25. Jahrgang | Nummer 22 | 24. Oktober 2022

Der Fall Lüdders

von Dieter Naumann

Am 23. Februar 1847 meldete die Stralsundische Zeitung in einer Beilage die am 19. Februar des Jahres zu Möllen-Medow auf Rügen erfolgte Hinrichtung des Kindermörders Friedrich Lüdders „unter Aufsicht des Königl. Kreisgerichts hierselbst und unter den Augen einer nur mäßig, meist aus der Nähe zusammengeströmten Menge“.

Bereits am 20. Februar hatte Justizrat Odebrecht vom Königlichen Kreisgericht in einer „Warnungs-Anzeige“ über den Fall berichtet: Demnach wohnte der in Gingst auf Rügen geborene Friedrich Nicolaus Julius Lüdders mit Frau und Kindern als Tagelöhner in Möllen-Medow. Als 1844 seine Frau starb, ging er mit den verbliebenen neun, sieben und fünf Jahre alten Jungen nach Gingst, um sie dort unterzubringen. Da ihm das nur mit dem Fünfjährigen bei seinem Bruder gelang, wollte er mit den beiden verbliebenen Kindern zurück zu seiner Wohnung. Als er nachts durch die „Tannen“ bei Möllen-Medow kam, erdrosselte er die beiden Kinder, „weil er sie nicht unterzubringen wußte und grub die Leichen in den dichten Tannen unter die Erde“. Im Oktober 1844 seien die Kinder vermisst worden und Lüdders habe „wiederholt ein vollständiges und freies Bekenntnis zur That“ abgelegt. Die ursprüngliche Verurteilung „zur Strafe des Rades“ sei durch „Allerhöchstes Bestätigungs-Rescript Sr. Majestät des Königs“ in die des Beils verwandelt worden.

Dieser Fall ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Zum einen soll es sich um die letzte öffentliche Hinrichtung auf Rügen gehandelt haben. Zum anderen ist er ein Spiegelbild der damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse, die einen bis dahin unbescholtenen Menschen zum Mörder werden ließen. Lüdders’ Verteidiger, Justizrat Dr. August Wilhelm Ziehm, Rechtsanwalt beim Appellations-Gericht in Greifswald, resümierte wenige Tage später in der gleichen Zeitung, der Fall errege in juristischer und sozialer Hinsicht höchstwichtige Betrachtungen: „Verrucht ist die That; ob aber der Thäter mehr zu beklagen, als zu verdammen ist, mag jeder selbst zu beurtheilen.“

Energisch wandte sich Rechtsanwalt Ziehm gegen „faktische Unrichtigkeiten“ in der Charakterisierung des Lüdders durch die Stralsundische Zeitung. Lüdders habe sich früher stets ordentlich und fleißig geführt, sei durch seinen Dienstherrn als Vorarbeiter eingesetzt und durch seinen Wirt mit freier Wohnung und unentgeltlicher „Nachtkost“ beschenkt worden. Nachdem er ein unbemitteltes Mädchen geheiratet hatte, richtete er mit seinen Ersparnissen eine bescheidene „Häuslichkeit“ in Möllen-Medow ein. Während sich anfangs seine Vermögenslage leicht besserte, verschlechterte sich die Situation durch die Geburt von fünf Kindern und die Arbeitsunfähigkeit seiner kranken Frau. Die Hoffnung, dass der älteste Sohn durch Eintritt in ein Dienstverhältnis die familiären Verhältnisse verbessern könne, zerschlug sich, als dieser nach einem Verkehrsunfall verstarb.

Als Lüdders während eines Sommers zweimal mehrere Woche erkrankte, konnte er den Mietzins nicht mehr aufbringen, wurde verklagt und „ausgepfändet“; „nichts wurde ihm und seiner Familie gelassen, außer die nothdürftigsten Kleidungsstücke zur Bedeckung der Blöße“. Fast zwei Jahre lang brachte der auswärts arbeitende Lüdders an den Sonntagen seinen Wochenverdienst und das vom Munde abgesparte Brot seiner Familie, „die auf Stroh lagerte“. Zu Art und Ort der Tätigkeit des Lüdders gibt es keine Angaben. In der Stralsundischen Zeitung wurde jedoch fallbezogen Kritik an so genannten „Kolonie-Dörfern“ geäußert, in denen sich, oft sehr entlegen, auf engem Raum „Verarmte, Umherschweifende, Verstoßene, Zurückkehrende aus den Gefangenenhäusern“ konzentrierten. Es kann deshalb vermutet werden, dass Lüdders bei seiner auswärtigen Arbeit von Montag bis Samstag in einen solchen Dorf hausen musste.

Als sein jüngstes Kind starb, bald darauf auch seine Frau, wusste Lüdders nicht, wo er mit den verbliebenen drei Kindern bleiben könne. Der Schulze (Bürgermeister) verwies ihn an das Königliche Landratsamt, „dieses auf seine Vaterpflichten und seinen Fleiß“. Da sich Verwandte in Gingst erboten hatten, die Kinder wenigstens zeitweise aufzunehmen, stellte das Landratsamt eine Bescheinigung aus, dass der Kommune Gingst durch Aufnahme der Kinder „keine Last aufgebürdet werden solle“.

In Gingst verweigerte der Ortsvorstand jedoch die Aufnahme der Kinder, da ihm die landrätliche Bescheinigung nicht vorgezeigt worden sein soll. Ob sich auch die Grundherrschaft der Aufnahme verweigerte, konnte nicht abschließend geklärt werden. Interessant ist, dass Dr. Ziehm in einem späteren Artikel einerseits die Gesetzmäßigkeit der Handlungen der genannten Behörden betonte, andererseits aber feststellte, dass das Zusammenwirken von Natur, Erziehung, Missgeschick und Gesetzgebung zur Straftat geführt habe.

Der Bruder des Lüdders nahm wenigstens den siebenjährigen Jungen auf.

Auf dem Rückweg nach Möllen-Medow vollzog der laut Ziehm stumpfsinnige, gefühllose, in der Erziehung vernachlässigte, gegen Versuchungen widerstandslose Lüdders, der weder bei der Tat, noch bis kurz vor seinem Ende „die unermeßliche Größe seines Verbrechens zu fassen vermochte“, die grausame Tat. So erkläre sich, wie ein bisher unbescholtener Mensch, dem raffinierte Bosheit und Nichtswürdigkeit fremd gewesen wären, zum Mörder werden konnte.

Diese bemerkenswerte Einschätzung des Rechtsanwaltes traf nicht nur auf Zustimmung. In einem weiteren Artikel in der Stralsundischen Zeitung wurden unter anderem Fleiß und Arbeitswilligkeit des Lüdders bezweifelt und letztlich resümiert: „[…] irdische Noth, Armuth, Verlegenheit und Verzagen können in unseren Verhältnissen wohl als secundäre, nie aber als primitive Motive zu einer Gräuelthat […] gelten“. Falls man nur mit den Augen eines oberflächlichen Humanismus auf derartige Taten schaue, könne man am Ende Alles entschuldigen und die Gesellschaft trage dann die alleinige oder doch vornehmste Schuld an jedem persönlichen Elend und Verbrechen.

Rechtsanwalt Dr. Ziehm äußerte sich nochmals in der Stralsundischen Zeitung und wandte sich zunächst gegen die sein Rechtsgefühl verletzenden, unrichtigen Nachreden, unter anderem die in einer Broschüre verbreiteten Gerüchte, Lüdders habe die Tannen in Möllen-Medow angezündet, seine Frau und die Kinder vergiftet. Außerdem widerlegte er die in „Privaterkundigungen, deren Glaubwürdigkeit immer zweifelhaft sein dürfte“, geäußerte Skepsis hinsichtlich Fleiß und Arbeitswilligkeit des Lüdders. Vielmehr sei Lüdders weiterhin als Vorarbeiter beschäftigt gewesen, was wohl Neid und Missgunst bei den Mitarbeitern erzeugt habe, die ihm nicht nachfolgen konnten.

Ohne Vorschläge machen zu wollen, regte Dr. Ziehm an, bei Auspfändungen künftig die zum Leben und zur Ausübung des Gewerbes benötigten Dinge zu belassen, die Aufnahme Hilfsbedürftiger bis zur Entscheidung der „competenten“ Behörden nicht zu verweigern, Vereine zu gründen, die durch Vorschüsse, Gewährung von Abschlagszahlungen und dergleichen dem gänzlichen Ruin einer Familie vorbeugen könnten. Manch unverschuldete Veranlassung zu Verbrechen würde so beseitigt.

Dr. Ziehm, der sich für die Begnadigung des Lüdders eingesetzt hatte, regte eine „thätige Teilnahme“ für den Sohn an, die offenbar einen ersten Erfolg zeigte: Der Superintendent zu Bergen, Dr. Klöpper, ließ unmittelbar nach der Hinrichtung Spenden zur Unterstützung des verbliebenen Sohnes sammeln.

Wohl ahnend, dass auch dieser Beitrag nicht unkommentiert bleiben könnte, endete Rechtsanwalt Ziehm: „Dies mein letztes Wort in dieser Sache, selbst wenn Entgegnungen folgen.“