25. Jahrgang | Nummer 22 | 24. Oktober 2022

Komm und sieh

von Klaus-Dieter Felsmann

Wer in der DDR aufwuchs, der wurde vordergründig mit zahlreichen Erzählungen – in der Propaganda, aber auch in der Literatur und im Film – über die ruhmreiche Sowjetarmee im Kampf gegen den Hitler-Faschismus sozialisiert. Die Rotarmisten waren gemeinhin Helden, die mutig in die Schlacht zogen und die gegebenenfalls aufrecht für das Kollektiv in den Tod gingen. Der Krieg galt zwar als ein Übel, doch er erschien stets legitim, wenn es um die, wie auch immer gesehene, gerechte Sache ging. Zweck derartiger Erzählungen war nicht nur eine Verklärung der Vergangenheit unter dem Primat eigener ideologischer Prämissen, sondern die latente Motivation für eine mögliche Bereitschaft im gegebenen Fall neuerlich in einen Krieg zu ziehen.

Umso bemerkenswerter war es in einem solchen Umfeld, wenn Kunstwerke eine Öffentlichkeit fanden, die den Krieg in seiner ganzen Schrecklichkeit thematisierten. Die letztendlich verdeutlichten, dass Krieg keine Option politischen Handelns sein kann. Für mich wurden zum ersten Anstoß entsprechender Nachdenklichkeit die Romane von Konstantin Simonow – obwohl ohne Zweifel ein strammer Parteigänger des sowjetischen Systems – „Die Lebenden und die Toten“ (verfilmt 1964) und „Man wird nicht als Soldat geboren“ (verfilmt 1967). Neben allem immer spürbaren Patriotismus kritisierte Simonow in seinen Büchern nicht nur die verhängnisvollen strategischen Fehlentscheidungen Stalins in der Anfangsphase des Krieges, er zeigte auch, welch körperliches und seelische Leid kriegerisches Handeln mit sich bringt.

Solcherlei differenzierteren künstlerische Sichten waren immer dann möglich, wenn es im politischen Umfeld eine gewisse Entspannung gab. So in der sogenannten Tauwetter-Periode unter Nikita Chruschtschow um 1960 oder in der Glasnost-Phase in den 1980er Jahren, die Michail Gorbatschow eingeleitet hatte. Filme über den Krieg, die unmissverständlich als Antikriegsfilme zu verstehen sind, waren solche Arbeiten wie Michail Kalatosows „Die Kraniche ziehen“ (1957), Sergej Bondartschuks „Ein Menschenschicksal“ (1959), Grigori Tschuchrais „Ballade vom Soldaten“ (1959) oder später „Im Morgengrauen ist es noch still“ (1972) von Stanislaw Rostozki. Alle diese Filme haben nicht nur bei mir eine deutlich kritische Haltung gegenüber jeglicher Kriegsbegeisterung befördert.

Keiner von ihnen hatte aber eine so eindrückliche Wirkung wie „Iwans Kindheit“ (1962) von Andrei Tarkowski und noch mehr „Komm und sieh“ (1985) von Elem Klimow.

Klimows Film lief in der DDR unter dem Titel „Geh und sieh“, die wörtliche Übersetzung aus dem Russischen „Idi i smotri“. Mit „Komm und sieh“, was sich auf das 6. Kapitel der Offenbarung Johannes bezieht – und dort eine Aufforderung ist, sich die Verheerungen durch die Reiter der Apokalypse anzusehen –, wird allerdings der Kern des filmischen Opus wesentlich genauer getroffen.

Die Handlung führt in das Jahr 1943. Belorussland (Belarus), damals ein Teil der Sowjetunion, ist vollständig von deutschen Truppen besetzt. Aus den Wäldern heraus leisten Partisanen allerdings weiterhin erbitterten Widerstand. Die Waffen-SS und ihre einheimischen Helfer reagieren darauf mit grausamen Vergeltungsmaßnahmen gegen die Zivilbevölkerung. In dieses Spannungsfeld wird der 14-jährige Fljora hineingestoßen. Mit seinen Augen verfolgt der Zuschauer das unheilvolle Geschehen. Gegen den Willen der Mutter schließt sich der Junge den Partisanen an. Dort wird er zunächst nicht ernst genommen. Als man in den Kampf zieht, soll er Lagerwache halten. Unzufrieden streift er durch das umliegende Gehölz, wo er die etwas ältere Glascha trifft. Das Mädchen leidet unter der Trennung von ihrem Geliebten, gleichzeitig muntert sie Fljora mit ihrer natürlichen Fröhlichkeit auf. Dann geraten beide in ein Bombeninferno, das dem Partisanenlager gilt. Sie können entkommen und wollen im Heimatdorf Fljoras Unterschlupf finden. Hier steht zwar warme Suppe auf dem Ofen, doch es ist kein Mensch zu sehen. Beide essen, umgeben von lästigen Fliegen. Plötzlich muss sich Glascha übergeben. Sie hat hinter dem Haus die Leichen der Dorfbewohner entdeckt. Panisch schlagen sie sich daraufhin durch die Sümpfe, in der Hoffnung auf einer versteckten Insel Überlebende zu treffen. Tatsächlich konnten sich einige Menschen retten. Für Fljora geht die Odyssee allerdings weiter. Immer unter Lebensgefahr, kann er in einem anderen Dorf untertauchen. Hier erlebt er, wie die betrunkenen Besatzer Frauen, Kinder und Greise in einer Holzkirche scheinheilig zusammenrufen und dort die Menschen bei lebendigem Leib verbrennen. Aus Fljoras Kindergesicht ist angesichts dessen ein Greisenantlitz geworden. Als die Partisanen schließlich die SS-Leute überwältigen, verspürt der Junge nur noch Hass.

Elem Klimow setzte in Gesprächen seine Arbeit in Beziehung zu Francis Ford Coppolas „Apocalypse Now“ (1979). Er war beeindruckt vom Film des Amerikaners und hielt ihn für ein gigantisches Werk gegen den Krieg. Allerdings spürte er in ihm nicht die Erschütterung eines Menschen, der tatsächlich unter Kriegsfolgen gelitten hat. Dieses unmittelbare Gefühl wollte er mit „Komm und sieh“ vermitteln. Von daher griff er auf eine literarische Vorlage von Ales Adamowitsch und Janka Bryl „Ich aus dem flammenden Dorf“ zurück. Hier hatten die Autoren die Erinnerungen von Einwohnern des Ortes Chatyn zusammengetragen, der, samt der dort lebenden Menschen als eines von 628 belorussischen Dörfern von den deutschen Besatzern niedergebrannt worden war. Doch Klimow ging es nicht um die authentische Schilderung eines Einzelereignisses. Er wollte ein Symbol schaffen, das generell für die Schrecken aller Kriege steht. Die Inszenierung ist so angelegt, dass ein distanziertes Schauen nicht möglich ist. Sie erzeugt unmittelbare emotionale Betroffenheit. Entsprechend verlässt der Film im Finale den konkreten Handlungsort und begleitet von Mozarts Totenmesse „Lacrymosa dies illa“ erscheint eine Collage diverser Filmbilder, die den Krieg generell thematisieren.

Klimow knüpfte mit diesem Anliegen an Andrei Tarkowski an, der gut zwanzig Jahre zuvor mit seinem Debütfilm „Iwans Kindheit“ (1962) ebenfalls die Zerstörung einer kindlichen Entwicklung durch den Krieg als größtmöglichen Kontrast gesehen hat, um dem Krieg generell eine Absage zu erteilen. Fljora ist so etwas wie ein Bruder und Leidensgenosse des 12-jährigen Iwan bei Tarkowski. Während Klimow seine erschütternde Wirkung aus der Darstellung der puren Apokalypse zog, erreichte Tarkowski eine ähnliche emotionale Anteilnahme durch eine poetische Überhöhung, indem er dem grausamen Kriegsgeschehen Traumsequenzen eines friedlichen Kinderlebens assoziativ gegenüberstellt. Die entsprechenden Bilder und die damit verbundenen Fragen haben sich in meinem Filmgedächtnis unverrückbar festgesetzt. Allein die Eingangssequenz hat eine erschütternde emotionale Wucht. Ein blonder Junge – Iwan – läuft durch eine sonnige Landschaft, er sieht Schmetterlinge, hört Vogelgezwitscher und einen Kuckuck. Unmittelbar darauf wacht der gleiche Junge in einer düsteren Schlafstätte auf – das Vorhergesehene erweist sich als Traum – und durchschwimmt danach einen großen Fluss, den Dnjepr (ukrainisch Dnipro), wo sich an den Ufern deutsche und sowjetische Truppen gegenüberstehen. Iwan forscht als Kundschafter die gegnerischen Stellungen aus. Angetrieben wird er von Rachegefühlen. Seine gesamte Familie ist umgebracht worden. Er selbst konnte einem Vernichtungslager zwar entkommen, doch er hat seither immer eine Wandinschrift vor Augen: „Wir sind acht. Keiner ist älter als neunzehn. In einer Stunde werden wir erschossen. Rächt uns!“ Zwei Offiziere, Hauptmann Cholin und Leutnant Galzew, kümmern sich um den Jungen. Sie wollen ihn in das Hinterland schicken, doch er besteht darauf, als „Mann“ an der Front zu dienen. Mit großer Härte setzt Iwan seinen Anspruch durch. Tarkowski bricht das unnatürliche kindliche Handeln nicht nur durch weitere Traumsequenzen, sondern besonders eindrucksvoll durch Bilder, wo die Männer das schlafende Kind durch die gemeinsame Unterkunft tragen.

Das Geschehen am Dnjepr wird durch einen harten Schnitt abgebrochen. Es folgen dokumentarische Aufnahmen von der siegreichen Roten Armee im eroberten Berlin. Man erfährt, dass Cholin gefallen ist und Galzew findet in einem Gestapo-Keller Akten von Hinrichtungen. Darunter auch eine Notiz mit Foto, die von der Ermordung Iwans zeugt. Die Dokumentaraufnahmen hatten vorher auch die Leichen der von den Eltern vergifteten Goebbels-Kinder gezeigt. Tote Kinder, was kann stärker den Wahnsinn kriegerischer Handlungen verdeutlichen! Tarkowskis Montage deutet an, dass dies für alle Seiten der Front gilt. Für mich setzt damit der Film nochmals explizit ein starkes Zeichen, dass jegliche politische Konflikte mit friedlichen Mitteln gelöst werden müssen. Versöhnung hinsichtlich der Vergangenheit eingeschlossen. Auch Klimow steht diesem Gedanken nah. Nachdem die SS-Einheiten besiegt waren, lässt Fljora seine Wut an einem Hitler-Porträt aus. Er schießt auf das Konterfei des Nazi-Führers – parallel überblendet durch Aufnahmen aus dessen Leben. Als Hitler als Kind zu sehen ist, lässt Fljora symbolisch sein Gewehr sinken.

Filmdienst. Das Portal für Kino und Filmkultur, 13.10.2022. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages. Der Beitrag wurde redaktionell leicht gekürzt.