25. Jahrgang | Nummer 21 | 10. Oktober 2022

Der Krimkrieg 1853/56 und die europäische Realpolitik

von Detlef Jena

Der Krimkrieg ist ein weniger hübsches säkulares Exempel, wie Westeuropas und Russlands von imperialen Interessen diktierter militärpolitischer Dauerstreit so organisiert werden kann, dass jede Seite Kraft für den nächsten Ritt auf der Rasierklinge schöpfen darf.

Kein anderer Konflikt hat das europäische Gleichgewicht im 19. Jahrhundert so gestört, derart blutige Opfer gefordert und am Ende lediglich den machtpolitischen Status quo ante bestätigt: Das Osmanische Reich genoss weiterhin den Ruf der „kranke Mann am Bosporus“ zu sein, Frankreich und Großbritannien bestätigten ihre europäische Großmachtrolle, Russland musste alle eroberten Gebietsteile räumen und blieb in Europa angefeindet und isoliert und die österreichischen Habsburger saßen wieder einmal zwischen allen politischen Stühlen. Die ehrenvolle Gründung des Internationalen Roten Kreuzes legitimiert diesen Krieg jedenfalls nicht.

Über die Motive der kriegführenden Parteien kursierten viele absurde politisch und religiös gefärbte Legenden. Jede Seite sah sich als die allein im Recht befindliche Partei an. Die Realität sah demgegenüber geradezu ordinär aus. Russland hatte sein Territorium bis in den Kaukasus und über das Schwarze Meer ausgedehnt. England und Frankreich missfiel nicht nur der russische Zuwachs. Sie sahen auch, dass das taumelnde Osmanische Reich den Petersburger Zaren geradezu einlud, seinen Einfluss in ganz Europa durch weitere Eroberungen nach Süden auszubauen.

Ein russischer Zugang zur Meerenge der Dardanellen, zum Mittelmeer oder auf dem Balkan stand im direkten Widerspruch zu den Ansprüchen Frankreichs und Englands. Die russische Regierung bemühte sich lange, hartnäckig und vergeblich darum, Österreich, Frankreich und Großbritannien für eine gemeinsame Aufteilung des Osmanischen Reichs zu gewinnen. Obwohl die westlichen Mächte gerne in das vorderasiatische Vakuum vorgestoßen wären, lehnten sie aus Angst vor einem zu starken Russland und mit unverhohlener Feindseligkeit ab. Man hatte das Russische Reich zwar benötigt, als es galt, den Usurpator Napoleon zu schlagen. Nach getaner Arbeit wurde das Zarenreich aber wieder an den östlichen Rand Europas gedrückt. Es durfte auf keinen Fall eine Schlüsselrolle in Europa spielen

In London und Paris stützte man daher lieber das Osmanische Reich und sicherte den eigenen Einfluss an dessen Grenzen. Außerdem war die Hohe Pforte im Westen noch immer ein geschätzter Handelspartner und half überdies den Briten in deren Dauerkonflikt mit Russland um den beherrschenden Einfluss in Zentralasien und Indien.

Beide Seiten versteckten ihre wahren geopolitischen Machtziele mehr oder weniger offen hinter ideologischen Schleiern oder vorgespielter Ahnungslosigkeit. Aber sowohl der russische Panslawismus, als auch die traditionelle westliche Russophobie trugen einen deutlichen aggressiven Charakter in sich. Damit ließen sich hervorragend feindselige Stimmungen in den Völkern anheizen. Überdies nutzte der Zar die Forderung nach Religionsfreiheit für orthodoxe Christen im muslimischen Osmanenreich, um einen Krieg zu inszenieren, der territorial dort einschlagen sollte, wo Russland bislang Grenzen gezogen hatte: Am Schwarzen Meer, auf der Krim, in der Ukraine und auf dem Balkan.

Der Rest war eine Frage der Organisation. Zar Nikolaus I. schickte im April 1853 den Fürsten Menschikow nach Konstantinopel. Der Fürst forderte für die orthodoxen Christen besondere Vorrechte an den heiligen Städten des Christentums. Der Sultan beriet sich mit den britischen Freunden und ging zunächst auf einzelne Forderungen ein – man wollte Gesprächsbereitschaft demonstrieren, doch nur, um Russland den Alliierten gewissermaßen ins Messer laufen zu lassen.

Und so kam es: Russland kündigte die diplomatischen Beziehungen auf, und russische Truppen besetzten die Donaufürstentümer Moldau und Walachei. Die westlichen Alliierten griffen in den Krieg ein, der sich bis in den Fernen Osten, auf den Kaukasus, auf die Ostsee und schließlich auch auf die Krim ausdehnte. Russland holte alle im Ausland befindlichen wichtigen Personen nach Hause. Und der alliierten Gerüchteküche, deren wesentlicher Transmissionsriemen schon damals die Presse war, war keine Story zu dumm, wenn sie nur den eigenen Interessen diente: Insider-Meldungen sprachen von der Drosselung des russischen Getreideexports nach England, weil die Preise bald steigen würden. Der russische Gouverneur in der Ukraine kaufte angeblich große Mengen Holz auf, um für die Soldaten Brücken über die Donau zu schlagen. Oder: In Russland tobte ein Machtkampf zwischen dem Zaren und dem konservativen Moskauer Adel, den der Zar durch einen Krieg gegen das Osmanische Reich entscheiden wollte.

Wie toll die Legenden auch klangen: Russland war für den Westen immer der allein Schuldige an allen Missetaten. Am 14. September 1853 landeten die Alliierten auf der Krim. Ein Jahr später fiel Sewastopol und im März 1856 beendete der Dritte Pariser Frieden diesen Krieg. Der Begriff „Realpolitik“ machte in der Öffentlichkeit die Runde. Der Inhalt des Begriffs war nicht neu, kam bereits aus der Antike. Er fußte in der Neuzeit auf den nicht an religiöse oder ethische Erwägungen orientierten Staatsauffassungen Niccolò Machiavellis. Für das 19. Jahrhundert und in Deutschland wurde der Begriff der Realpolitik durch August Ludwig von Rochau  in dessen Hauptwerk „Grundsätze der Realpolitik. Angewendet auf die staatlichen Zustände Deutschlands“ geprägt. Eine Episode ist am Rande zu erwähnen: Rochau hatte als aktiver und politisch verfolgter Burschenschafter an der Universität Jena die Rechte studiert und mutmaßlich auch im nahen Dorf Kunitz bei Bier und Eierkuchen deftige Studentenlieder über das freie Leben gesungen! Sein Werk wurde nach der gescheiterten Revolution von 1848 für Jahrzehnte zum Katechismus der deutschen Nationalliberalen und: es passte haargenau in die europäische politische Lage, die durch den Krimkrieg neu justiert wurde.

Denn in der europäischen Realpolitik ging es weder um ethische oder gar christliche Werte, sondern ausschließlich um die Durchsetzung nationalstaatlicher Machinteressen. Den Sündenfall lieferte Österreich im Krimkrieg. Russland sah sich von Österreich hintergangen, weil die Habsburger dem Zarenreich im Krieg gegen die Osmanen nicht nur die versprochene Gefolgschaft verweigerten und Neutralität demonstrierten, sondern am Ende sogar ein Bündnis mit Russlands Kriegsgegnern England und Frankreich eingingen.

Der Pariser Frieden trug diesen Wortbruch auf das diplomatische Parkett und beendete die seit 1815 währende Zeit der mit der „Heiligen Allianz“ (Russland, Österreich, Preußen, später auch Frankreich) zumindest formal verbundenen europäischen christlichen Wertegemeinschaft und machte einer nüchtern kalkulierten nationalstaatlichen Interessenpolitik Platz, der sich von da an alle europäischen Großmächte verpflichtet fühlten. Real betrachtet ging es allerdings auch schon während der „Heiligen Allianz“ um handfeste politische Interessen. Und so wunderte sich niemand, dass Russland nach der Niederlage im Krimkrieg mit westlichen Kapitalinvestitionen eine bis dahin nicht gekannte industrielle Aufholjagd starten konnte.

Es war ebenso kein Wunder, dass sich in Preußen ein der Monarchie zugewandter Politiker wie Otto von Bismarck mit Wolllust der Realpolitik hingab. Innerhalb des lieben deutschen Vaterlands konnten Hannover, Hessen, Dänemark und vor allem Österreich bis 1871 davon ein feurig Liedlein trällern und staunten nicht schlecht, dass der erzkonservative Bismarck sogar mit dem revolutionären Italien ein Bündnis einging, nur um die österreichischen Brüder und Schwestern aus den deutschen Ländern heraus zu drängen, nachdem er 1864 im Krieg gegen Dänemark noch gern auf österreichisches Mittun rekurriert hatte.

Gegen 1870 wiederum lockte Bismarck die Österreicher mit einem preußischen Verzicht auf Gebietsabtretungen und Entschädigungen, die aus dem deutschen Krieg gegen Wien von 1866 resultierten. Der Grund: Österreich sollte still bleiben und Preußen den Rücken freihalten, wenn auf den Schlachtfeldern Frankreichs um die deutsche Einheit gerungen würde. Preußens König Wilhelm I., der ein treuer Patriot, aber nicht sonderlich fix im Denken war, beschied der Eiserne Kanzler kategorisch: „Wir haben nicht eines Richteramtes zu walten, sondern deutsche Politik zu treiben.“

So lagen die Dinge also im 19. Jahrhundert und unter dem Einfluss des Krimkriegs am fernen Schwarzen Meer.

Der verstorbene SPD-Politiker Egon Bahr, ein kluger und kenntnisreicher Diplomat und Politiker, war kein Zyniker, als er sagte: „In der internationalen Politik geht es weder um Menschenrechte noch um Demokratie. Es geht einzig und allein um staatliche Interessen.“