13. Jahrgang | Nummer 2 | 1. Februar 2010

Winterreise

von Jochen Mattern

Unter dem Datum des 21./22. April 1984 notiert der Lyriker und Dramatiker Volker Braun folgende Verse in sein Tagebuch:

“ACH DASS DIE LUFT SO RUHIG / ACH DASS DIE WELT SO LICHT / ALS NOCH DIE STÜRME TOBTEN / WAR ICH SO ELEND NICHT”.

Zitiert wird der Schluß des Gedichtes Einsamkeit, das zur Winterreise gehört, einem Zyklus aus insgesamt 24 Gedichten. Ihr Verfasser ist der heute nahezu vergessene Dichter Wilhelm Müller (1794-1827) aus dem sachsen-anhaltinischen Dessau. Die Winterreise entsteht vermutlich 1821/22. Unsterblichkeit erlangen die Verse durch die Vertonung Franz Schuberts.

Einsamkeit ist ein Gedicht, das in Naturbildern eine Zeitenwende beklagt. Als Fall aus der bewegten in die stehende Zeit charakterisiert sie Volker Braun in einem Essay aus dem Jahr 1983 über den Lyriker Arthur Rimbaud. Die nachrevolutionäre Wirklichkeit der DDR – der sogenannte real existierende Sozialismus – mündet Anfang der achtziger Jahre in eine Phase allgemeinen Stillstands. Von einer „Finalitätskrise“ sprechen die Soziologen, vom Winter die Poeten. Vorbei ist die Zeit stürmischen Beginnens; der Aufbruch in die Utopie einer befreiten Gesellschaft geht in Stagnation über. Das Leben erstarrt. Die Hoffnungen, die an den Aufbau einer neuen Gesellschaft geknüpft sind, erweisen sich als illusorisch. Indifferenz und Resignation sind nicht selten die Folge. Ein Tauwetter setzt erst viel später ein. Es wird mit Glasnost und Perestroika frischen Wind in Politik und Gesellschaft bringen und die DDR schließlich hinwegfegen.

Doch zum Zeitpunkt des Tagebucheintrags liegt der Reformfrühling noch in weiter Ferne. Vorerst herrscht ringsum Windstille; nirgends eine Regung, die auf Veränderung schließen ließe. Unter DDR-Künstlern bewirken die restaurativen Verhältnisse das Gefühl von Isolation und Ohnmacht. Ein Zustand, an dem auch das lyrische Ich der Winterreise leidet. „Durch helles, frohes Leben,/ Einsam und ohne Gruß“ zieht es seine Straße hinaus in eine Winterlandschaft, die kalt und abweisend daliegt. Anders als in Goethes Osterspaziergang zum Beispiel spendet die Natur weder Trost noch Lebenskraft; sie ist nur mehr Sinnbild der Zerfallenheit des lyrischen Subjekts mit der Gesellschaft und einer Existenzkrise. Es zeugt denn auch von bitterer Ironie, wenn im Titel des Zyklus von einer Reise die Rede ist. Von Flucht beziehungsweise einem Ausbruch aus beengten Verhältnissen zu sprechen, scheint dem Vorgang angemessener. Demnach bringen die Winterreise-Lieder weniger Resignation und Todeswunsch zum Ausdruck, wie das klassische Liedinterpretationen nahelegen, als vielmehr die Ablehnung der bestehenden Gesellschaft und ein Standhalten den schier übermächtigen Verhältnissen gegenüber.

Ein solch politisches Textverständnis dominiert die Rezeption der Winterreise in der DDR. Sie macht den Liederzyklus zu einem bevorzugten Medium künstlerischer Selbstverständigung im Konflikt zwischen Dichtung und Doktrin. Die „Reise“, schreibt der Philosoph und Ästhetiker Wolfgang Heise, gerät zum Lebensweg eines „Aufbegehrenden“ und „Verzweifelten“, eines, „der sich nicht integriert in die Gesellschaft der Restaurationszeit, in ihre gefroren-erstarrte Welt”. Und Christa Wolf berichtet aus der Rückschau auf die DDR, daß die Lieder der Schubertschen Winterreise auf gemeinsam mit Wolfgang Heise unternommenen Spaziergängen der Anlaß waren, sich über die restaurative Phase, die auf den Wiener Kongreß 1815 in Deutschland folgt, auszutauschen und sich darüber zu verständigen, „wie jede freiheitliche Regung erstickt wurde; wie ein unverbindlich-kitschiges Biedermeier als Lebensgefühl die bessere Gesellschaft überzog; wie die Kunst, wollte sie ehrlich bleiben, tiefe Melancholie und Verzweiflung ausdrücken musste, und sei es an einem scheinbar so politikfernen ‚Stoff’ wie der Trauer über eine verlorene Liebe“. (Christa Wolf: “Winterreise”. Wolfgang Heise zum Gedenken, Sinn und Form 6/1995)

Auf einem dieser Spaziergänge, so Christa Wolf, habe ihr Begleiter sie mit einem Geschenk überrascht, und zwar mit einer Schallplatteneinspielung der Winterreise, und er habe ihr bedeutet, „daß dieser Staat wie jeder Staat sei: ein Herrschaftsinstrument, und seine Ideologie wie alle Ideologie: falsches Bewußtsein”. Auf die Frage, was wir tun sollen, habe Wolfgang Heise erwidert: „anständig bleiben” und „wir sind die ersten nicht.”

Daß die politische Lesart der Winterreise nach einer Neuvertonung des Gedichtzyklus verlangt, erscheint nur folgerichtig, zumal wenn man weiß, daß Franz Schubert in die originale Textgestalt erheblich eingegriffen und damit einem unpolitischen Verständnis der Lieder Vorschub geleistet hat. Reiner Bredemeyer (1929-1995), Komponist am Deutschen Theater und mit Volker Braun befreundet, vertont die 24 Gedichte neu und hält sich dabei getreu an die Textvorlage. Seine Komposition der Winterreise erlebt 1985 die Uraufführung.