25. Jahrgang | Nummer 22 | 24. Oktober 2022

Brief an jene, die mich anklagen

von Romain Rolland

Der folgende Artikel ist auf den 17. November 1914 datiert und in Romain Rollands Sammlung „Über dem Getümmel“ (1915) erschienen. Rolland arbeitete damals in Genf in der Internationalen Kriegsgefangenenauskunftsstelle. Eine Fußnote erläuterte: „Da mir der Direktor einer großen Pariser Tageszeitung angeboten hatte, eine Erwiderung auf die gegen mich geführten Angriffe zu veröffentlichen, habe ich ihm diesen Brief geschrieben, der nie erschienen ist.“ Die Zeitung hatte ihm mitgeteilt: „Das ist nicht zu veröffentlichen. Die Wirkung wäre beklagenswert. […] Dieser Artikel ist viel gefährlicher als jene, die das Feuer ins Pulverfass warfen. Ich bitte Sie flehentlich, diesen Artikel zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu veröffentlichen, nicht einmal im Ausland.“ Nach mehr als einem Jahrhundert sind diese „gefährlichen Gedanken“ wieder bedenkenswert geworden.
Die Übersetzung von Eva und Gerhard Schewe findet sich in dem 1966 bei Rütten & Loening, Berlin, erschienenen Band „Der freie Geist“. Die Kürzungen im Text betreffen zeitgenössische Umstände.

Wolfgang Klein

[…]

In vier Artikeln habe ich gesagt, dass von allen Imperialismen, die die Geißel der Welt sind, der preußische Imperialismus der schlimmste ist, daß er der Feind der europäischen Freiheit, der Feind der abendländischen Kultur, der Feind Deutschlands selbst ist und daß man ihn vernichten muß. – In diesem Punkt, denke ich, sind wir uns alle einig.

[…] Man macht mir im Wesentlichen zweierlei zum Vorwurf:

1. Meine Weigerung, das deutsche Volk und seine –militärischen oder geistigen – Führer gleichermaßen zu verdammen;

2. die Achtung und Freundschaft, die ich für Menschen jener Nation, mit der wir im Krieg stehen, bewahre.

Ich werde zuerst ohne Umschweife auf diesen zweiten Vorwurf antworten. – Ja, ich habe deutsche Freunde, wie ich französische, italienische, englische Freunde, wie ich Freunde jeder Rasse habe. Das ist mein Reichtum, auf ihn bin ich stolz, und ich hüte ihn. Wenn man das Glück gehabt hat, in der Welt ehrliche Seelen zu finden, mit denen man brüderliche Bande geknüpft hat, dann sind diese Bande heilig, und nicht in der Stunde der Prüfung wird man sie zerreißen. Was für ein Feigling wäre denn der, der ängstlich aufhören würde, sich zu ihnen zu bekennen, um den frechen Forderungen einer öffentlichen Meinung nachzugeben, die kein Recht auf unser Herz hat? Verlangt die Vaterlandsliebe diese Gefühlskälte, der man, ich weiß es, die Auszeichnung verleiht, sie sei den Gestalten von Corneille eigentümlich? Aber Corneille selbst hat die Antwort geliefert:

– Alba hat Euch benannt, ich kenne Euch nicht mehr.

– Ich kenne Euch noch immer, und das tötet mich.

Wie schmerzlich, mitunter sogar tragisch diese Freundschaften in solchen Zeiten sind, werden gewisse Briefe später zeigen. Zumindest verdanken wir es ihnen, dass wir uns des Hasses haben erwehren können, der noch mörderischer als der Krieg ist, denn er stellt eine Versuchung dar, die durch seine Wunden hervorgerufen wird, und er schadet dem, den er beherrscht, ebensoviel wie dem, den er verfolgt.

Mit Besorgnis sehe ich, wie sich zur Zeit dieses Gift verbreitet. Die von deutschen Armeen begangenen Grausamkeiten und Verwüstungen haben bei der Bevölkerung, die das Opfer war, das Verlangen nach Vergeltung entstehen lassen, das begreiflich ist, das aufzustacheln aber nicht Aufgabe der Presse ist: denn dieses Verlangen könnte zu gefährlichen Ungerechtigkeiten führen, die gefährlich sind nicht nur für den Besiegten, sondern vor allem für den Sieger.

In diesem Krieg hat Frankreich das Glück, die schönste Rolle zu spielen, und das noch seltenere Glück, dass die Welt das anerkannt hat. […] Es muss unser aller Wille sein, dass Frankreich diesen moralischen Triumph bis zum Schluss behält, dass es bis zum Schluss gerecht, hellsichtig und menschlich bleibt. Ich habe nie einen Unterschied machen können zwischen der Sache Frankreichs und der Sache der Menschheit. Weil ich Franzose bin, lasse ich unseren preußischen Feinden den Wahlspruch: „Mögen sie hassen, wenn sie nur fürchten.“ Ich will, dass Frankreich geliebt werde, ich will, dass es siegreich sei nicht allein durch die Stärke, nicht allein durch das Recht (das wäre noch zu hart), sondern durch die Überlegenheit seines großen edlen Herzens. Ich will, dass es stark genug sei, um ohne Hass zu kämpfen und selbst in denen, die niederzuwerfen es gezwungen ist, Brüder zu sehen, die sich irren und mit denen man Mitleid haben muss, nachdem man sie unfähig gemacht hat, weiter Schaden anzurichten.

Unsere Soldaten wissen es wohl. Ich kann die Briefe nicht zählen, die uns von der Front erreichen und uns von mitfühlender Brüderlichkeit unter den Kämpfenden berichten. Aber die Zivilisten, die abseits des Kampfes stehen, die nicht handeln, die reden, die schreiben und sich auf diese Weise in einer künstlichen und rasenden Aufregung halten, ohne sie verwenden zu können, die sind dem Fauchen fiebriger Gewalttätigkeit ausgeliefert. Und darin liegt die Gefahr. Denn sie bilden die Meinung – die einzige, die ausgesprochen werden kann (jede andere ist untersagt). Für sie schreibe ich, nicht für die, die kämpfen (sie brauchen uns nicht!).

Und wenn ich höre, wie Publizisten trachten, alle Energie der Nation mit allen Reizmitteln zu diesem einzigen Zweck einzuspannen, zur völligen Ausrottung der feindlichen Nation, erachte ich es als meine Pflicht, gegen das aufzutreten, was ich für einen moralischen Irrtum und für einen politischen Irrtum halten. Man führt Krieg gegen einen Staat, man führt nicht Krieg gegen ein Volk. Es wäre ungeheuerlich, fünfundsechzig Millionen Menschen die Verantwortung für die Taten von ein paar tausend, vielleicht von ein paar hundert tragen zu lassen. […]

Es wäre ein schwerer Fehler, den Gegner zum Äußersten zu treiben, Anstatt dieses verblendete [deutsche] Volk in die Größe einer hoffnungslosen Verteidigung zu drängen, trachten, ihm die Augen zu öffnen. Das ist nicht unmöglich. […]

Ihr denkt an den Sieg. Ich denke an den Frieden, der folgen wird. Denn die Kriegerischsten unter euch können sagen, was sie wollen, und uns die ergötzliche Verheißung eines immerwährenden Krieges bieten, eines Krieges, „der nach dem Kriege auf unbestimmte Zeit andauert“ (er wird in Ermangelung von Kämpfern dennoch zu Ende gehen!), eines Tages werdet ihr euch doch die Hände reichen müssen, ihr und eure Nachbarn jenseits des Rheins, und wäre es nur, um bei euren Geschäften den Einschlag zu geben; ihr werdet wohl miteinander erträgliche und menschliche Beziehungen aufnehmen müssen: verhaltet euch also so, dass ihr sie nicht unmöglich macht! Brecht nicht alle Brücken ab, denn wir müssen den Fluss immer wieder überschreiten. Zerstört die Zukunft nicht. Eine unverhohlene, schön saubere Verwundung heilt; aber tut kein Gift hinein. Wehren wir uns gegen den Hass. Wenn man im Frieden den Krieg vorbereiten muss, wie die Weisheit der Nationen besagt, dann muss man auch im Krieg den Frieden vorbereiten. Das ist eine Aufgabe, die mir derer unter uns nicht unwürdig erscheint, die außerhalb des Kampfes stehen und die durch das Geistesleben ausgedehntere Verbindungen zur Welt haben – dieser kleinen konfessionsfreien Kirche, die besser als die anderen heute ihren Glauben an die Einheit des menschlichen Denkens bewahrt und glaubt, dass alle Menschen die Söhne desselben Vaters sind. Wenn ein solcher Glaube uns Beschimpfungen einbringt, sind diese Beschimpfungen auf jeden Fall eine Ehre, die wir angesichts der Zukunft für uns beanspruchen.