.“

Was für ein bedenkenswertes Schlusswort dieses großen europäischen Regisseurs, der am 4. November 1922 im Kanton Waadt geboren wurde. – Volksbühne, BE, Akademie der Künste und der Verein Schweizerisches Theatermuseum feierten B.B. am vergangenen Freitag mit einer zünftigen Geburtstagsparty in „seinem“ Theater, der Volksbühne. Motto: „Spielen! Spielen! Spielen!“ Was auch sonst …